Sicherheitsdebatte nach dem Anschlag Alte Debatte über neue Regeln

Der Anschlag von Berlin wirft viele Fragen auf. In der Politik wird über schärfere Sicherheitsmaßnahmen diskutiert: Diese Vorschläge stehen zur Debatte - von Fußfesseln über "spezielle Erstaufnahmeeinrichtungen" bis Videoüberwachung.
SEK-Beamter vor einem Haus in Berlin-Moabit

SEK-Beamter vor einem Haus in Berlin-Moabit

Foto: Lukas Schulze/ dpa

Als Italiens Innensenator Marco Minitti die Pressekonferenz in Mailand beendet, brandet Applaus auf. Die Journalisten bekunden ihren Respekt gegenüber den beiden Polizisten, die den Attentäter von Berlin, Anis Amri, bei einer Kontrolle gestellt haben. Er wird beim anschließenden Schusswechsel getötet, einer der Polizisten verletzt.

Auch hierzulande atmete die Bevölkerung einen Tag vor Heiligabend durch. Bundesinnenminister Thomas de Maizière zeigte sich "erleichtert, dass von Amri keine Gefahr mehr ausgeht". Er dankte den italienischen Kollegen und den beiden Polizisten. Doch damit ist das Kapitel Berlin nicht beendet. Erst jetzt beginnt die Aufarbeitung. Viele Fragen sind offen: Wie konnte der Tunesier von Radar der deutschen Sicherheitsbehörden verschwinden, obwohl er als Gefährder eingestuft und zeitweise auch beobachtet und abgehört wurde?

Ist das föderale Sicherheitsgefüge in Zeiten des modernen, mobilen Terrors überhaupt noch angemessen? "Die genauen Abläufe werden wir mit den Verantwortlichen im Detail besprechen", sagte de Maizière in Berlin. Und: Er werde "sehr bald" mit Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) über mögliche Konsequenzen sprechen.

Die Terrorgefahr war bereits vor dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz hoch, viele Maßnahmen wurden nach den Gewalttaten vom Sommer in Ansbach, Würzburg und München neu überdacht.

SPIEGEL ONLINE fasst zusammen, was in Arbeit ist und welche Forderungen aus den Parteien noch kommen:

Ausweitung der Videoüberwachung

Die Aufklärung des Anschlags von Berlin hätte möglicherweise durch Videoaufnahmen vom Breitscheidplatz beschleunigt werden können. Das Problem: Für einen solchen öffentlichen Platz ist das Land Berlin zuständig, die neue rot-rot-grüne Koalition hat sich bislang aber dagegen gesträubt, Videoüberwachung verstärkt im öffentlichen Raum der Hauptstadt einzusetzen. Das Bundeskabinett hingegen verabschiedete in dieser Woche ein Gesetz, wonach private Betreiber (etwa Sportstätten, Vergnügungsstätten, Einkaufszentren) die Videoüberwachung ausweiten können - unter anderem auch in Fahrstühlen. Sofern das Gesetz im kommenden Jahr im Bundestag verabschiedet wird, kann die Videoüberwachung auch auf Weihnachtsmärkten erfolgen - allerdings nur, sollte es dort auch eine Einlasskontrolle geben. Das war auf dem Breitscheidplatz in Berlin aber nicht der Fall.

Der Fall Amri: Was wir wissen - und was nicht

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Transitzonen

Die CSU will seit über einem Jahr Transitzonen, in denen bereits an der deutschen Grenze Migranten, die offensichtlich nicht Flüchtlinge oder Asylberechtigte sind, von der Einreise abgehalten werden. Die CDU hat die Forderung auf ihrem jüngsten Bundesparteitag in Essen ebenfalls verabschiedet. Nach Beginn des Flüchtlingsdramas im Sommer 2015 war über solche Transitzonen in der Großen Koalition gestritten worden, die SPD lehnte sie damals ab, sprach von "großen Haftzonen im Niemandsland". Das Thema bleibt nach Berlin akut: Nach der Sitzung des Innenausschusses im Bundestag, der sich mit dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz beschäftigte, kam die Forderung von Unionseite wieder auf.

Sichere Herkunftsländer

Seit Monaten bemüht sich die Bundesregierung im Bundesrat darum, die Einstufung der Maghreb-Staaten Tunesien, Algerien und Marokko als sichere Herkunftsländer zu erreichen, um so Asylbewerber aus diesen Ländern schneller in ihre Heimat abschieben zu können. Doch sträuben sich die Bundesländer, an denen die Grünen beteiligt sind (außer Baden-Württemberg). Sie sind bislang gegen eine solche Einstufung, weil aus ihrer Sicht politische Aktivisten, Journalisten und Homosexuelle in diesen Ländern verfolgt werden. Nach der Erschießung des tunesischen Staatsbürgers und Berlin-Attentäters Anis Amri nimmt die Debatte aber wieder Fahrt auf. So warf die CDU-Fraktions- und Landeschefin von Rheinland-Pfalz, Julia Klöckner, der SPD/FDP/Grünen-Koalition in ihrem Bundesland vor, maßgeblich für die Blockade im Bundesrat verantwortlich zu sein. Ein Problem bliebe aber wohl: Die Mahgreb-Staaten sträuben sich in zahlreichen Fällen, ihre Staatsbürger anzuerkennen, wenn diese ihre Papiere vernichtet haben. So wurden den deutschen Behörden die entsprechenden Dokumente für Amri erst zwei Tage nach dem Berliner Attentat von Tunesien überstellt - als der Mann längst auf der Flucht war.

