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Bilanz der Flüchtlingspolitik Was haben wir schon geschafft?

Vor einem Jahr gab Angela Merkel in der Flüchtlingskrise ihre umstrittene Losung aus: "Wir schaffen das." Hat die Kanzlerin recht behalten? Die Bilanz.

Drei Worte spalten Deutschland. "Wir schaffen das." Genau ein Jahr ist es her, dass Angela Merkel ihr Motto zur Bewältigung der Flüchtlingskrise vorgab. Auch wenn viele ihrer Kritiker ihren "Satz des Anpackens", wie sie ihn jetzt im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" nennt, nicht mehr hören können - die Kanzlerin bleibt dabei.

Deutschland habe schon viel erreicht, sagt Merkel heute, aber es sei auch noch viel zu tun. Wo also stehen wir? Was haben wir geschafft? Und was nicht?

Flüchtlingszahlen

Mehr als eine Million Menschen kamen im vergangenen Jahr nach Deutschland - aus Syrien, dem Irak, aus Afghanistan, Nordafrika, vom Balkan. Auch die Kanzlerin, die sich so vehement gegen die von der CSU geforderte Obergrenze wehrte, versprach schon bald, die Flüchtlingszahlen "spürbar" zu reduzieren.

Das ist gelungen, auch wenn es nicht Merkels Verdienst ist. Im ersten Halbjahr dieses Jahres wurden rund 220.000 Migranten neu registriert. Die Zahlen sind Monat für Monat gesunken, im Januar waren es im bundesweiten Erfassungssystem Easy noch rund 92.000, zuletzt im Juli etwa 16.000.

Die Gründe: Die südosteuropäischen Staaten haben nach Monaten des Chaos die Balkanroute abgeriegelt - in Eigenregie. Zudem hält die Türkei im Rahmen eines moralisch zweifelhaften Deals Flüchtlinge von der Weiterreise nach Europa ab.

Ob dieser Pakt hält, ist nach dem Putschversuch in der Türkei ungewisser denn je. Dazu herrscht weiterhin der Krieg in Syrien, der Migrationsdruck bleibt also hoch. Die Flüchtlinge suchen nach alternativen Routen.

Asylverfahren

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) wurde in der Flüchtlingskrise zum Inbegriff des Behördenversagens. Inzwischen ist man "deutlich leistungsfähiger" geworden, wie Chef Frank-Jürgen Weise sagt. Hatte das Amt Anfang 2015 noch 2300 Mitarbeiter sind es nun 8000, Dutzende neue Standorte wurden eröffnet.

In den ersten sieben Monaten dieses Jahres traf das Bamf mehr als 330.000 Asylentscheidungen. Das ist eine Steigerung um 146 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.

Doch wahr ist auch: Der Berg nicht entschiedener Anträge ist auf mehr als eine halbe Million angewachsen. Es wird entgegen ursprünglicher Pläne nicht bis zum Jahresende gelingen, diesen abzubauen. Grund sollen die zahlreichen komplizierten Altfälle sein, die auch die durchschnittliche Verfahrensdauer weiter nach oben treiben - auf über sechs Monate. Neufälle dagegen würden laut Weise möglichst binnen 48 Stunden entschieden.

Immerhin: Bis Ende September, so Weises Plan, sollen alle Flüchtlinge im Land überhaupt einen Asylantrag gestellt haben können.

Unterbringung

Das Chaos gehört der Vergangenheit an. Deutschland hat rund eine Million Flüchtlinge untergebracht. Bundesweit gibt es Tausende freie Plätze in Notunterkünften, ein Großteil der zwischenzeitlich etwa 1000 umfunktionierten Turnhallen wurde wieder freigeben. Die Flüchtlinge konnten in sogenannte Regelunterkünfte umziehen. Allerdings sind auch die oft nur ein Provisorium, zum Beispiel Container.

In kleineren Städten klappt die Unterbringung besser als in den Metropolregionen. In Nordrhein-Westfalen etwa, so berichtete es jüngst der WDR, würden noch immer 9000 Menschen in Notunterkünften wohnen, obwohl in normalen Unterkünften fast 14.000 Plätze frei seien.

Containerunterkünfte für Flüchtlinge in Berlin (im April 2016)

Containerunterkünfte für Flüchtlinge in Berlin (im April 2016)

Foto: Sean Gallup/ Getty Images

In Berlin sind weiterhin Dutzende Turnhallen blockiert, hier leben laut Behörden noch mehr als 5000 Menschen. Dabei hatte die Senatsverwaltung versprochen, dass die Hallen bis zum Beginn des neuen Schuljahres wieder frei sind. Das wird nun noch Monate dauern. Insgesamt leben in der Hauptstadt noch 23.600 Flüchtlinge in Notunterkünften, etwa in den Hangars des alten Flughafens Tempelhof. Für sie sollen 60 neue Gemeinschaftsunterkünfte entstehen.

