Krise in Afghanistan Geheimer Kabelbericht warnte früh vor Kollaps in Kabul

Die Bundesregierung betont stets, der rasche Taliban-Sieg habe sie überrascht. Nach SPIEGEL-Informationen ging aber bereits Anfang August die Warnung aus den USA ein, sich auf den Ernstfall in Afghanistan vorzubereiten.
Außenminister Maas und seine Kollegin Kramp-Karrenbauer waren sich beim Management der Afghanistan-Krise nicht immer einig

Außenminister Maas und seine Kollegin Kramp-Karrenbauer waren sich beim Management der Afghanistan-Krise nicht immer einig

Foto: KAY NIETFELD / AFP

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Die Bundesregierung gerät in der Diskussion über das Krisenmanagement während des Vormarsches der Taliban in Afghanistan erneut in Erklärungsnot. Mehrere Regierungsbeamte bestätigten dem SPIEGEL, dass die deutsche Botschafterin in Washington bereits fast anderthalb Wochen vor dem Fall Kabuls in einem geheimen Kabelbericht vor einem drohenden Kollaps der Kabuler Regierung gewarnt hatte. In der Mitteilung mahnte die Topdiplomatin zudem an, das Auswärtige Amt solle umgehend Notfallpläne für die Botschaft in Kabul aktivieren.

Der Kabelbericht vom 6. August wurde wohl nicht ohne Grund schärfer eingestuft (»VS – vertraulich«) als üblich. So hatte Botschafterin Emily Haber zuvor mit hochrangigen Regierungs- und Geheimdienstvertretern in den USA gesprochen – deren düstere Prognose für die Zukunft Afghanistans gibt sie in dem Bericht an die Zentrale in Berlin nüchtern wieder. Zu Habers Gesprächspartnern gehörte neben dem amerikanischen Afghanistan-Sonderbeauftragten Zalmay Khalilzad auch ein Mann aus der Führungsriege der CIA, so Topbeamte, die das dreiseitige Geheimpapier kennen.

Gerade der CIA-Mann redete gegenüber Haber offenbar Klartext: Man müsse befürchten, dass die afghanische Armee und die Regierung schon während der letzten Phase des Nato-Abzugs vom Hindukusch zusammenbrechen. Haber gibt den Geheimdienstmann in ihrem Kabel danach in indirekter Rede wieder. Demnach seien die USA für alle Eventualitäten gerüstet, auch für einen schnellen Kollaps. Washington gehe davon aus, so der Drahtbericht, dass Deutschland auch entsprechende Notfallpläne für den »worst case« vorbereitet habe.

»Deutliches Warnsignal«

Das geheim eingestufte Kabel aus der Botschaft vom 6. August ist für die Bundesregierung ein echtes Problem. Bisher hatte man in Berlin stets behauptet, wie alle anderen Nato-Nationen vom Tempo des Vormarsches der Taliban und der urplötzlichen Implosion der Regierung von Ashraf Ghani sowie der lokalen Sicherheitskräfte vollkommen überrascht worden zu sein. Erst als dann Mitte August klar wurde, dass die USA ihre Botschaft in Kabul evakuieren, wurde eilig eine militärische Rettungsaktion der Bundeswehr gestartet.

Die Inhalte des Kabelberichts lassen nun Zweifel an der Linie der Bundesregierung aufkommen. Von mehreren Regierungsbeamten hieß es am Wochenende, Habers Bericht sei nur als »deutliches Warnsignal« zu deuten, schon Anfang August hätte die Regierung demnach in den Krisenmodus umstellen müssen. Um ihre Warnung zu untermauern, habe die Botschafterin in der Betreffzeile des Kabels ein drohendes Saigon-Szenario genannt. Die Bilder eines Hubschraubers bei der chaotischen Evakuierung der dortigen US-Botschaft im Jahr 1975  gelten bis heute als Albtraum der USA.