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Berlin-Attentäter erschossen: Die Nacht von Mailand

Foto: Daniele Bennati/ dpa

Duldung und Abschiebung

In der Ressortabstimmung ist ein Gesetzentwurf aus dem Bundesinnenministerium von Thomas de Maizière, mit dem der CDU-Politiker die Abschiebungen und die Abschiebehaft erleichtern will. Eine Duldung sollen nur noch jene erhalten, deren Abschiebung aus Gründen unmöglich ist, für die sie nicht verantwortlich sind (etwa durch Krankheit oder "dringende familiäre Gründe"). Personen, deren Herkunftsstaat keinen Passersatz ausstellt, erhalten demnach keine Duldung mehr. Außerdem soll die Liste der Gründe für die Abschiebungshaft verlängert werden. Für ausreisepflichtige Ausländer, die straffällig geworden sind und von denen eine erhebliche Gefahr ausgeht, wird zudem ein neuer Abschiebungshaftgrund geschaffen, weil hier "ein besonders hohes öffentliches Interesse an der Sicherung der Rückführung" bestehe, so das Ministerium.

Fußfesseln für Straftäter

Angesichts der Bedrohung durch islamistischen Terrorismus will die Bundesregierung die sogenannte "elektronische Fußfessel" (am Bein getragener Sender zur Aufenthaltsüberwachung mit Alarmfunktion) für verurteilte Extremisten nach der Haft zulassen. Im November einigte sich das Bundesinnenministerium mit dem Ressort von Justizminister Heiko Maas auf das Vorhaben. Der SPD-Politiker sagte damals, die Fußfessel solle nach der Haft grundsätzlich bei solchen Straftätern zugelassen werden, "die wegen schwerer Vergehen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, der Terrorismusfinanzierung oder der Unterstützung terroristischer Vereinigungen verurteilt wurden". Der Gesetzentwurf ging diese Woche in die weitere Ressortabstimmung.

Überblick: Der Weg des Anis Amri durch Europa

Feststellung der Identität

SPD-Innenexperte Burkhard Lischka sprach sich in der "Welt am Sonntag" für "spezielle Erstaufnahmeeinrichtungen" für Flüchtlinge aus, bei denen "Zweifel an der Identität" bestünden. "Wir müssen genauer klären, wer nach Deutschland einreist", sagte der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion. Lischka verweist auf die besonderen Einrichtungen für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsländern, die im vergangenen Jahr in Bayern eingerichtet wurden. Bisher lehnte die SPD die von der Union geforderten sogenannten Transitzonen ab. Die CSU will solche Einrichtungen, die CDU unterstützte später die Forderung der Schwesterpartei. Demnach würde ein Flüchtlingslager an den Außengrenzen eingerichtet. Dort sollen Flüchtlinge ihre Identität beweisen - wer dies nicht könne, solle nicht einreisen dürfen. Mit den nun vorgeschlagenen "speziellen Erstaufnahmeeinrichtungen" schwenkt die SPD ein Stück in Richtung Union.

Auch Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer forderte die neuerliche Überprüfung von Asylbewerbern, deren Identität unklar ist. "Es gab keine Gespräche, keine Beteiligung des Verfassungsschutzes, wie es früher in bestimmten Fällen einmal üblich war. Zumindest diese Formblatt-Fälle muss der Bundesinnenminister jetzt noch einmal prüfen lassen", so Seehofer. Zudem will der CSU-Chef - wie bereits in Dänemark üblich - das Alter von angeblich minderjährigen Flüchtlingen "in Zweifelsfällen" durch eine spezielle Röntgenmethode überprüfen lassen. Seehofer hat für Januar ein eigenes CSU-Paket zur Sicherheit angekündigt.

Umbau der Sicherheitsdienste

Der israelische Sicherheits- und Terrorismusexperte Shlomo Shpiro von der Universität Bar-Ilan in Tel Aviv hat in diesen Tagen den deutschen Sicherheitsbehörden vorgehalten, ein Problem bleibe der deutsche Föderalismus. Die einzelnen Behörden - Verfassungsschutz- und Landeskriminalämter - tauschten zwar Information aus, am Ende kochten sie jedoch "ihr eigenes Süppchen". Die Kritik Shpiros dürfte verhallen, auch seine Forderung, mehrere Landesämter für Verfassungsschutz zusammenzulegen. Solche Ideen sind bereits im Zusammenhang mit der Mordserie der rechtsextremen NSU angestellt worden. Doch eine Mehrheit der Bundesländer lehnte eine Zusammenlegung kleinerer Landesämter ab - vor vier Jahren. Auch diesmal dürfte sich daran nichts ändern.

Videochronik der Ereignisse:

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