Afghanistan-Einsatz USA und Briten überziehen Deutschland mit Kritik-Kampagne

Mit immer schärferen Vorwürfen reizen Amerikaner und Briten Deutschland. Ziel der Kampagne: Beim Nato-Gipfel soll Berlin den Afghanistan-Einsatz ausweiten. Dass die Bundeswehr Nothilfe für Kanadier verweigert haben soll, ist der Höhepunkt. Berlin dementiert und ist verärgert.

Berlin - In den vergangenen Wochen war Thomas Raabe ein gefragter Mann. Wiederholt musste sich der Sprecher des Verteidigungsministeriums in der Bundespressekonferenz zur Rolle der Bundeswehr in Afghanistan äußern. Warum, so die allgegenwärtige Frage der Nato-Partner, engagiert sich Deutschland nicht endlich auch im umkämpften Süden des Landes? Dort starben zuletzt immer wieder Nato-Soldaten bei Kämpfen mit den Taliban. Folglich erhob sich in Partnerländern der Wunsch nach deutscher Beteiligung immer lauter.

Am Freitag war Raabe allerdings mit noch härteren Vorwürfen konfrontiert. Deutsche Truppen seien in Afghanistan alliierten Kameraden aus Kanada nicht zu Hilfe geeilt, als diese im Sommer dringlich darum gebeten hätten. Später seien bei einer "Operation Medusa" insgesamt zwölf kanadische Soldaten gestorben - mehr oder minder indirekt durch die deutsche Verweigerung.

Auslöser des Berichts: ein Nato-Parlamentariertreffen im kanadischen Quebec. Dort hatten sich deutsche Teilnehmer zum Teil harsche Vorwürfe vor allem von britischen, kanadischen und US-Kollegen wegen mangelnden Einsatzes der Deutschen im umkämpften Süden Afghanistans anhören müssen.

In der "FAZ" zitierte der FDP-Bundestagsabgeordnete Rainer Stinner einen britischen Konferenzteilnehmer, der sich über einen Fall von unterlassener Hilfeleistung beklagte. Stinner bestätigte die Darstellung, konnte sich nur an Details nicht erinnern. "Die Atmosphäre war so hitzig und die Vorwürfe gegen Deutschland so emotional, dass ich nach Einzelheiten gar nicht fragen konnte", sagte er am Freitag zu SPIEGEL ONLINE.

Veto aus Berlin gegen die Einsatzhilfe?

Soweit erinnert er sich an die Vorwürfe des Briten: Während der Operation "Medusa" im Sommer habe der Isaf-Kommandeur 150 Mann aus Kampftruppen zur Unterstützung erbeten, weil kanadische Einheiten im Süden in schwere Bedrängnis geraten seien. Der deutsche Kontingentführer habe daraufhin mitgeteilt, er habe zwar Soldaten, die er schicken könnte. Doch bekomme er aus Berlin keine Erlaubnis dafür.

Die Vorwürfe lösten Aufregung im Verteidigungsministerium aus. Am Freitagmorgen telefonierte Raabe mit dem damaligen deutschen Kontingentkommandierenden, General Markus Kneip. Dieser habe ihm "klar und deutlich bestätigt", dass er das nicht gesagt habe, was in der "FAZ" wiedergegeben worden sei. Auch habe es weder eine "singuläre" Anfrage noch eine Anfrage der Nato gegeben, mit der in einer Notlage um deutsche Kräfte zur Rettung kanadischer Soldaten gebeten wurde. Die in der Zeitung aufgeworfenen Behauptungen seien "falsch", sagte Raabe.

Abstrakt erscheint die Darstellung plausibel: Immer wieder hatten in der jüngsten Vergangenheit Generäle anderer Nationen den deutschen Kommandeuren klar gemacht, dass sie sich mehr Hilfe im Süden wünschen würden. Denn trotz der für Zivilsten eindrucksvollen Zahl von 20.000 Soldaten im Süden kämpft die Nato dort einen erbitterten Kampf gegen einen immer stärker werdenden Gegner: die Milizen der Taliban. Gerade Kanada fand sich nach seinem Start in Afghanistan in einem der heikelsten Gebiete im Süden wieder. Insgesamt 36 Soldaten starben dort seit dem Sommer. Die Deutschen halten sich dagegen im relativ stabilen Norden auf. Lediglich mit Transportflügen in den Süden und mit 21 Fernmeldeaufklärern bei Kandahar ist die Bundeswehr auch im Süden aktiv.

Nadelstiche vor der Nato-Tagung

Intern bekommen die Deutschen im Isaf-Kommandostab in Kabul wegen ihrem Beharren auf den Einsatz im Norden immer wieder den Kopf gewaschen. Ob es konkrete Unterstützung-Anfragen gab, ist jedoch unklar. Alle Nato-Partner wissen, dass die Bundeswehr wegen politischer Vorgaben keine Einsätze im Süden unternehmen kann - gleichwohl sieht das deutsche Mandat ausdrücklich Hilfe für Alliierten in Notlagen vor.

