Grünen-Kanzlerkandidatin Das große Brüsseler Baerbock-Rätsel

Will Kanzlerin werden: Annalena Baerbock
Foto:Kay Nietfeld / dpa
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Seit einer guten halben Stunde herrscht gepflegte Langeweile bei der Pressekonferenz von Christine Lagarde. Die Chefin der Europäischen Zentralbank hat kaum Neues zu erzählen, weder bei den Corona-Wertpapierkäufen noch beim Leitzins.
Dann aber kommt die K-Frage.
Was sie eigentlich darüber denke, dass die deutschen Grünen gerade eine 40-jährige ehemalige Trampolinspringerin ohne jede Regierungserfahrung zur Kanzlerkandidatin gemacht hätten, will ein französischer Journalist wissen. Und was Lagarde davon halte, dass diese Annalena Baerbock womöglich bald die größte Wirtschaft der EU anführt.
Lagarde könnte jetzt tun, was ranghohe EU-Vertreter praktisch immer tun, wenn sie auf künftige Wahlergebnisse in Mitgliedsländern angesprochen werden: freundlich sagen, dass man nichts sagt.
Doch Lagarde wirkt plötzlich hellwach.
Leistungssport, egal ob Synchronschwimmen oder Trampolinspringen, könnten »Wettbewerbsgeist, ein dickes Fell und den Wunsch nach Spitzenleistungen« verleihen, schwärmt die Französin. »Und das scheint bei Frau Baerbock eindeutig der Fall zu sein.« Außerdem müsse man keine grauen oder weißen Haare haben, um in die Politik zu gehen, bemerkt die 65-Jährige und zeigt auf ihren silbernen Schopf. Zudem seien Baerbock Klima- und Umweltschutz wichtig, genau wie ihr selbst.
Das überraschende Lob der EZB-Chefin ist in Brüssel jedoch derzeit die Ausnahme. Seit die Grünen Baerbock zur Kanzlerkandidatin gemacht haben und die Unionsparteien mit ihrem Kandidaten Armin Laschet in Umfragen bedrängen, dämmert es vielen in der EU-Zentrale zum ersten Mal, dass die Grünen tatsächlich die Führung in Berlin übernehmen könnten.
Das sorgt für teils erhebliche Verunsicherung – auch weil Baerbock seit ihrer Nominierung bestenfalls nebulös angedeutet hat, was sie mit Deutschland und Europa vorhat.
»Erheblicher Bruch mit der aktuellen Bundesregierung«
In Brüssel halten es viele Beobachter zumindest für ausgemacht, dass es tief greifende Veränderungen gäbe. »Inhaltlich wäre eine grüne Kanzlerschaft ein erheblicher Bruch mit der aktuellen Bundesregierung«, sagt etwa Guntram Wolff, Direktor des einflussreichen Brüsseler Thinktanks Bruegel. Für Nicolai von Ondarza, Europapolitikexperte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), wäre es gar eine »kleine Revolution«, wenn die Grünen nicht nur erstmals ein EU-Land führen würden, sondern gleich das mit den meisten Einwohnern und der größten Wirtschaft.
Zudem stünden auf einer ganzen Reihe von Feldern Kurswechsel an, sollte Baerbock ihre eigenen Ankündigungen oder das Wahlprogramm der Grünen ernst nehmen.
Da wäre etwa die Klimapolitik. Erst diese Woche hat die EU nach monatelangen Verhandlungen beschlossen, ihre Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Den Grünen ist das nicht genug: Auf EU-Ebene haben sie zuletzt 60 Prozent gefordert, für Deutschland sollen es gar 70 Prozent sein. Das würde wahrscheinlich nicht nur zu heftigem Ärger mit der deutschen Industrie, sondern auch mit östlichen EU-Ländern wie Polen führen, die noch stark vom Kohlestrom abhängen.
Überhaupt, der Osten. »Die Positionen der Grünen in Sachen Migration, Rechtsstaatlichkeit und LGBTQ-Rechten bergen erheblichen Konfliktstoff mit den Partnern in Mittel- und Osteuropa«, sagt SWP-Mann Ondarza. Ein EU-Diplomat drückt es so aus: »Da werden vor der Bundestagswahl manche die Luft anhalten.«
In der Energiepolitik wiederum dürfte Baerbock mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron aneinandergeraten, der die Atomenergie weiter intensiv nutzen und auf EU-Ebene sogar zur Ökoenergiequelle erklären lassen will. Die Grünen wollen dagegen auch in der EU »den Einstieg in den Ausstieg vorantreiben«. »Das wird ein richtiger Konflikt«, sagt Bruegel-Direktor Wolff, zumal Baerbock unter Druck ihrer Atomkraft-feindlichen Parteibasis geraten dürfte.
