
Kanzlerin in der Corona-Pandemie Wo bleibt das Merkel-Momentum?


Kanzlerin Merkel, Journalisten Ludowig, Blome
Foto: Sandra Steins / dpaIn diesen Tagen werden wir Zeugen einer seltenen politischen Erscheinung: Die Kanzlerin funkt auf allen Kanälen. Sie erklärt und erklärt und erklärt ihre Corona-Politik. Ob, wie neulich, vor den Hauptstadtjournalisten, in dieser Woche im ARD-Interview oder im Videochat mit Eltern sowie einem Gespräch mit RTL/n-tv an diesem Donnerstag.
Es gibt gerade kein Entkommen vor dieser Krisenkanzlerin. Das ist natürlich gut, wenn Regierende ihr Handeln erklären, um die Leute mitzunehmen – wie man so schön sagt. Das ist etwas, das Angela Merkel in den letzten 16 Jahren viel zu selten gemacht hat.
Nur fehlen Merkels aktueller Erkläroffensive entscheidende Zutaten: das Aktivierende und Motivierende, der Wille zum Aufbruch, ja vielleicht, die Kampfansage an dieses Virus. Die Kanzlerin entwickelt in all ihren Auftritten nicht die aufrüttelnde Botschaft, kein Momentum, das uns nach vorn trägt. Da ist nur das Mantra des Durchhaltens, gepaart leider mit mangelnder Bereitschaft zur Selbstkritik.
Im Gespräch mit den RTL-Journalisten Nikolaus Blome und Frauke Ludowig betont sie nun trotz des offensichtlichen Impfdebakels, in das sich die viertgrößte Volkswirtschaft dieser Erde hineinmanövriert hat, die Geschwindigkeit bei der Entwicklung von Impfstoffen gegen Corona: »Ich finde das ist schon ziemlich schnell gegangen.«
Nun ist das tatsächlich so. Das bestreitet auch niemand. Die Wissenschaft hat, unter tätiger finanzieller Mithilfe des Staates übrigens, geliefert. Aber EU-Kommission und Bundesregierung haben nicht die logischen Konsequenzen aus dieser wissenschaftlichen Paradeleistung gezogen: so viel und so früh zu bestellen, wie nur irgend möglich.
Stattdessen haben wir einen guten Preis rausgehandelt. Glückwunsch.
Und jetzt fehlt uns der Stoff. Pech.
»Im Großen und Ganzen« sei nichts schiefgelaufen, sagte Angela Merkel im ARD-Interview. Doch, es ist sehr viel schiefgelaufen. Nicht mal ein Prozent der Bevölkerung hat Stand heute beide Impfspritzen gesetzt bekommen.
Den Eltern und Alleinerziehenden, die der Kanzlerin am Donnerstagnachmittag im Videochat von Sorgen und Nöten berichtet haben, hörte sie aufmerksam zu, zeigte Emotionen. Und sie sagte: »Denken Sie einfach dran, mit jedem Tag, wo die Sonne wieder ein bisschen höher kommt, ist die Chance, dass wir das auch hinter uns lassen, sehr viel besser.«
Ja, auch das stimmt. Und es ist gut gemeint, es ist mitfühlend. Aber es ist doch gleichzeitig ein Beleg der Schwäche, dass wir zum Jahrestag dieser Pandemie in einem seit drei Monaten andauernden Dämmershutdown festsitzen und jetzt auf die Zunahme der täglichen Anzahl von Sonnenstunden hoffen.
Uns allen geht so langsam die Puste aus, wir werden mürbe. Den Kindern, den Schülern, den Eltern, den Selbstständigen, den Kulturschaffenden, den kleineren und größeren Unternehmen, den Alleinstehenden, den Älteren. Dass auch der Kanzlerin auf dieser Strecke rhetorisch und politisch die Puste auszugehen scheint, macht sie authentisch, zeigt sie von der menschlichen Seite. Aber es ist ein Problem. Weil sie eben die Kanzlerin ist.
Im letzten Frühjahr traf Angela Merkel mit ihrer TV-Ansprache – es war ihre erste überhaupt – den richtigen Ton, rund 25 Millionen schauten ihr dabei zu: »Es ist ernst, nehmen Sie es auch ernst.«
Merken Sie was? Sie erinnern sich möglicherweise daran. Das spricht für die Wirkung des Auftritts.
