Streit mit Präsident Erdogan Merkels Türkeiproblem ist wieder da

September 2016: Merkel und Erdogan beim G-20-Gipfel in China
Foto: Jesco Denzel/ Bundesregierung/ DPASeptember 2016: Merkel und Erdogan beim G-20-Gipfel in China
Foto: Jesco Denzel/ Bundesregierung/ DPADie deutsch-türkischen Beziehungen schienen auf dem Wege der Besserung: Der türkische Botschafter, den die Regierung in Ankara nach dem Böhmermann-Gedicht abgezogen hatte, ist wieder in Berlin. Eine Gruppe Parlamentarier aus dem Bundestag durfte den Stützpunkt Incirlik besuchen, auf dem Bundeswehrsoldaten stationiert sind.
Doch die Festnahmen von elf Mitgliedern der prokurdischen HDP, des Chefredakteurs und weiterer Journalisten der Zeitung "Cumhuriyet" sowie die Reaktionen von führenden AKP-Politikern haben Berlin einmal mehr klar gemacht - nichts ist derzeit normal in den Beziehungen zu Ankara.
Der Ton wird schriller, einmal mehr. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan warf Deutschland am Donnerstag in einer Rede im Präsidentenpalast vor, Terroristen zu beherbergen. Die "Terrorplage" werde die Bundesrepublik "wie einen Bumerang treffen". Offensichtlich sei die Bundesregierung aber mehr daran interessiert, sich besorgt über das Schicksal von Zeitungen zu äußern, die "Terrorgruppen unterstützen".
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) wies die Vorwürfe umgehend zurück: "Ich kann die Äußerungen Erdogans zur Sicherheitslage Deutschlands überhaupt nicht nachvollziehen."
Die Kanzlerin steht erneut unter Druck, sie wird das Türkeiproblem nicht los. Ankara droht offen damit, das Flüchtlingsabkommen mit der EU - das Angela Merkel vorantrieb - platzen zu lassen.
Hinzu kommt: Aus Sicht der SPD hat Merkel es nach den Festnahmen bei "Cumhuriyet" an Entschlossenheit mangeln lassen. Nachdem Regierungssprecher Steffen Seibert mit eher moderaten Statements auf die Festnahmen für Unmut in Teilen der Öffentlichkeit gesorgt hatte, dauerte es zwei Tage, bis Merkel selbst deutlichere Worte fand und davon sprach, es sei "in höchstem Maße alarmierend", dass in der Türkei das hohe Gut der Presse- und Meinungsfreiheit immer wieder aufs Neue eingeschränkt werde.
Video: Polizei verhaftet Oppositionelle in der Türkei
"Merkel hätte viel früher viel deutlicher werden müssen"
Bei der SPD kam diese Zögerlichkeit nicht gut an. "Natürlich hat sich Merkel zu spät geäußert. Aber das hat sie schon in der Vergangenheit: als die türkische Regierung nach dem Militärputsch begann, die Zivilgesellschaft zu unterdrücken. Schon damals hätte Merkel viel früher deutliche Worte sprechen müssen", sagt der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich.
Der SPD-Fraktionsvize geht mit der bisherigen Haltung der CDU-Politikerin scharf ins Gericht, so weit wie bislang kaum ein Sozialdemokrat in Berlin. "Die Türkeipolitik von Merkel und dem Kanzleramt fällt uns jetzt auf die Füße", so Mützenich zu SPIEGEL ONLINE. Die Zurückhaltung werde von den demokratischen Oppositionskräften in der Türkei als "devote Haltung" wahrgenommen. "Dort hat man das Gefühl, dass die Kanzlerin wegen des Flüchtlingsdeals so zahm mit Ankara umgeht."
Dass die Aktion der AKP-Regierung gegen eine der letzten unabhängigen Zeitungen des Landes eine Zäsur bedeutet, ist vielen in Berlin klar. Doch weil Ankara beim Flüchtlingsabkommen und als Partner im Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" gebraucht wird, gibt es bislang keine Handhabe und schon gar nicht "rote Linien".
Was bleibt, sind Zeichen der Solidarität. Immerhin besuchte der deutsche Botschafter in der Türkei, Martin Erdmann, am Dienstag demonstrativ die Redaktion von "Cumhuriyet", das Bild wurde schließlich vom Auswärtigen Amt per Twitter verbreitet.
Eigentlich sollte im Oktober der visafreie Verkehr für türkische Bürger mit der EU zustande kommen. Doch die Änderung der türkischen Anti-Terror-Gesetze, die die EU verlangt, kommt nicht voran. Die Türkei könne ihre Gesetzgebung bei dem Thema gar nicht ändern, da seien keine Zugeständnisse möglich, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu der "Neuen Zürcher Zeitung". Sollte die Antwort nicht in diesen Tagen kommen, werde man die Vereinbarung zum Flüchtlingsabkommen kündigen: "Unsere Geduld neigt sich dem Ende zu."
Angesichts der jüngsten Entwicklung fordert mancher in Berlin eine weitaus schärfere Gangart der EU. Der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag, Michael Brand (CDU), sagte SPIEGEL ONLINE, es gehe längst nicht mehr alleine um die Änderung der Anti-Terror-Gesetze. "Die EU muss angesichts der seit Monaten fortschreitenden Eskalation beim Visa-Abkommen die Punkte Grundrechte und Unabhängigkeit der Justiz noch einmal aufrollen und neu bewerten, so Brand. "Alles andere wäre gefährliche Augenwischerei."
