Rechtslücke Anschlagsopfer erhalten laut Gesetz keine Entschädigung

Polizeifahrzeuge in der Nähe des Berliner Breitscheidplatzes
Foto: Hannibal Hanschke/ REUTERSBislang hat der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin zwölf Todesopfer gefordert. Von 48 Verletzten sind 14 weiterhin schwer verletzt, zum Teil befinden sie sich in sehr kritischem Zustand.
Noch dürfte es für Überlebende und die Angehörigen der Toten kein Thema sein, aber irgendwann mit Abstand zum furchtbaren Ereignis wird sich die Frage stellen, ob es Entschädigungszahlungen gibt. Hier könnte sich für die Betroffenen eine absurde Situation ergeben: Nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfern (OEG) gibt es ausdrücklich keine Zahlungen, wenn die Tat durch einen Lastkraftwagen verübt wurde.
In Paragraf 1, Absatz 11 heißt es nämlich: "Dieses Gesetz ist nicht anzuwenden auf Schäden aus einem tätlichen Angriff, die von dem Angreifer durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeuges oder eines Anhängers verursacht worden sind."
Ein Zustand, den Roland Weber, Opferbeauftragter des Landes Berlin, gegenüber der "Berliner Morgenpost" scharf kritisierte. Er sprach von einer "fatalen Lücke" und einem Unding, "dass ausgerechnet den Opfern und Angehörigen der Opfer dieses terroristischen Anschlags nach dem OEG nicht in der gebotenen Weise geholfen werden kann".
Ausnahme für den polnischen Lkw-Fahrer
Eine Ausnahme nach dem OEG sieht der Opferbeauftragte: Gemeint ist der polnische Lastkraftwagenfahrer, der mutmaßlich von dem verdächtigen Täter, dem 24-Jährigen Tunesier Anis Amri, getötet wurde. Der Fahrer, der 37-jährige Lukasz U., sei erschossen worden und falle demnach unter die Bestimmungen des Gesetzes. Seine Angehörigen könnten also eine Entschädigung bekommen. U. ist verheiratet und Vater eines 17-jährigen Sohnes. "Das zeigt sehr deutlich, wie absurd dieses Gesetz an diesem Punkt ist", so Weber zur "Berliner Morgenpost".
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Das OEG, das seit 1976 in Kraft ist und im Sommer 2011 novelliert wurde, regelt über die Maßnahmen der Heilbehandlung und der medizinischen Rehabilitation einschließlich psychotherapeutischer Angebote auch Einmalzahlungen für Geschädigte. So heißt es im Gesetz: Bei Verlust mehrerer Gliedmaßen, bei Verlust von Gliedmaßen in Kombination mit einer Schädigung von Sinnesorganen oder in Kombination mit einer Hirnschädigung, bei schweren Verbrennungen oder bei vollständiger Gebrauchsunfähigkeit von mehr als zwei Gliedmaßen beträgt die Einmalzahlung 25.632 Euro. Ebenso finden sich im Gesetz Entschädigungsregelungen für Taten, die im Ausland begangen wurden, etwa für Vollwaisen und Halbwaisen. Ein Schmerzensgeld allerdings wird nicht gezahlt.
Weber setzt sich seit Jahren für eine Reform des OEG ein. Auch in Fällen von psychisch traumatisierten Menschen, die Opfer eines Wohnungseinbruchs oder von Stalkern geworden sind, gilt das Gesetz bislang nicht. Dabei gebe es, so Weber, doch längst gesicherte Tatsachen, dass es sich auch bei diesen Menschen um Opfer handele, die dringend Hilfe bräuchten.
Der Opferbeauftragte des Landes Berlin hofft nach dem Terroranschlag auf eine Debatte, an deren Ende eine gründliche Überarbeitung des OEG durch den Bundestag steht.
Verkehrsopferhilfe und Bundesamt für Justiz als Ansprechpartner
Mögliche Hilfen können die Opfer von zwei anderen Stellen erhalten: Beim Verein Verkehrsopferhilfe, der eine Einrichtung der Autohaftpflichtversicherer ist. Der Verein unterstützt Menschen, bei denen ein Kraftfahrzeug vorsätzlich als Waffe eingesetzt wurde. Doch sind laut Weber die Möglichkeiten allerdings begrenzter als beim OEG, auch seien die Summen geringer, die zur Auszahlung anstehen können. Auch das Bundesamt für Justiz in Bonn wäre für die Opfer eine Anlaufstelle, hier können Opfer terroristischer Anschläge Härteleistungen erhalten. Allerdings gibt es hier keinen Rechtsanspruch wie beim Opferentschädigungsgesetz.
Wie es mit dem Opferentschädigungsgesetz - und der Rechtslücke zu tätlichen Angriffen mit Kraftfahrzeugen oder eines Anhängers - nach dem Anschlag von Berlin weitergeht, ist bislang offen. Auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE erklärte das Bundesjustizministerium am Freitag, in Sachen Opferschutzgesetz sei nicht Justizminister Heiko Maas (SPD), sondern das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) "federführend" zuständig. Ministerin ist dort Andrea Nahles, ebenfalls SPD.
Stellungnahme des Arbeitsministeriums
Am Freitag erklärte nach einer Anfrage von SPIEGEL ONLINE dann das BMAS, man "bereite" bereits seit längerem eine Novellierung des Sozialen Entschädigungsrechts vor, zu dem auch das OEG gehöre. "Ein entsprechender Arbeitsentwurf soll Anfang Januar an Ressorts, Verbände und Länder versandt werden, um die bereits begonnene Diskussion fortzuführen", so eine Ministeriumssprecherin in einer schriftlichen Antwort. Dazu habe es zuletzt Gespräche des BMAS mit den Ländern auf der Arbeits- und Sozialministerkonferenz in Kiel geben: "Ziel ist es, alle Regelungen der Sozialen Entschädigung übersichtlich und transparent in einem neuen Buch des Sozialgesetzbuchs zusammen zu führen." In diesem Zusammenhang sei auch die Einbeziehung der sogenannten psychischen Gewalt in den Entschädigungstatbestand beabsichtigt. "Zugunsten der Betroffenen werden Schnelle Hilfen - zum Beispiel Traumambulanzen, Fallmanagement - verpflichtend eingeführt, die in einem erleichterten Verfahren zügig und unbürokratisch zur Verfügung gestellt werden und Teilhabe so schnell wie möglich (wieder) ermöglichen sollen", so die Sprecherin.
Eine abgrenzende Regelung sei zunächst nicht ungewöhnlich, beschrieb das Ministerium die bisherige Regelungspraxis. Dadurch werde verhindert, dass Ansprüche nach verschiedenen Gesetzen kollidierten. "So bekommen zum Beispiel Angestellte von Banken und Sparkassen, die überfallen werden und dabei Gesundheitsschäden erleiden, Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, während die Ansprüche nach dem OEG ruhen", so die Sprecherin.
Zugleich wies auch das BMAS auf den "Entschädigungsfonds für Schäden aus Kraftfahrzeugunfällen" des Vereins für Verkehrsopferhilfe (konkrete Hilfe hier) und auf den Härtefonds für Opfer terroristischer Straftaten hin, der vom Bundesamt für Justiz (konkrete Hilfe hier) in Bonn verwaltet wird. Zudem habe das Land Berlin den Verletzten und Angehörigen der Opfer seine Trauma-Ambulanzen zur Verfügung gestellt, dies sei eine Einrichtung der Opferentschädigung nach dem OEG. "Hier bekommen die Betroffenen schnell psychologische Beratung und Betreuung", heißt es in der Mail aus dem BMAS.