Fest steht: Im Detail war die Darstellung des Briten auf der Nato-Tagung nicht richtig. Denn nach Angaben der kanadischen Armee starben bei der erwähnten "Operation Medusa" insgesamt fünf Soldaten - einer durch Friendly Fire der USA. Ein kanadischer Offizier in Kabul (der allerdings nicht für Presseauskünfte autorisiert ist) bezweifelte außerdem, dass man in einer Notlage die Deutschen gefragt hätte. "Für so etwas Heikles wären wohl eher die USA geeignet gewesen", sagte der Offizier.

Also alles ein Sturm in Wasserglas? Mitnichten. Dass die Vorwürfe ausgerechnet anderthalb Wochen vor dem Nato-Gipfel in Riga erhoben werden, ist nicht ohne Bedeutung.

Eskalation der Kritik an Deutschland

Seit Wochen wird von einzelnen Vertretern der Nato und der US-Regierung ein stärkeres Engagement der Deutschen im Süden verlangt. Es passt, dass die Vorwürfe ausgerechnet von einem britischen Abgeordneten kamen - obwohl doch die kanadische Armee betroffen gewesen sein soll. Mehr als alle anderen wollen die USA und Großbritannien in Riga versuchen, zu einer Kurskorrektur zu kommen. Immer wieder geht es dabei um die National Caveats, die national unterschiedlichen Begrenzungen für die Einsätze der vielen unterschiedlichen Nato-Armeen in Afghanistan. Die USA und Großbritannien würden gerne erreichen, dass diese Begrenzungen weitgehend verschwinden.

Dafür setzten sie gegenüber Deutschland auf immer weitergehende Vorwürfe. Erst luden britische und US-Offizielle fast jede Woche zu Hintergrundgesprächen, nachdem sie mit den deutschen Stellen verhandelt hatten. Deutliche Worte fielen dort ("Deutschland muss endlich sagen, dass es auch Taliban töten will"), wurden aber zunächst nicht veröffentlicht.

Dann folgten direkte Angriffe. Unlängst forderte Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer mehr Engagement im Süden. Noch deutlicher wurde Nicholas Burns, Staatssekretär im US-Außenministerium. Er bat Deutschland, "seine nationalen Vorbehalte, was den Einsatz seiner Truppen in Afghanistan angeht, zu überdenken und zu überlegen, ob diese Restriktionen für die Nato-Operation als Ganzes wirklich sinnvoll sind".

Berlin setzt auf die gute Arbeit der Bundeswehr

Der Druck steigt so stark, dass sogar der Grünen-Politiker und Uno-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Tom Koenigs, am wunden Punkt der deutschen Politik rührte. "Im Zweifel" müsse die Bundeswehr auch im Süden zum Einsatz kommen, forderte der Afghanistan-Kenner kürzlich. Auch er muss sich in Kabul immer wieder Klagen anhören.

Der Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung war in dieser Reihe der wohl schmerzhafteste Vorstoß. Auch wenn sich der zitierte Vorgang so wohl nicht abgespielt haben kann - er illustriert das Grundproblem auf treffende Weise.

Auch in Berlin werden die wiederholten Forderungen in einen Zusammenhang mit dem kommenden Nato-Gipfel gestellt. Die derzeitige Diskussion "wird auch geführt im Hinblick auf Riga", sagte Raabe. Ob man sich unter Druck gesetzt fühle, wurde der Sprecher daraufhin gefragt. Die Antwort: "Wir sehen im Moment nicht den Druck, den Sie beschreiben." Intern sind sich jedoch alle darüber klar, dass Deutschland in Riga ein wahres Kritik-Konzert erwartet.

Warten auf neue Vorwürfe

Dass das Thema in Berlin Gereiztheiten auslöst, offenbarte die Reaktion des Sprechers des Auswärtigen Amtes, Martin Jäger. Deutschland müsse sich "keinerlei Vorhaltungen" gefallen lassen im Zusammenhang mit seinem Afghanistan-Engagement. Man sei zivil und militärisch massiv engagiert. Derzeit sind laut Verteidigungsministerium 2912 Bundeswehr-Soldaten im Land stationiert. Jäger forderte, die "aufgeheizte Diskussion" solle wieder auf eine sachliche Ebene zurückgeführt werden.

Jäger wiederholte den Standpunkt seines Ministers: Der Schwerpunkt des deutschen Einsatzes bleibe der Norden. Die relative Ruhe dort könne nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Verringerung deutscher Präsenz im Norden zu "potentiell verheerenden Auswirkungen auf die Gesamtstabilität" führen könne. Ähnliches hatte Raabe gesagt: Ein "Rausbrechen" deutscher Kontingente würde möglicherweise zu Instabilität im Norden führen.

Auch Raabe verwahrte sich gegen Vorwürfe eines mangelnden Engagements der Bundeswehr. Die Bundesrepublik erfülle im Gegensatz zu anderen Isaf-Teilnehmerstaaten zu "100 Prozent" ihre Verpflichtungen. Welche Staaten dies nicht tun, beantwortete er nicht - fügte aber hinzu: Ein Teil dessen, was öffentlich wiedergegeben werde, entspreche nicht dem, was in der Nato über Deutschlands Rolle gedacht werde.

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