Auch in Verteidigung und Sicherheit könnten sich die Reibereien zwischen Paris und Berlin unter einer Kanzlerin Baerbock verschärfen. Zwar hat Baerbock im Dezember angekündigt, mit Macron über »robuste europäische Militäreinsätze« sprechen zu wollen, zugleich aber eingeräumt: »Einfach wird das nicht.« Dass die Grünen und Baerbock den Abzug aller US-Atomwaffen aus Europa und den Beitritt Deutschlands zum globalen Atomwaffenverbotsvertrag fordern, dürfte wiederum den Argwohn der Balten und Osteuropäer herausfordern, die sich von Russland bedroht fühlen. Mit einer solchen Position läge Baerbock auch mit der ebenfalls in Brüssel beheimateten Nato über Kreuz.
In der Finanzpolitik dagegen dürfte man sich zumindest in Paris auf eine Grünen-Kanzlerin freuen. »Bei der Entwicklung der Eurozone stünde sie den Ideen von Macron, etwa zur Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, deutlich näher als Merkel«, sagt Ondarza. In ihrem Wahlprogramm fordern die Grünen eigene Steuern für die EU und eine Reform der Schuldenregeln, um »zu hohen Spardruck« zu verhindern und höhere Zukunftsinvestitionen in den EU-Staaten zu erlauben. In den Ohren Macrons und anderer südeuropäischer Regierungschefs dürfte das Musik sein, in denen der Niederländer, Skandinavier und deutschen Freunde der »schwarzen Null« eher Teufelszeug.
Die vielleicht größten Konflikte drohen im Bereich der Handelspolitik, in der die EU – anders als auf den meisten anderen wichtigen Politikfeldern – die alleinige Kompetenz hat. Das von der Kommission bereits fertig ausgehandelte, aber noch nicht ratifizierte Freihandelsabkommen mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten lehnen die Grünen als »umweltschädlich« ab. Selbst am Ceta-Abkommen mit Kanada, das in Teilen bereits vorläufig in Kraft ist, melden sie »erhebliche Kritik« an und wollen es in der derzeitigen Fassung nicht ratifizieren. »Das ergibt keine hinreichende Stabilität für eine gemeinsame Handelspolitik«, kritisiert Bernd Lange (SPD), Chef des mächtigen Handelsausschusses des EU-Parlaments. Zwar gäbe es auch in anderen EU-Ländern protektionistische Tendenzen. »Aber würde Deutschland eine solche Position einnehmen, stünde die strategische Ausrichtung der EU zur Debatte«, warnt Lange. Ähnlich sieht es Ondarza: »Ein Deutschland unter grüner Führung würde in der EU das Gewicht deutlich zugunsten der Kritiker von Freihandelsverträgen verschieben.«
Probleme sieht Lange auch im Verhältnis mit den USA und China aufziehen. So wollen die Grünen den sogenannten CO₂-Grenzausgleich. Die Abgabe auf klimaschädliche Importe soll EU-Unternehmen vor Nachteilen im Wettbewerb mit Konkurrenten schützen, die nicht den strengen Klimaschutz-Vorgaben der EU unterliegen. Das könnte nicht nur Konflikte mit China und den USA, sondern auch mit der Welthandelsorganisation auslösen. Die Grünen aber rechnen in ihrem Wahlprogramm bereits mit Einnahmen aus der Abgabe, um damit Zukunftsinvestitionen der EU zu finanzieren.
Baerbock ohne Brüsseler Machtbasis
Allerdings müsste Baerbock das nicht nur gegenüber ihrem Koalitionspartner oder ihren -partnerinnen durchsetzen. Auch in Brüssel hätte sie zumindest anfangs einen schweren Stand, schon weil sie eine Grüne ist.
Unter den 27 EU-Kommissarinnen und Kommissaren befindet sich keine Grüne und kein Grüner, das Gleiche gilt für den Rat der Staats- und Regierungschefs. Wenn deren liberale, sozialdemokratische und konservative Mitglieder sich vor EU-Gipfeln zwecks Koordinierung treffen, wäre Baerbock außen vor.
Das unterscheidet sie von Angela Merkel, die dank der Europäischen Volkspartei »früh in die EU-Machtnetzwerke integriert war«, sagt SWP-Experte Ondarza. »Merkel hat schon 2004, noch bevor sie Kanzlerin wurde, über die EVP José Manuel Barroso als Kommissionschef durchgesetzt.« Zudem war Merkel von 1991 bis 1998 als Frauen- und danach als Umweltministerin regelmäßig in Brüssel zu Gast.
Baerbock dagegen ist im Brüsseler Apparat ein weitgehend unbeschriebenes Blatt.
Dennoch wirkt das für manche fast wie ein Luxusproblem angesichts der Tatsache, dass Populisten eben erst Großbritannien aus der EU geführt, in Frankreich fast die Macht übernommen hätten und in Polen, Ungarn oder Slowenien schon an der Macht sind.
Mit Baerbock, Laschet und SPD-Finanzminister Olaf Scholz, so drückt es ein Brüsseler Beamter aus, seien immerhin nur ausgewiesene Proeuropäer deutsche Kanzlerkandidaten.