
SPD und mögliche Neuwahlen Der perfekte Exit

Andrea Nahles, Olaf Scholz
Foto: FELIPE TRUEBA/EPA-EFE/REX/ShutterstockEs ist eine durchsichtige Dramaturgie, die sie sich bei der deutschen Sozialdemokratie für dieses Jahr zurechtgelegt haben.
Der Vorstoß von SPD-Chefin Andrea Nahles zum Abschied von Hartz IV, die Initiative für eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung von Arbeitsminister Hubertus Heil, die Forderung des Vizekanzlers Olaf Scholz nach einem Mindestlohn von zwölf Euro: Das alles geht gegen die Union, es ist der Auftakt zum Anti-GroKo-Reigen der SPD.
Der Widerspruch zum Koalitionsvertrag ist selbstverständlich beabsichtigt. Die SPD-Spitze hat die Operation Exit gestartet. Beginnend an diesem Sonntag versammelt sich die Parteispitze in Berlin, um das weitere Vorgehen im sozialdemokratischen Befreiungskampf zu beraten und programmatische Papiere zu verabschieden.
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und der CSU-Vorsitzende Markus Söder können sich schon jetzt darauf einstellen, was ihnen die SPD spätestens aus Anlass der im Koalitionsvertrag verankerten Revisionsklausel im Herbst sagen wird: Es ist aus.
Im Grunde will die Regierungspartei SPD genau das mit ihren Partnern von der Union machen, was die Regierungspartei FDP im Sommer 1982 mit ihrem Partner SPD machte: den Koalitionszerfall durch Reformvorstöße beschleunigen und den Schwarzen Peter für den absehbaren Bruch des Bündnisses möglichst beim Noch-Partner deponieren. Was damals die marktliberalen Vorstöße des FDP-Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff waren, das sind heute die Sozialstaatsideen der SPD.
Nur gibt es einen zentralen Unterschied: Die FDP provozierte den Bruch, um mit der Union eine neue Regierung zu bilden. Die SPD des Jahres 2019 legt alles darauf an, sich selbst aus dem Spiel zu nehmen. Das ist, wenn man so will, sehr destruktiv. Denn die Partei steht vor dem Sturz ins machtpolitische Nichts.
Und doch muss diese Destruktivität kein Fehler sein.
Entscheidend für Erfolg oder Misserfolg dieser Scheidungsstrategie ist nicht, ob es zu Neuwahlen kommt. Mancher SPD-Stratege scheint ja der Überzeugung, Wahlen seien gefährlich, weil die Umfragen gegenwärtig so mies sind. Deshalb, so wohl die Denke, müsse man die Große Koalition so lange fortführen, bis die SPD wieder stark ist.
Spoiler: Das wird in der GroKo nicht geschehen. Hinzu kommt, dass Neuwahlen keineswegs zwangläufig sind, sollte die SPD aus der Koalition ausscheiden.
Denkbar ist etwa ein neuer Jamaika-Versuch unter einer designierten Kanzlerin Kramp-Karrenbauer. FDP-Chef Christian Lindner hat deutlich signalisiert, dass er auch ohne Neuwahlen dafür bereitsteht, bei Robert Habeck von den Grünen ist es ein bisschen schwieriger. Ihm müsste man bei der Regierungsbildung wohl entgegenkommen und die starken virtuellen Umfrageprozente der Grünen berücksichtigen.
Möglich ist natürlich auch eine unionsgeführte Minderheitsregierung. Neuwahlen also sind nur eine Option von mehreren.
Der Scheidungsprozess, den die SPD von diesem Sonntag an beschleunigen wird, hat also - anders als 1982 - keinen eindeutig absehbaren oder von ihr zu bestimmenden Zielpunkt. Diese Schwierigkeit ist nicht aufzulösen.
Stattdessen sollte sich die SPD in der Absetzbewegung von der Großen Koalition auf ihre wirklichen Probleme konzentrieren. Denn wenn sie die nicht ansatzweise in den Griff bekommt, ist völlig egal, was kommt - ob Neuwahlen, Jamaika oder sonst was - die SPD würde um nichts weniger als ihre Existenz kämpfen müssen.
Die Probleme sind so groß wie bekannt:
Da ist erstens die Personalfrage, die Unzufriedenheit mit Andrea Nahles. Der geschasste Vorgänger Sigmar Gabriel erlebt gerade ein ungewöhnliches Comeback an der Basis, eine Kanzlerkandidatur ist nicht ausgeschlossen. Aber Vorsitzender wird er nicht nochmal werden. Wer soll es dann machen, wenn Nahles scheitert? Dass dem blassen Niedersachsen Stephan Weil die besten Chancen eingeräumt werden, das sagt alles über das Personalreservoir der SPD.
Zweites Problem: die Strategie. In dem Versuch, Volkspartei zu bleiben, hat sich die SPD zur gesichtslosen Allerweltspartei entwickelt, hat sich in der politischen Mitte verloren. Sie steht für alles und nichts, ohne Machtperspektive jenseits der Großen Koalition. Mit der Linkspartei ist im Bund (noch immer) kein Staat zu machen.
Drittes Problem: die Story. Die SPD ist normativ entleert. Wozu braucht es die Sozialdemokratie? Zu oft schien in den vergangenen Jahren die Antwort: als Korrektiv der Union. Das ist zu wenig. Grüne und AfD machen ehemaligen SPD-Wählern von verschiedenen Seiten aus Exklusivangebote, da kommt die SPD mit ihren Pauschalangeboten nicht mehr mit. Wo ist sie geblieben, die Partei der Aufsteiger und Aufstiegswilligen, die Partei der gerechten Umverteilung?
Jedes einzelne dieser drei Probleme stellt eine Gefahr für die SPD dar. Alle drei gemeinsam aber haben die Partei in den Umfragen so massiv heruntergeschraubt. Der jetzt versuchte Befreiungsschlag in Sachen Sozialstaatsreform mag ein Anfang sein, der erste Früchte trägt: Große Mehrheiten in der Bevölkerung unterstützen die Ideen von Nahles und Co.
Aber die SPD braucht mehr als diesen Aufbruch. Sie braucht Umbruch.