Fünf Themengebiete sind zwischen der EU und der Türkei verhandelt worden - Datenschutzgesetzgebung, Anti-Terror-Gesetze, Korruptionsbekämpfung, Unabhängigkeit der Justiz und Grundrechte. Brand hatte nach dem gescheiterten Putsch Mitte Juli als erster deutscher Parlamentarier die Türkei besucht und dabei auch mit Journalisten von "Cumhuriyet" gesprochen. "Wenn hier aus falscher Rücksichtnahme gekuscht wird, bezahlen die Mutigen in der Türkei den Preis und werden noch stärker zur Zielscheibe Erdogans", so Brand.
Die neue Gereiztheit zwischen Ankara und Berlin dürften wohl bereits in dieser Woche deutsche Politiker persönlich erleben. Am Donnerstag flog die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Maria Böhmer (CDU), mit zwei Parlamentariern zu zweitägigen Gesprächen nach Ankara. Zusammen mit Michelle Müntefering (SPD) als Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe und dem CDU-Außenpolitiker Andreas Nick trifft sie Offizielle aus Politik und Wirtschaft. Und Menschen, die in diesen Tagen in Bedrängnis sind.
Zusammengefasst: Der türkische Präsident Erdogan geht hart gegen seine Kritiker vor. Auch Angela Merkel bekommt den Zorn Erdogans zu spüren - weil die Kanzlerin die Festnahmen bei der Oppositionszeitung "Cumhuriyet" kritisiert hat, droht Ankara mit einem Aus des Flüchtlingsdeals. Für viele SPD-Politiker sind diese Drohgebärden ärgerlich. Sie finden, die Bundesregierung zeige sich Erdogan gegenüber ohnehin zu zurückhaltend, auch die jetzige Reaktion Merkels sei zu spät gekommen. Außerdem sei Zögerlichkeit das falsche Zeichen in Richtung von Oppositionellen und Aktivisten in der Türkei, die dringend internationale Unterstützung bräuchten.
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Demonstranten in Istanbul protestieren gegen das harte Vorgehen der türkischen Behörden gegen die Zeitung "Cumhuriyet". Dutzende Menschen harrten in der Nacht in einer Mahnwache gegenüber dem Redaktionsgebäude aus.
Am Montag wurden Chefredakteur Murat Sabuncu und zwölf weitere Mitarbeiter des Blattes verhaftet - international ist das Entsetzen groß.
Westliche Staaten befürchten, die Türkei könne sich unter Führung ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Putschisten von einer Demokratie in einen autoritären Staat verwandeln.
Nach der Schließung zahlreicher kritischer Medien ist "Cumhuriyet" die letzte namhafte Zeitung, die kritisch über die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan berichtet. Hier ein Bild aus dem Newsroom des Blattes.
Bei der Zeitung gibt man sich kämpferisch - und zugleich sind die Mitarbeiter voller Furcht um ihr Land. "Wir haben größere Angst denn je", sagt ein Reporter SPIEGEL ONLINE. "Wir verlieren unsere Jobs und wissen: Echten Journalismus wird es in der Türkei bald nicht mehr geben."
Der türkische Journalistenverband teilte mit, seit dem Putschversuch vom 15. Juli seien 170 Zeitungen, Zeitschriften, TV-Sender und Nachrichtenagenturen geschlossen worden. 2500 Journalisten seien arbeitslos.
Den verhafteten "Cumhuriyet"-Journalisten wird die Unterstützung des Gülen-Netzwerks und militanter kurdischer Gruppen vorgeworfen. Erdogan hält den im US-Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen (im Bild) für den Drahtzieher des gescheiterten Putsches. "Cumhuriyet" weist den Vorwurf der Komplizenschaft zurück: Man habe im Gegenteil gewarnt, Gülen sei eine Gefahr für die Republik.
Bereits vor einem knappen Jahr, und damit Monate vor dem Putschversuch vom Juli, hatten die türkischen Behörden erstmals gegen "Cumhuriyet" losgeschlagen. Ihr damaliger Chefredakteur Dündar (im Bild)und sein Hauptstadtbüroleiter wurden verhaftet und im Mai wegen Verrat von Staatsgeheimnissen zu mehrjährigen Haftstraften verurteilt.
Erst im September wurde "Cumhuriyet" mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet, und zwar "für ihren unerschrockenen investigativen Journalismus und ihr bedingungsloses Bekenntnis zur Meinungsfreiheit trotz Unterdrückung, Zensur, Gefängnis und Morddrohungen". Hier ein Bild aus der Redaktion im November 2015.
Den verhafteten "Cumhuriyet"-Journalisten wird die Unterstützung des Gülen-Netzwerks und militanter kurdischer Gruppen vorgeworfen. Erdogan hält den im US-Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen (im Bild) für den Drahtzieher des gescheiterten Putsches. "Cumhuriyet" weist den Vorwurf der Komplizenschaft zurück: Man habe im Gegenteil gewarnt, Gülen sei eine Gefahr für die Republik.
Foto: Matt Smith/ dpaBereits vor einem knappen Jahr, und damit Monate vor dem Putschversuch vom Juli, hatten die türkischen Behörden erstmals gegen "Cumhuriyet" losgeschlagen. Ihr damaliger Chefredakteur Dündar (im Bild)und sein Hauptstadtbüroleiter wurden verhaftet und im Mai wegen Verrat von Staatsgeheimnissen zu mehrjährigen Haftstraften verurteilt.
Foto: Monika Skolimowska/ dpaErst im September wurde "Cumhuriyet" mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet, und zwar "für ihren unerschrockenen investigativen Journalismus und ihr bedingungsloses Bekenntnis zur Meinungsfreiheit trotz Unterdrückung, Zensur, Gefängnis und Morddrohungen". Hier ein Bild aus der Redaktion im November 2015.
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