Merkels Regierungserklärung Land gespalten, Union gespalten

Die erste Regierungserklärung beginnt mit einer Überraschung: Kanzlerin Merkel spricht über eigene Fehler und die Spaltung des Landes. Im Bundestag zeigt sich allerdings: Der Riss geht auch durch die Union.
Kanzlerin Merkel

Kanzlerin Merkel

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Die Bundeskanzlerin ist einige Minuten früher da an diesem Mittwochmittag. Angela Merkel schlendert im pinkfarbenen Blazer in den Plenarsaal. Es läuft noch die Regierungsbefragung, deshalb verzieht sich die Kanzlerin erst mal auf einen der hinteren Plätze der Regierungsbank.

Aber eigentlich will sie keine Zeit mehr verlieren. Aus Merkels Sicht hat die Regierungsbildung viel zu lange gedauert, die vergangenen Monate waren für das ganze Land quälend. Jetzt, eine Woche nach der Vereidigung des neuen Kabinetts von Union und SPD, wird Merkel dem Parlament die Grundlinien ihrer künftigen Politik darlegen. Um 13.02 Uhr darf die CDU-Chefin endlich ans Rednerpult, um ihre erste Regierungserklärung abzugeben.

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  • Merkels stärkster Moment

Den hat sie gleich zu Beginn ihrer Rede. Anders als es sonst oft ihre Art ist, beginnt Merkel ohne Schwurbeleien und spricht direkt an, worum es im Kern geht: Sie regiert jetzt ein gespaltenes Land. "Schon allein diese schwierigen Umstände deuten darauf hin, dass sich in diesem Land etwas verändert hat", sagt sie mit Blick auf die 171 Tage, die es nach der Bundestagswahl bis zur Bildung einer Regierung gedauert hat. Viele Menschen würden sich Sorgen machen in Deutschland - und das, obwohl es dem Land so gut gehe wie lange nicht. Und dann taucht ein paar Sätze später auch direkt das Schlüsselwort für diese Analyse auf: Flüchtlinge.

Im ersten Teil dieser knapp einstündigen Rede analysiert Merkel, was in Teilen schiefgelaufen ist, was sie falsch gemacht hat: die Einschätzung des Ausmaßes der Flüchtlingskrise, die zu späte Reaktion. Die Aufnahme von allein knapp einer Million Flüchtlinge im Jahr 2015 verteidigt Merkel weiterhin aus humanitären Gründen - konstatiert aber eben auch die Verwerfungen, die daraus entstanden sind.

  • Merkels Botschaft

Ergibt sich aus ihrer Analyse der Spaltung: Sie will mit ihrer Regierung genau diese Zerrissenheit der Gesellschaft wieder heilen.

  • Die Flüchtlingskanzlerin

Merkel räumt zwar Fehler in der Flüchtlingspolitik ein, kündigt Konsequenzen an und verspricht, dass die hohe Zahl der Aufgenommen eine Ausnahme bleiben wird - aber im Kern bleibt sie dabei, dass es richtig war, aus humanitären Gründen vor allem 2015 so viele Flüchtlinge aufzunehmen. Auch den Satz "Wir schaffen das" verteidigt Merkel. Und sie beendet ihre Rede mit einem Satz, der den Gegnern ihrer Flüchtlingspolitik und ihres integrativen Gesellschaftsansatzes auch nicht schmecken dürfte: "Deutschland - das sind wir alle."

  • Größte Überraschung

Nicht nur das Land ist gespalten, sondern auch die Union. Das wird bei Merkels Rede beispielsweise deutlich, als sie ihre Überzeugung wiederholt, wonach der Islam zu Deutschland gehöre - und damit erneut CSU-Chef Horst Seehofer, inzwischen Bundesinnenminister und auf der Kabinettsbank zwei Plätze neben Merkel sitzend - widerspricht, der dies kürzlich verneint hatte. Bei einem Teil der Unionsabgeordneten, angefangen bei CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt in der ersten Reihe, rührt sich da keine Hand. Dobrindt wird später am Rednerpult die CSU-Sicht wiederholen, wonach der Islam nicht zu Deutschland gehöre.

Im Video: Merkels Regierungserklärung

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Aber auch CDU-Abgeordnete verweigern ihrer Parteichefin an dieser Stelle den Beifall, genau wie bei Passagen zur Flüchtlingspolitik. Der sächsische Christdemokrat Arnold Vaatz spendet Merkel nicht einmal am Ende ihrer Rede Beifall.

Weil der Schlussapplaus aus ihrer Fraktion zunächst insgesamt eher verhalten ist, kommen aus den Reihen der AfD-Fraktion hämische Anfeuerungsrufe, die schließlich dazu führen, dass sich eine Reihe von Unionsabgeordneten erhebt und stehend klatscht.

  • Weiter-so-Faktor

Auch wenn Merkel ausdrücklich dem Vorwurf der Weiter-so-Politik widerspricht - nach dem überraschenden ersten Teil ihrer Rede verfällt die Kanzlerin rhetorisch jedenfalls komplett in alte Muster: Ziemlich leidenschaftslos reiht sie Thema für Thema des 177-seitigen Koalitionsvertrags aneinander und arbeitet so die Ziele ihrer Regierung ab. Ungewöhnlich klar dagegen die Kritik Richtung Türkei wegen der Rolle in Syrien, aktuell vor allem in Afrin. Und auch an die Adresse Russlands erhebt sie Vorwürfe, wegen des Syrien-Kriegs und im Fall Skripal.

  • Antwort der Opposition

Zum ersten Mal dürfen die Vorsitzenden der AfD-Fraktion an diesem Tag auf die Kanzlerin antworten - dieses Recht steht ihnen als größter Oppositionsfraktion im Bundestag zu. Alexander Gauland, der seine Redezeit mit der seiner Ko-Vorsitzenden Alice Weidel geteilt hat, beginnt mit einem vergifteten Lob an Merkel: Die Kanzlerin hätte in ihrer Rede "das erste Mal wieder von Deutschen gesprochen", behauptet er. "Das ist der Erfolg der AfD." Ansonsten die üblichen Vorwürfe gegen Merkel: Sie habe das Land gespalten, mit ihrer Flüchtlingspolitik Recht gebrochen und die Interessen der Deutschen ignoriert.

  • Und die SPD?

Die SPD hat es nicht leicht, wenn Merkel ihre Regierungserklärung hält - das war schon in den vergangenen Jahren so: Man will ein bisschen Distanz zeigen, aber zu viel darf es gegenüber der eigenen Kanzlerin natürlich auch nicht sein. Also klatschen die SPD-Abgeordneten hier und da ein bisschen. Als Fraktionschefin Andrea Nahles dann am Rednerpult steht, spricht sie vor allem von den sozialdemokratischen Ministern und deren Aufgaben, stichelt ein bisschen gegen CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn. Und Nahles redet von der Rolle des Parlaments, das sie stärken will. Heißt: Merkel und dem Rest der Union auch mal widersprechen. Aber da ist, gemessen an diesem Tag, noch Luft nach oben.

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