Allensbach-Studie Deutschland, Angstland

Idylle an Hamburger Binnenalster
Foto: Bodo Marks/ picture alliance / dpaEs gehört zum Standardprogramm einer Fraktionsklausur, dass Meinungsforscher ein paar Zahlen und Trends vortragen. Aber was Renate Köcher, die Chefin des Allensbach-Instituts, den SPD-Bundestagsabgeordneten jüngst hinter verschlossenen Türen vortrug, sorgte dann doch für überraschte Gesichter.
Etwa eine Dreiviertelstunde präsentierte die Allensbach-Chefin am vergangenen Donnerstag ihre Daten - und hinterließ dem Vernehmen nach sehr nachdenkliche sozialdemokratische Abgeordnete. Kernaussage der 34-seitigen Präsentation, die SPIEGEL ONLINE vorliegt: Den Deutschen geht es wirtschaftlich so gut wie lange nicht mehr - und dennoch sind die Sorgen groß.
"Die Stimmungslage der Bürger ist zurzeit von einer ungewöhnlichen Konstellation geprägt", heißt es in der Präsentation: "Die materielle Zufriedenheit wächst, die Sorgen um die Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes bewegen sich auf niedrigem Niveau, aber der Zukunftsoptimismus ist steil zurückgegangen."
Ein erstaunliches Paradoxon. Warum sind die Deutschen so pessimistisch, obwohl es ihnen gut geht?
Köcher schreibt, die Bürger seien verunsichert durch:
- den Flüchtlingsstrom
- die Häufung von Terrorakten
- die internationalen Krisen
- die Entwicklung der inneren Sicherheit
- die Veränderungen in der Gesellschaft
70 Prozent antworten auf die Frage, wie gut es ihrem Betrieb zurzeit gehe, mit "gut" oder sogar "sehr gut". Jobsorgen machen sich in Ostdeutschland 19 Prozent der Befragten, im Westen sogar nur 15 Prozent. Die eigene wirtschaftliche Lage stufen 54 Prozent als "gut" oder "sehr gut" ein. Und trotzdem sehen nur 36 Prozent der Befragten "dem kommenden Jahr mit Hoffnungen entgegen".
Dass die Kriege in Syrien und in der Ukraine, aber vor allem die Flüchtlingskrise und die daraus resultierenden Probleme und Veränderungen in der Gesellschaft die Menschen bedrücken, dürfte den meisten SPD-Abgeordneten bewusst gewesen sein - aber dass die Stimmung so im Keller ist? Ähnlich pessimistisch war die Gefühlslage laut den Demoskopen von Allensbach zuletzt zum Beginn der Finanzmarktkrise im Jahr 2008, zuvor nach den Anschlägen vom 11. September 2001.
Angst um die Rente? Von wegen: Diese Sorge findet sich erst auf Platz 5 - davor listet Allensbach die Sorgen vor Gewalt und Kriminalität, vor einem Terroranschlag in Deutschland, vor immer mehr Flüchtlingen in Deutschland und die Sorge davor auf, dass Deutschland in militärische Konflikte hineingezogen werden könnte.
Und noch ein empirischer Befund dürfte für die SPD-Abgeordneten überraschend sein: Es gibt breite Sympathie für Protestwähler, konkret für die der AfD: "Ich bin nicht für die AfD, aber ich finde es gut, dass die AfD bei den letzten Landtagswahlen so gut abgeschnitten hat. Damit haben die anderen Parteien wenigstens einen Denkzettel bekommen und wissen, dass sie sich um eine Lösung der Probleme bemühen müssen" - diese Einschätzung teilen 46 Prozent der Befragten.
Was folgt für die SPD aus den empirischem Befunden?
Der eine oder andere SPD-Parlamentarier dürfte jedenfalls ins Grübeln gekommen sein angesichts dieser Stimmungslage - und sich die Frage stellen, was daraus für die Politik der Sozialdemokraten folgt. Schon in den vergangenen Wochen war erkennbar, dass die Kritik führender SPD-Politiker an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung wieder lauter geworden ist. Die Rede ist dann allerdings gerne von der "Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel" - als hätte der Koalitionspartner SPD nichts damit zu tun.
Besonders hervorgetan hat sich damit im Landtagswahlkampf Mecklenburg-Vorpommerns SPD-Ministerpräsident Erwin Sellering - aber auch Parteichef Sigmar Gabriel und andere sozialdemokratische Bundespolitiker gingen zuletzt wieder erkennbarer auf Distanz zu Merkel. Mit Blick auf die Allensbach-Daten könnte das klug sein, um die Ängste in der Bevölkerung aufzunehmen. Andererseits läuft die SPD Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit als Stütze von Merkels Flüchtlingskurs aus sozialdemokratischer Überzeugung zu verlieren - und damit Anhänger damit zu vergrätzen, die genau deshalb zur SPD halten.
Ein weiterer interessanter Allensbach-Befund: Die Bürger sehen bei keiner Partei überzeugende Konzepte für den Umgang mit der Flüchtlingskrise. Die AfD landet mit neun Prozent sogar noch hinter der CDU (13 Prozent) auf Platz 2, dahinter folgen mit acht Prozent die CSU und mit sechs Prozent die SPD.
Hoffnung könnte den Sozialdemokraten zudem machen, dass ihre klassischen Themen offenbar an Bedeutung gewonnen haben: So sagten 79 Prozent, dass sie soziale Gerechtigkeit als besonders wichtig erachten - 2009 waren es nur 74 Prozent. Und auch beim Thema Chancengerechtigkeit stieg die Zustimmung von 62 Prozent 2009 auf aktuell 67 Prozent. Und auch das dürfte mancher SPD-Abgeordneter als überraschend empfunden haben.