Merkel und die Ehe für alle Die Respektlose

Angela Merkel hat bei der Ehe für alle keine Kehrtwende gemacht, sondern ist nur einen Schritt zur Seite gegangen: aus dem Weg. Ihr Pragmatismus ist respektlos gegenüber dem Wähler.
Von Stefan Niggemeier
Angela Merkel

Angela Merkel

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Stefan Niggemeier, Jahrgang 1969, ist vielfach ausgezeichneter Medienjournalist, schwul sowie Mitgründer des Watchblogs "Bildblog". Seit Januar 2016 betreibt er zusammen mit Boris Rosenkranz das medienkritische Internetportal "Übermedien".

Als sich David Cameron vor knapp einem Jahr zum letzten Mal als Premierminister im britischen Unterhaus den Fragen der Abgeordneten stellte, sagte er, er werde einen Tag nie vergessen. Einer der Mitarbeiter, die in Downing Street Nr. 10 in der Nähe der Eingangstür arbeiten, habe zu ihm gesagt: "Ich interessiere mich nicht sehr für Politik, Herr Cameron, aber Ihre Leute haben es geschafft, dass ich an diesem Wochenende die Person heiraten kann, die ich mein ganzes Leben lang liebe."

Das, sagte Cameron, sei von den vielen wunderbaren Momenten in seinem Job einer seiner liebsten.

Der Konservative Cameron war lange kein Kämpfer für die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe gewesen, aber als er erkannte, dass diese Entwicklung nicht aufzuhalten ist, beschloss er, wenigstens die Führung zu ergreifen - und erklärte sie zu einem konservativen Projekt. Auf einem Parteitag sagte er 2011: "Konservative glauben an Bande, die uns verbinden; daran, dass die Gesellschaft stärker ist, wenn wir einander Versprechen abgeben und uns gegenseitig unterstützen. Deshalb unterstütze ich die Homo-Ehe: Nicht, obwohl ich ein Konservativer bin. Ich unterstütze die Homo-Ehe, weil ich ein Konservativer bin."

Es ist schwer vorstellbar, dass Angela Merkel, wenn sie einmal nicht mehr Bundeskanzlerin ist (was für sich genommen schon schwer vorstellbar ist), mit Stolz auf den Moment zurückblicken wird, in dem sie die Ehe für alle in Deutschland ermöglichte. Dass lesbische Frauen oder schwule Männer auf sie zugehen werden und sich bedanken und sie feiern für ihr klares Bekenntnis, mit denen sie ihnen das Gefühl gegeben hat, dass ihre Beziehungen nichts anderes und nichts weniger sind als die Beziehungen zwischen Männern und Frauen.

Irgendeine Geschichte, um den Kurswechsel zu erklären

Denn es gibt kein Bekenntnis von Angela Merkel. Es gab vorher keines gegen die vollständige Gleichstellung, und es gibt jetzt keines dafür. Es gab vor vier Jahren nur ein Bekenntnis zu ihrem "Bauchgefühl", das sie beim Thema Adoption zweifeln ließ. Und es gibt nun eine Anekdote von einer flüchtigen Begegnung mit einer lesbischen Frau, die sich mit ihrer Partnerin um viele Pflegekinder kümmert, die sie wiederum an ihrem "Bauchgefühl" zweifeln lässt.

Es passt zur Wurstigkeit des ganzen Verfahrens, dass dieser vermeintliche Schlüsselmoment schon eine Weile zurückliegen muss. Vermutlich wurde er von ihr nur zum Schlüsselmoment deklariert, um irgendeine Geschichte zu haben, mit der sich ein Kurswechsel erklären ließ, als er irgendwie - möglichst beiläufig - erklärt werden musste.

"Zügen, von denen Merkel glaubt, sie seien nicht mehr anzuhalten", formuliert die "FAZ", "hat sie sich noch nie in den Weg gestellt." Wenn die Kanzlerin auch sonst keine Überzeugungen haben mag, diese Überzeugung hat sie.

Man kann sie jetzt für ihren strategischen Geniestreich feiern, der SPD ein Wahlkampfthema genommen zu haben - und zwar in der Art, wie deren Kanzlerkandidat Martin Schulz es ihr vorgeworfen hat: Indem sie sich der inhaltlichen Auseinandersetzung, dem politischen Streit entzieht. Sie hat ja genau genommen nicht einmal eine Kehrtwende gemacht, sondern ist nur einen Schritt zur Seite gegangen: aus dem Weg.

Und man kann, als Kämpfer für die Gleichstellung von Homosexuellen, auch einfach das zu erwartende Ergebnis ihres Schrittes feiern, die späte Verwirklichung der Ehe für alle, und ignorieren, wie unwürdig es zustande kam.

Auch der Respekt für die Politikerin Merkel geht verloren

Aber es geht bei dieser Art des Regierens etwas verloren, und das ist Respekt. Merkels Art des Pragmatismus ist respektlos gegenüber Argumenten und Überzeugungen, und sie ist respektlos gegenüber dem politischen Prozess. Es ist bezeichnend, dass sie sich darüber beklagt, dass die Einführung der Ehe für alle nun zu einem politischen Streitthema wird, dabei ist genau das angemessen: Eine offene Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Positionen, mit der Möglichkeit, sich auch als Partei klar zu positionieren. Merkel hat diese Auseinandersetzung jahrelang verhindert und will ihr selbst jetzt noch entgehen, wo sie sich nicht mehr verhindern lässt?

Umgekehrt geht auch der Respekt für die Politikerin Merkel verloren. Ihre schier grenzenlose Flexibilität, ihr Prinzip der Prinzipienlosigkeit, ist zweifellos ein entscheidender Grund für ihren Erfolg. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie sich im entscheidenden Moment durch keine eigenen Überzeugungen davon abhalten lassen würde, bislang gepflegte Sicherheiten über Bord zu werfen. Eine Nichtüberzeugungstäterin, das schien in dieser verwirrenden, sich rasant ändernden Welt die beste Regierungschefin zu sein.

Aber gleichzeitig wächst - nicht nur bei Martin Schulz - der Wunsch nach einer Politikerin, mit der man sich inhaltlich auseinandersetzen kann. Die auf einem Fundament von Überzeugungen und Werten handelt, und mit Leidenschaft und Argumenten erklärt, wenn sie ihre Position ändert.

Vielleicht verdient sogar ein Konservativer, der aus tiefer, religiöser Überzeugung gegen die Gleichstellung von Lesben, Schwulen und Transsexuellen kämpft und sich plötzlich im Jahr 2017 in der Position einer kleinen Minderheit wiederfindet, mehr Respekt als eine Parteichefin, die sich nur durchringen kann, von einem "Besser eher nicht" auf ein "Aber kann eventuell auch nicht schaden" umzuschalten. Pragmatismus ist eine Tugend in der Politik, aber Beliebigkeit verdient keinen Respekt.

Vielleicht war Merkels halbherziges Zur-Seite-Treten im entscheidenden Moment dann doch kein Geniestreich, sondern eine Selbstentlarvung.

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