Bundesbauministerin Barbara Hendricks (SPD) hat die Mittel für den sozialen Wohnungsbau auf 1,5 Milliarden Euro im Jahr 2018 verdreifacht. Die SPD-Politikerin hat auch eine Grundgesetzänderung ins Spiel gebracht, weil der Bund die Länder nach derzeitiger Rechtslage nur bis 2019 beim sozialen Wohnungsbau unterstützen darf.

Integration

Hunderttausende neue Mitbürger zu integrieren, das ist die eigentliche Bewährungsprobe. Doch schon beim ersten Schritt hapert es nach wie vor - bei den Sprach- und Integrationskursen. Im April schätzte Bamf-Chef Weise, dass in diesem Jahr rund 200.000 Kursplätze fehlen würden.

Die Bundesregierung hat angekündigt, das Angebot massiv auszuweiten, doch vielerorts mangelt es noch immer an Lehrern - auch weil der Job bislang mäßig bezahlt wurde. Zum 1. Juli wurden die Mindesthonorare für Lehrkräfte daher deutlich angehoben. Doch die Aufgabe bleibt gewaltig: Für 2016 rechnet das Bamf mit rund einer halben Million Kursteilnehmern.

Zugang zu den Kursen haben nur Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive. Fast 80.000 Afghanen etwa, die 2016 bis Ende Juli einen Antrag auf Asyl gestellt haben, sind pauschal von einem Integrationskurs des Bundes ausgeschlossen.

Eine weitere Herausforderung: die Flüchtlingskinder. Laut Kultusministerkonferenz wurden in den Jahren 2014 und 2015 bereits 325.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche ins deutsche Schulsystem integriert, ihr Anteil an der Gesamtschülerschaft beträgt bundesweit im Schnitt zwei Prozent. Für sie braucht es zusätzliche Lehrer und Sozialpädagogen, die auch mit traumatisierten Kindern umzugehen wissen.

Eine SPIEGEL-ONLINE-Umfrage in den Bundesländern ergab im Frühjahr, dass bereits 12.000 neue Lehrkräfte eingestellt wurden. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft schätzte den Bedarf jedoch auf mehr als 20.000. Dass manche Kultusministerien schon Ruheständler angeschrieben haben, zeigt aber, dass die Bewerber nicht gerade Schlange stehen.

Die Kultusministerkonferenz geht in ihrem aktuellen Bildungsbericht  zudem davon aus, dass allein für die 2015 nach Deutschland gekommenen Kinder zusätzlich bis zu 58.000 Kitaplätze benötigt werden. Um die Betreuung sicherzustellen, würden bis zu 9400 zusätzliche Fachkräfte gebraucht.

Arbeitsmarkt

In der Integrations-Initiative "Wir zusammen"  engagieren sich seit einigen Monaten mehr als 100 Unternehmen. Die Zwischenbilanz: Bisher wurden 1800 Praktikumsplätze, mehr als 500 Ausbildungsstellen und über 400 feste Arbeitsplätze mit Flüchtlingen besetzt. Zu wenig, findet auch die Kanzlerin, die die Chefs der großen, deutschen Konzerne für September zum Flüchtlingsgipfel geladen hat.

Bisher konnten sich kaum Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen. Im Juli wurden laut Arbeitsagentur  322.000 geflüchtete Menschen als arbeitsuchend betreut, jene also, deren Asylantrag schon bewilligt ist. Vor der Bewilligung ist der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt. Von den 322.000 Betreuten waren 141.000 arbeitslos. Viele können kaum Deutsch oder haben keine ausreichende Schulbildung. Allerdings ist der größte Teil noch jung - die Hoffnung ist, die Migranten über Ausbildungsangebote in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Kriminalität

Die Silvester-Übergriffe von Köln haben die Menschen aufgeschreckt. Hat sich Deutschland mit den Flüchtlingen ein Kriminalitätsproblem ins Land geholt? Natürlich gilt die statistische Wahrscheinlichkeit auch für Flüchtlinge: Unter einer Million Menschen finden sich nun mal einige, die sich nicht an Gesetze halten.

