Alles oder Nichts beim Klimagipfel Kyoto light in Sicht
Bonn - Die Szene glich dem Andrang von Teenies bei einem Rockkonzert oder Fußball-Hooligans vor einem Endspiel. Gestern um Punkt 23 Uhr 15 gab der Präsident der Klimaschutzkonferenz, Jan Pronk die Kopien seines von 178 Umweltministern geduldig ersehnten Kompromissvorschlags frei, der das Kyoto-Protokoll für weltweiten Klimaschutz retten soll. Nun drängelten sich Minister, Berater, Experten und Journalisten um die Dokumentenausgabestelle im Bonner Tagungs-Hotel Maritim, um das 15-seitige Dokument zu erwischen und in Einzelgruppen bis tief in die Nacht zu diskutieren. Seit heute morgen um 7 Uhr 30 wird erneut in Ländergruppen darüber beraten. Am Abend steht das entscheidende Plenum an, keiner der 178 Umweltminister soll vorher Bonn verlassen.
Mit dem Papier versucht der niederländische Umweltminister alle in den letzten Tagen aufgeworfenen Reibungspunkte auf dem Klimagipfel zu glätten. Sein Ziel hatte Pronk schon vorher in SPIEGEL ONLINE erläutert: Bis Sonntagabend Einigkeit über das Kyoto-Protokoll herzustellen - auch ohne die USA, die unter Präsident George W. Bush nichts mehr von dem Klimaschutzprozess wissen wollen, obwohl sie seine Grundlagen vier Jahre lang mit erarbeitet haben.
Umweltorganisationen loben "Grundstein"
Die ersten Reaktionen kamen noch in der Nacht von den Umweltverbänden Greenpeace, WWF und Friends of the earth, die dem Papier attestierten, zwar hinter dem Stand der Vorlage vom letzten Klimagipfel in Den Haag zu bleiben, aber dennoch so gut angelegt zu sein, dass es sich lohne dies als einen "Grundstein" zu akzeptieren und in den nächsten 24 Stunden nicht mehr zerreden zu lassen. Auch wenn es mehr nach "Kyoto light" wirken würde, wie Carsten Smid aus der deutschen Greenpeace-Vertretung formulierte.
Scheitern noch immer möglich
Diese Gefahr des Zerredens und Scheiterns besteht nach wie vor. So zeigten sich auf ersten Nachtsitzungen mit Präsident Pronk die einflussreichen Europäer höchst unzufrieden mit dem Papier, weil den Kyoto-Zauderern aus der so genannten Umbrella-Group wie Japan, Kanada und Russland zu viele Zugeständnisse gemacht würden. Die dürfen ihre Verpflichtungen, den Kohlendioxid-Ausstoß zu verringern, erheblich verringern, weil sie besonders großzügig Wälder und landwirtschaftliche Flächen als so genannte Kohlenstoff-Senken anrechnen können.
So brauchen die Industriestaaten nunmehr ihre Treibhausgase nur noch um 1,8 Prozent reduzieren, statt wie ursprünglich vorgesehen, um 5,2 Prozent (bis zum Jahr 2012 in Relation zum Ausstoß 1990).
Dennoch zeigten sich die drei besonders bevorteilten Delegationen höchst zurückhaltend, wohl auch, weil nicht alle ihrer Erwartungen gleichermaßen erfüllt wurden. Beispielsweise wird in dem Papier ausdrücklich davon abgeraten, in Zukunft Kernkraftwerke auch als Umweltschutzmaßnahme anrechnen lassen zu können. Außerdem bleiben Zahlungen für den Finanzfonds der Klimaschutzkonferenz strittig und die Frage der so genannten "compliances" ist noch nicht zufriedenstillend geklärt. Offenbar werden bei Nichterfüllung des Kyoto-Protokolls keine Strafmaßnahmen mehr erwartet, sondern nur noch eine Wiedergutmachung.
Das Kyoto-Protokoll als Japans "Geisel"
Russlands Delegation blieb in der Nachtsitzung ausgesprochen skeptisch, so dass offenbar nur eine Intervention von Präsident Putin von Genua aus weiterhelfen kann um deren Zustimmung zu erhalten. Auch Japans Vertreter verweigerten jede Aussage. Die japanische Umweltministerin hat keine Handlungsvollmacht und ist abhängig vom Meinungswandel ihres Premierminister Koizumi, der das Kyoto-Protokoll bislang nicht verabschieden will. "Er benutzt das Protokoll als Geisel um bestmögliche Zugeständnisse zu erpressen", kommentierten in der Nacht sogar japanische Journalisten. Bis zum Nachmittag ist er in Genua im ständigen Telefonkontakt mit seiner Ministerin. Danach ist Schluss.
Auch Kanadas Vertreter verweigerten zunächst jeden Kommentar, so dass das Präsidium des Klimagipfels mit Jan Pronk an der Spitze heute morgen um drei Uhr 40 eher ratlos wirkte, nachdem bis dahin mit den Vertretern der Umbrella-Group beraten worden war. "Es ist Sonntag, beten Sie", war der einzige Kommentar, "es kann noch gut gehen".
Entwicklungsländer loben Europas Vermittlungsgeist
Ausgesprochen zufrieden zeigten sich dagegen Vertreter von Entwicklungsländern, denn nahezu alle ihre Forderungen wurden erfüllt, sogar die Finanzierung von Technologie-Transfers.
Diese "C-77"-Staaten werden vom UNO-Botschafter des Irans, Baghir Asadi geleitet, der gegenüber SPIEGEL ONLINE die Europäer als die eigentlichen Gewinner des Streits um das Kyoto-Protokoll lobte. Sie hätten deutliche Abstriche an ihren eigenen Positionen vorgenommen, nur um als Mediator dem Kyoto-Protokoll zum Durchbruch zu verhelfen. Das würde aus das politische Ansehen und Gewicht Europas erheblich stärken.
Zurückhaltende deutsche Delegation
Bundesumweltminister Trittin will das neue Papier erst heute Mittag auf einer Pressekonferenz kommentieren. Denn ihm sei noch unklar, ob es sich um ein "noch verhandelbares Dokument" handele oder ein "take-it-or-leave-it-paper", zu dem nur noch ja oder nein gesagt werden könne, meinte er nach einer Nachtsitzung der EU-Vertreter gegenüber SPIEGEL ONLINE.
Dabei hat Trittin maßgeblich Zuarbeit geleistet, indem er in der Nacht zuvor quasi als Sonderbotschafter Jan Pronks zwischen den Delegationen unterwegs war, um ihre Zustimmung zu dessen Vorgehensweise zu erreichen. Pronk bat alle Delegationen, nicht Punkt für Punkt auf bisherigen Positionen zu bestehen, sondern zu überlegen, ob sie sich letzten Endes "mit dem ganzen Paket anfreunden können".
EU: "Jetzt Verantwortung zeigen!"
Dieses taktische Vorgehen der Europäer brachte am prägnantesten in der Nacht der belgische Staatssekretär und Sprecher der EU, Olivier Deleuze, zum Ausdruck: "Dies ist überhaupt kein gutes Papier aus europäischer Sicht, aber wenn wir vor der Entscheidung stehen, zuzustimmen oder den Klimaschutz schon wieder für weitere endlose Diskussionen hinauszuschieben, dann liegt es in der Verantwortung der Industrienationen voranzugehen, and to take it - es anzunehmen".