Zudem hatte Haber in der Bewertung ihrer Gespräche mit der US-Seite bereits angemahnt, Berlin solle sich darauf einstellen, dass die Amerikaner bei einer Verschlechterung der Lage allein und ohne Absprache mit den Alliierten agieren würden. Genau dieses Szenario trat dann an dem Wochenende Mitte August ein. Ohne jede Ankündigung zogen sich die USA aus der »Green Zone« in Kabul zurück und verlegten ihre Diplomaten und Soldaten an den Kabuler Flughafen. Den deutschen Diplomaten blieb nichts anderes übrig, als sich eilig anzuschließen.

Gerade für das Auswärtige Amt (AA) ist das Kabel heikel. Zwar hatte das Ministerium seit Monaten Notfallpläne für die Botschaft in Kabul geschmiedet. Bereits im März reiste deswegen ein Krisenteam nach Kabul. Die Experten entwickelten im Nachgang ihrer Mission Szenarien für eine Evakuierung. Als letzte Option wurde dabei immer auch der Einsatz von Spezialkräften der Bundeswehr genannt. Gleichwohl verließ man sich jedoch weiter auf die Zusage der USA, im Notfall bei der Rettung von Diplomaten zu helfen und diese per Helikopter aus der »Green Zone« auszufliegen.

Verteidigungsministerium schlug früh militärische Evakuierung vor

Abseits der Notfallpläne wirkte das Agieren der Bundesregierung in den Tagen nach dem Eingang des Drahtberichts jedoch ziemlich behäbig. Als die Taliban Tag für Tag näher an Kabul heranrückten, tagte zwar der Krisenstab im Keller des AA regelmäßig. Konkrete Entscheidungen aber blieben aus. Am Freitag vor dem Fall Kabuls dann schlug das Verteidigungsressort in der Runde aller relevanten Ministerien die rasche Vorbereitung einer militärischen Operation zur Rettung des Botschaftspersonals vor. Am Ende der Sitzung aber einigte man sich nur darauf, ein weiteres Krisenteam nach Kabul zu schicken und die militärische Operation forciert zu planen.

Aus heutiger Sicht hat die Bundesregierung durch das lange Zuwarten viele Chancen verpasst. So wäre es bei einer schnellen Entscheidung nach der Warnung aus den USA noch möglich gewesen, die deutschen Diplomaten und viele der nun in Kabul zurückgelassenen afghanischen Ortskräfte mit Linien- oder Charterjets auszufliegen. Zudem hätte eine schnellere Aktivierung der Bundeswehr für die militärische Luftbrücke mehr Flüge für deutsche Staatsbürger und afghanische Ortskräfte möglich gemacht.

Die brisante Warnung Habers, einer der erfahrensten deutschen Botschafterinnen, könnte die Kritik am AA nun weiter anfachen. Schon seit Tagen fordert die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, das Ministerium von Heiko Maas müsse das brisante Schreiben zumindest in der Geheimschutzstelle des Bundestages zur Einsicht hinterlegen. Das AA indes weigert sich und argumentiert, dass die sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik verletzt würden, wenn das Kabel zugänglich gemacht würde.

Maas im Auswärtigen Ausschuss

Ganz verweigern kann sich Minister Maas der Debatte jedoch nicht. Am Montag ab 12 Uhr muss er sich in einer Sondersitzung des Auswärtigen Ausschusses den Fragen der Abgeordneten stellen und sein Krisenmanagement verteidigen. Dabei dürften die Inhalte des Kabelberichts vom 6. August eine entscheidende Rolle spielen.

Im Ausschuss dürfte es auch um die Frage gehen, welche Konsequenzen die Bundesregierung nach dem Eingang des alarmierenden Berichts zog. Von Insidern aus dem AA hieß es dazu, man habe zu dem Zeitpunkt schon Notfallpläne für die Evakuierung der Botschaft in der Schublade gehabt, die daraufhin erneut angepasst worden seien.

Im Verteidigungsressort ging das Papier von Botschafterin Haber indes erst drei Tage nach Versand, also am folgenden Montag, ein. Wegen der strengen Einstufung wurde der Bericht im Haus nur von Hand zu Hand verteilt und von der Politikabteilung bis Mitte der Woche bewertet. In der Folge, so jedenfalls hieß es vergangene Woche aus der Militärführung, seien die Planungen für eine militärische Evakuierung erneut forciert worden.

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