Jakob Augstein

Vierte Amtszeit Die falsche Kanzlerin

Deutschland soll so bleiben, wie es ist. Viele halten das für die wichtigste Aufgabe der Politik. Dann sollten sie allerdings nicht Angela Merkel wählen, sie war immer die Kanzlerin des radikalen Wandels.
Angela Merkel

Angela Merkel

Foto: Kay Nietfeld/ dpa

Angela Merkel will noch einmal Bundeskanzlerin werden. Es gibt Menschen, die freuen sich über diese Ankündigung. Sie glauben, Merkel könne dann jenes Versprechen wahrmachen, das sie neulich im Bundestag gegeben hat:

"Deutschland wird Deutschland bleiben - mit allem, was uns daran lieb und teuer ist." Aber das ist ein Irrtum. Deutschland und Europa haben sich in Merkels Amtszeit radikal verändert. Die europäische Integration liegt in Trümmern, und wichtige Regeln der deutschen Politik seit dem Zweiten Weltkrieg gelten nicht mehr. Angela Merkel ist keine Kanzlerin der Kontinuität. Sie ist die Kanzlerin des Wandels.

Merkel und die Deutschen - das ist die Geschichte eines fortdauernden Missverständnisses. Im vorigen Bundestagswahlkampf floss ihr ganzes politisches Programm in einem einzigen Satz zusammen: "Sie kennen mich."

Aber das stimmt ja gar nicht. Wir kennen sie eben nicht. Diese Kanzlerin inszeniert sich als ruhige Kraft. Aber ruhig soll nur der Bürger sein.

Frau Dr. Merkel hat im Kanzleramt eine Praxis für politische Anästhesie eröffnet. Operiert wird erst, wenn der Patient eingeschlafen ist. Wir alle sind der Patient.

Der deutsche Sozialstaat, die europäische Einigung, das Verhältnis zu Russland, das Parteiensystem - nichts davon ist mehr so, wie es war, als Merkel an die Macht kam. Man kann solchen Wandel für unvermeidlich halten. Dann aber taugt auch Merkel nicht als Kraft der Kontinuität.

Man kann der Kanzlerin zugutehalten, sie habe diese radikalen Transformationen nicht verursacht. Dann aber muss man erklären, warum Merkel künftig in der Lage sein soll, sie zu steuern. So oder so - die Rechnung geht nicht auf und Merkel bleibt auch nach elf Jahren in der Regierung die große Unbekannte.

"Jeder sieht, was du zu sein scheinst, wenige merken, wie du bist." Das ist die doppelte Buchführung der politischen Philosophie, wie Machiavelli sie empfohlen hat. Herfried Münkler hat in einem Interview mit dem Deutschlandradio gerade an ihn erinnert und gesagt, da der Pöbel immer dem Schein folge, bestehe die kluge Politik darin, sich den Schein nutzbar zu machen.

Die Kanzlerin des Scheins

Merkel macht nichts anderes. Sie ist die Kanzlerin des Scheins. Das klingt paradox angesichts eines politischen Hütchenspielers wie Donald Trump, dem es gelungen ist, sich against all odds zum Präsidenten wählen zu lassen. Aber was die Benebelung der Öffentlichkeit angeht, kann unsere Kanzlerin voll mithalten.

Merkel gibt sich bescheiden. Aber es gibt eine eitle Bescheidenheit.

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11.06.2023 04.03 Uhr

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Merkel beherrscht die Kunst, die Lust an der Macht in die Begriffe der Verantwortung zu kleiden. Die "Süddeutsche Zeitung" hat beschrieben, wie die Kanzlerin mit sich gerungen hat, bevor sie sich zum Weitermachen entschloss. Das liest sich wie ein Stück aus der "Legenda aurea": Die Kanzlerin ist allein, mit wenigen Getreuen, "in sehr kleiner Runde". Sie denkt ans Aufhören.

Das ist ihre Versuchung - der Wunsch, zu vollbringen, was keinem gelang: der Abgang aus freien Stücken. Dann jedoch mahnt Joachim Sauer, der Ehemann, es dürfe nicht die Eitelkeit den Ausschlag geben, auch hier die Erste zu sein. So siegt, nach kurzer Anfechtung, doch die Pflicht. Langsam, beinahe schmerzhaft, erhebt sich die Kanzlerin und geht wieder hinaus in die Schlacht.

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Fotostrecke: 16 Jahre CDU-Chefin, elf Jahre Kanzlerin

Foto: © Arnd Wiegmann / Reuters

Rührend.

Donald Trump ist der Meister der Großkotzigkeit. Angela Merkel ist die Meisterin der Bescheidenheit. Meister der Inszenierung sind sie beide.

Hass ist an die Stelle von Streit getreten

Merkels Desinteresse an Europa, ihre Vernachlässigung der sozialen Spaltung, ihre Abneigung gegen Russland - Deutschland hat bereits einen hohen Preis bezahlt für diese Kanzlerschaft, die sich den Anschein von Berechenbarkeit und Stabilität gibt. Der höchste Preis aber ist die Beschädigung der politischen Kultur. Mit der AfD hat sich genau die rechte Partei etabliert, die alle Unions-Chefs vor Merkel bislang verhindern konnten. Die früher so gerühmte Politik der Mitte kommt uns teuer zu stehen: Hass ist an die Stelle von Streit getreten.

Angela Merkel tritt also wieder an. Aber die Probleme, die sie jetzt lösen muss, hat sie selbst mit verursacht. Wie soll das gehen? Die Kanzlerin gibt vor, sie wolle aus reiner Selbstlosigkeit weitermachen.

Danke. Aber: Nein, danke.

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