Die Statistik, so wie sie von den Behörden erhoben wird, sagt aber auch: Es sind nicht mehr als in der einheimischen Bevölkerung. Die Zahl der Straftaten stieg 2015 laut Polizeilicher Kriminalstatistik im Vergleich zum Vorjahr um knapp vier Prozent. Grund dafür sind vor allem zunehmende Asyl- und Aufenthaltsdelikte. Rechnet man diese heraus, blieb die Zahl der Straftaten sogar nahezu konstant - obwohl Hunderttausende Menschen mehr im Land waren.

Köln hat auch eine Debatte darüber ausgelöst, wann die Herkunft eines Täters im Zusammenhang mit der Straftat genannt werden sollte. Tatsächlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass eine bestimmte Gruppe Zuwanderer besonders häufig auffällig wird. So werden laut Bundeskriminalamt (BKA) Migranten aus Algerien, Marokko und Tunesien deutlich häufiger einer Straftat verdächtigt als Menschen aus anderen Ländern.

An einer Stelle hat die Flüchtlingskrise für einen Anstieg in der Kriminalstatistik gesorgt. Die Migranten sind hier allerdings nicht die Täter, sondern Opfer. So zählte das BKA in diesem Jahr bislang 665 Übergriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte. 2015 waren es insgesamt 1031, fünfmal mehr als im Vorjahr.

Die Anschläge von Würzburg und Ansbach haben auch ein Schlaglicht auf den möglichen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Terrorgefahr geworfen. Beide Täter kamen als Flüchtlinge ins Land, wenn auch vor der großen Migrationsbewegung im vergangenen Jahr. Beide sind den Sicherheitsbehörden vorher nicht aufgefallen.

Diese gehen immer wieder Hinweisen auf angebliche islamistische Umtriebe von Flüchtlingen nach, zuletzt war von mehr als 400 die Rede, auf konkrete Anschlagsplanungen stießen Ermittler bisher nicht. Sorgen bereitet dem Verfassungsschutz, dass radikale Gruppierungen versuchen, in Flüchtlingsunterkünften Nachwuchs anzuwerben.

Abschiebungen

Ein leidiges Thema der Politik. Die "beschleunigte Rückführung abgelehnter Asylbewerber" gehört zu jedem Aktionsplan. Die Zahl der Abschiebungen ist tatsächlich deutlich gestiegen. Effizient scheint das System aber immer noch nicht zu sein.

Laut Ausländerzentralregister halten sich in Deutschland mehr als 220.000 Menschen auf, die eigentlich zur Ausreise verpflichtet wären. Allein 172.000 werden aber offiziell geduldet, zum Beispiel weil in der Heimat Krieg herrscht.

Andere Gründe, die eine Abschiebung verhindern:

  • Der abgelehnte Asylbewerber hat keine Papiere, weswegen sein mutmaßliches Heimatland ihn nicht aufnehmen will. Dies wird oft gezielt als Strategie eingesetzt, mehrere Zehntausend Menschen versuchen so, ihrer Abschiebung zu entgehen. Die Bundesregierung drängt inzwischen in zahlreichen Staaten darauf, bei der Wiederaufnahme ihrer Bürger besser zu kooperieren.
  • Die Ausreisepflichtigen sind wegen Krankheit reiseunfähig. Diskutiert wird, dass künftig nur noch Amtsärzte entsprechende Atteste ausstellen dürfen.
  • Der Abzuschiebende taucht unter. Um das zu erschweren, werden Abschiebungen nicht mehr angekündigt.

Politik und Gesellschaft

Die Europäische Union driftet auseinander, CDU und CSU haben sich zerstritten, die AfD feiert Wahlerfolge, bei der anstehenden Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern könnten die Rechtspopulisten sogar die Christdemokraten überholen.

Die Flüchtlingskrise schüttelt die Politik durch - und sie polarisiert die Gesellschaft. Tausende Deutsche engagieren sich in der Flüchtlingshilfe, springen dort ein, wo die Behörden zu träge oder überlastet sind.

Auf der anderen Seite befürchten viele, dass die Flüchtlinge das Land verändern, ausländerfeindliche Ressentiments brechen sich Bahn, Menschen gehen gegen die angebliche Islamisierung Deutschlands auf die Straße, Bürger versuchen, Flüchtlingsunterkünfte zu verhindern, Politiker werden als "Volksverräter" beschimpft.

"Deutschland wird Deutschland bleiben", hält Kanzlerin Merkel diesen selbst ernannten besorgten Bürgern entgegen, "mit allem, was uns lieb und teuer ist." Doch ob und wann die Risse wieder gekittet werden können, ist völlig ungewiss.

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