Unsere gegenwärtige Lage aber ist weitaus dramatischer als jene im letzten Frühjahr: Das Impfdebakel wirft uns im Kampf mit dem Virus zurück; trotz Shutdowns sinken die Inzidenzzahlen nicht schnell genug; die Mutationen breiten sich aus, werden womöglich schon bald die Szenerie bestimmen.
Und was machen wir dann?
Diese Frage könnte zu spät kommen. Stattdessen sollte Angela Merkel jetzt die genannten drei Probleme klar benennen und die Konsequenzen daraus ziehen. Die Zahlen müssen stärker runter, solange uns die Mutante dafür noch Zeit lässt.
Es kommt dabei nicht nur auf die faktischen Shutdown-Maßnahmen an, sondern auch auf das zum Beispiel von einer Kanzlerin erzeugte Gemeinschaftsgefühl: Es ist ernst, nehmen wir es auch ernst! Es braucht eine Zäsur und ein klar markiertes Ziel – etwa eine Inzidenz von 25 oder besser unter 10 wie im letzten Jahr. Statt dieses Durchalte-Durchwurschtelns, bis irgendwann genug Impfstoff da ist. Warum nicht eine No-Covid-Strategie proklamieren, die ohne eine komplette Stilllegung des Landes auskommt und die vor allem endlich eine echte Perspektive auf Lockerung bietet?
Merkel hat im RTL-Interview erkennbar gemacht, dass auch sie sich mehr Anstrengungen wünscht, dass sie die Inzidenz (deutlich) unter 50 drücken will. Sie hat auch in der Vergangenheit nach mancher Runde mit den Ministerpräsidenten zu Protokoll gegeben, dass sie sich mehr erhofft hätte, dass es der Runde an Konsequenz gefehlt habe.
Das reicht vielleicht in der Retrospektive für einen ordentlichen Aufschlag in den Geschichtsbüchern, à la: Sie hat immer gewarnt, aber die anderen wollten einfach nicht.
Es reicht aber nicht für das Jetzt.
In den kommenden Tagen bis zur Ministerpräsidentenkonferenz am Mittwoch werden die Mitglieder des Lockerungsklubs mobilisieren. Es wird heißen: Die Zahlen sinken, wir sind regional schon unter Inzidenz 50, lasst uns aufmachen. Wenn es so kommt, werden wir vielleicht mit einer dritten Welle und einem neuerlichen, gravierenderen Dauershutdown bezahlen müssen. Kinder, Eltern, Selbstständige, all die eben schon Genannten, werden die Kosten dafür tragen müssen.
Wenn also Angela Merkel davon überzeugt ist, dass die Inzidenzen deutlicher und schneller nach unten gedrückt werden müssen, bevor gelockert werden kann, dann muss sie dafür kämpfen. Dann muss sie alle ihr verbliebenen Machtressourcen als Kanzlerin dafür einsetzen. Nachher zu sagen, das reiche einem eigentlich nicht, zählt dann nicht.
Wird sie das diesmal durchkämpfen?
Noch ein letztes Beispiel: Im RTL-Interview spricht Merkel über die alten Menschen, die so dringend auf die Impfung warten. Man müsse bis dahin unbedingt alle Schutzregeln einhalten, gerade in den Pflegeheimen: »Wir müssen jetzt ganz, ganz vorsichtig sein, damit auf den letzten Metern nicht so viele Menschen noch sterben.«
Was ist an den Sätzen falsch? Nichts.
Was fehlt? Der Blick nach vorn, den Merkel unterlässt. Es fehlt das besagte Momentum.
Denn sobald die Alten und Älteren in diesem Land geimpft sind, wird die Lockerungsdebatte hochdrehen, garantiert. Die Alten sind geschützt, wird es dann heißen, was hält uns noch?
Diese Einstellung, gepaart mit einer hohen, durch die Mutanten getriebenen Inzidenz wird die Intensivstationen dieses Landes erneut füllen. Dann werden die 40- bis 65-Jährigen dran sein.