Alarm in Deutschland Was Terrorwarnungen wirklich wert sind

Polizist vor dem Reichstag in Berlin: Wie verlässlich sind Terrorwarnungen wirklich?
Foto: ODD ANDERSEN/ AFPEs ist ein verwirrendes Bild, das sich aus den derzeit bekannten Terrorwarnungen ergibt:
- und mit dem Netzwerk assoziierte Gruppen wollen das Reichstagsgebäude stürmen.
- Sie wollen in mehreren Ländern Europas zuschlagen.
- Die Attentäter sind schon in Deutschland.
- Die Attentäter reisen diese Woche ein.
- Die Anschläge könnten noch im November stattfinden.
- Die Anschläge sind für Februar oder März geplant.
Die Informationen sind beunruhigend - aber auch widersprüchliche, ähnlich wie bei anderen Warnhinweisen in diesem Jahr, siehe Grafik:
Aber was ist das schon, ein Warnhinweis? Er kann präzise sein oder vage, aus Quellen der deutschen Ermittlungsdienste stammen oder von einem ausländischen Partnerdienst. Gegenwärtig liegen in Deutschland so viele dieser Hinweise vor, dass die Sicherheitsbehörden vor einer deutlich gestiegenen Anschlagsgefahr warnen. Doch wie werden die Informationen gewichtet?
Im internationalen Geheimdienst-Jargon gibt es Kategorien für die unterschiedlichen Ursprünge von Meldungen:
- SIGINT zum Beispiel bezeichnet "Signal Intelligence", also Informationen, die auf technischem Wege gewonnen wurden - abgehörte Telefonate etwa oder mitgeschnittene E-Mail-Korrespondenz.
- Im Gegensatz dazu steht HUMINT, "Human Intelligence", also Hinweise, die auf menschlichen Quellen beruhen, sprich: Informanten. Diese wiederum werden meistens nach zweierlei Maßstäben bewertet: Wie vertrauenswürdig waren ihre bisherigen Informationslieferungen? Und als wie wahrscheinlich wird der aktuelle Hinweis eingestuft?
"Manchmal ist es fast unmöglich, die Bedeutung von Material einzuschätzen"
Eine eigene Kategorie bilden Informationen, die von befreundeten Nachrichtendiensten stammen - wobei diese häufig absichtsvoll den Ursprung der eigenen Meldung verschleiern, um ihre Quellen zu schützen. Tatsächlich erhalten deutsche Behörden daher oft bloß Zusammenfassungen und nicht etwa das begehrte "Rohmaterial", zum Beispiel mit dem lapidaren Vermerk "From Friends to Friends".
"Manchmal ist es fast unmöglich, die Bedeutung von Material einzuschätzen, wenn der Partnerdienst Informationen gewichtet, wir aber zum Beispiel die Methodik dahinter nicht kennen dürfen", sagt ein ehemaliger Analyst. "Oder der Partner benutzt bestimmte Attribute, um den Wahrscheinlichkeitsgehalt einer Meldung zu benennen, aber natürlich sind das dann ganz andere als beim nächsten Partner." Zudem könne es mitunter passieren, dass man dasselbe Material unwissentlich mehrfach übermittelt bekomme. Eine besondere Herausforderung für Analysten ist es, das auszuschließen.
Ab wann kann man eine Meldung ignorieren?
Es ist also ein kompliziertes Geschäft, aus diesen verschiedenen Arten von Informationsstückchen ein plausibles Bild zusammenzusetzen. Längst gibt es eine weitere, so inoffizielle wie sarkastische Kategorie, die das verdeutlicht:
- RUMINT, "Rumour Intelligence", zu Deutsch: Informationen aus Gerüchten.
Harte Informationen mit Zahlen, Daten, Namen und Fakten: Das ist, in der Theorie, der Goldstandard von Geheimdiensten und Polizeibehörden, die mit Prävention befasst sind, wie etwa das deutsche Bundeskriminalamt (BKA). In der Praxis ist genau das eher selten. Selbst scheinbar konkrete Informationen gerinnen zu RUMINT, wenn man sie weder verifizieren noch ihre internen Widersprüche ausräumen kann.
Ein aktuelles Beispiel dafür: Eine Meldung des amerikanischen FBI an das BKA von Anfang dieses Monats, derzufolge eine vierköpfige Terrortruppe auf dem Weg nach Deutschland sei, entsandt von einer schiitisch-indischen Gruppe namens "Saif" ("Schwert"). Niemand hat je zuvor von dieser Gruppe gehört. Dass sie als schiitische Organisation angeblich mit der schiitenfeindlichen al-Qaida paktieren soll, lässt die Meldung dubios erscheinen.
Ein anderes Problem können sogenannte Selbstanbieter aufwerfen - so wie jener Anrufer, der sich nach Informationen des SPIEGEL in den vergangenen Wochen dreimal aus dem Ausland beim BKA meldete und von Plänen berichtete, den Reichstag in Berlin anzugreifen. Der Anrufer gab an, er wolle aussteigen und benötige dabei Hilfe. Macht er sich wichtiger als er ist, um die Behörden zu ködern?
Die Frage ist: Welche Informationen kann oder sollte man ignorieren - in einer Situation, in der andere, teilweise ähnlich dubiose Meldungen im Kern auf dasselbe hinauslaufen: Dass al-Qaida und Co. Anschläge in Deutschland planen?
Das ist das Dilemma, vor dem deutsche Sicherheitsbehörden und in letzter Konsequenz der Bundesinnenminister stehen. Sie müssen die Warnhinweise, wie wackelig jeder einzelne auch sein mag, in der Gesamtheit betrachten - und sie durch ihre eigene Einschätzung ergänzen, durch Erfahrungswerte aus vergleichbaren Situationen in anderen Ländern, letztlich auch durch Bauchgefühl.
Es gibt öffentlich nicht bekannte Hinweise
Tatsache ist, dass es in den vergangenen zwölf Monaten eine Reihe Warnhinweise und Drohungen gegeben hat, aus denen man schließen kann, dass Deutschland im Visier dschihadistischer Terrorgruppen steht. Dieselben Gruppen haben zudem im selben Zeitraum mehrere Anschläge auf andere Ziele im Westen versucht.
Wie akut die Gefährdung ist, kann jedoch nicht genau ausgerechnet werden. Was wiegt schwerer: Die Summe diffuser Warnungen - oder eine einzelne, dafür anscheinend besonders konkrete? Die Arbeit von Terroranalysten ist keine exakte Wissenschaft. Der Innenminister berät sich mit ihnen, bevor er seine Einschätzung formuliert, dadurch erhält sie möglicherweise noch eine politische Dimension. Exakter wird sie nicht.
Im Falle der aktuellen Sicherheitslage in Deutschland sind die verschiedenen Warnhinweise sehr unterschiedlicher Herkunft und Natur. Es sind vermutlich auch längst nicht alle öffentlich bekannt.
Hinzu kommt eine weitere Rechnung, die oft vernachlässigt wird: Die Frage, ob jemand Terroranschläge wünscht, plant oder in Auftrag gibt ist unabhängig von der Frage, wie wahrscheinlich es ist, dass er sie auch umsetzen kann. Auf die gegenwärtige Situation angewandt heißt das: Es deutet vieles darauf hin, dass von den vielen Terrorgruppen, die Anschläge in Europa durchführen wollen, mindestens eine es irgendwann versuchen wird. Aber dass es ihr gelingt, ist wesentlich weniger wahrscheinlich.