Anschlagswarnung Deutschland im Visier der Terroristen

Droh-Videos aus einem Terrorlager, Festnahme dreier Deutscher in Pakistan, abgefangene Telefonate und E-Mails: Plötzlich passen die Teile wie bei einem Puzzle zusammen. Westliche Geheimdienste warnen vor Anschlägen auf deutsche Ziele. Die Gefahr habe sich drastisch erhöht.
Von Matthias Gebauer und Yassin Musharbash

Berlin - Wenn Sicherheitsexperten den Begriff Lagebild erklären, sprechen sie gern von einem Puzzle oder Mosaik. Jeden Tag tragen die Experten von Geheimdiensten, Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz ihre Erkenntnisse zusammen: Festnahmen im Ausland, Hinweise von ausländischen Diensten, Bewegungen von bekannten Extremisten in Deutschland und deren Kommunikation werden zu einer Analyse verdichtet.

In den vergangenen zwei Jahren sah dieses Lagebild meist gleich aus. Abstrakt hoch sei die Gefahr hierzulande, erklärten deutsche Behörden immer wieder. Deutschland sei ein Ziel von Terroristen wegen des Engagements in Afghanistan und des Anti-Terror-Kampfes vieler Staaten. Hinweise auf eine konkrete Bedrohung hatten die deutschen Behörden nicht.

Jetzt hat sich diese Lageeinschätzung dramatisch verändert. Eilig lud der Innenstaatssekretär August Hanning Journalisten ein, um sie über die aktuellen Erkenntnisse zu unterrichten. "Wir sind alarmiert", verkündete er. Deutschland sei so gefährdet wie seit 2001 nicht mehr. Er fühle sich an die Zeit vor dem 11. September erinnert. "Wir sind voll ins Zielspektrum des islamistischen Terrors gerückt."

Hanning, ehemals Chef des deutschen Auslandsgeheimdienstes BND, gilt als einer der Top-Experten in Sachen Terror und als ruhiger Analyst, der nicht zu alarmistischen Warnungen neigt. Zu oft schon hat er Hinweise bekommen, die sich am Ende als falsch herausstellten.

"Plötzlich passt alles zusammen"

Gerade deshalb ist die Wortwahl erstaunlich - und zeugt davon, wie nervös die Behörden sind. "Wir haben eine Fülle von Mosaiksteinen", sagt ein Top-Beamter. "Es passt plötzlich alles zusammen, das lässt uns so besorgt sein."

Was Hannings spontanes Briefing erreichen sollte, ist nicht ganz klar. Hochrangige Beamte sagen, man habe die Öffentlichkeit sensibilisieren wollen - ohne Panik zu schüren. Die Änderungen in der Einschätzung seien so signifikant, dass man nicht mehr von einer abstrakten Gefährdung sprechen könne. Konkrete Erkenntnisse über Anschläge in Deutschland gebe es aber nicht.

Hannings Chef, Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU), unterstützt die Einschätzung seiner Experten: Er bezeichnet die Gefahr von Terroranschlägen in Deutschland als ernst. Es gebe die Botschaft, dass Angriffe auf Deutsche, wie es sie in Afghanistan gegeben hatte, auch hierzulande möglich seien. Die Informationen, über die die Behörden verfügten, seien von großer Bedeutung, um Anschläge zu verhindern. Hanning fühlt sich an die Situation "wie vor dem 11. September" erinnert.

In letzter Zeit, so erklären Experten, verfolgten deutsche und internationale Dienste einen ähnlichen "Chatter" - so nennen die Fahnder die Erkenntnisse aus E-Mail- oder Telefongesprächen - wie vor den Anschlägen vor sechs Jahren. Was die Fahnder hören, lässt Attentate in Deutschland zumindest wahrscheinlicher erscheinen.

Erste Hinweise im April 2007

Die neue Gefahren-Einschätzung basiert unter anderem auf Erkenntnissen vom April 2007. Damals meldete die CIA, eine Gruppe islamistischer Kurden plane einen Anschlag in Deutschland oder einem Nachbarland. Die Gruppe der Islamischen Dschihad Union (IJU) sei von der Türkei auf dem Weg nach Deutschland. Die IJU agiert vornehmlich in Pakistan, bildet dort Extremisten aus. E-Mails aus Deutschland stützten den Verdacht - die US-Botschaft fuhr die Sicherheitsvorkehrungen hoch.

In den nachfolgenden Wochen kamen immer mehr Hinweise dazu. Wie in einem Puzzle passte ein Teil zum anderen, bis die Experten zu der Einschätzung kamen: Es gibt eine neue Bedrohungslage.

Einer der jüngsten Bausteine ist ein aktuelles Video aus Afghanistan, das der US-Sender ABC vor drei Tagen ausstrahlte : Es zeigt Hunderte Mudschahidin, die von Taliban-Kommandeur Mansur Dadullah, dem Bruder des kürzlich getöteten Top-Kommandeurs Mullah Dadullah, zu Selbstmordmissionen in den USA, Kanada, Großbritannien und Deutschland verabschiedet werden.

Pakistan als "hotbed" für die Terror-Azubis

Eine andere Begebenheit ließ die Geheimdienstler aufhorchen: Am 10. Juni wurden an der iranischen Grenze nahe der Ortschaft Taftan drei Männer aufgegriffen. Zwei sind Deutsche, einer Kirgise. Die pakistanischen Behörden nehmen an, dass die Festgenommenen aus Terrorlagern kamen - oder dorthin wollten. Auffallend war die Ausstattung: Im Gepäck fanden sich Satelliten-Telefone und Funkgeräte.

Was wollten die drei in Pakistan? Waren sie auf dem Weg in ein Ausbildungslager oder zu einem Kontaktmann oder waren sie nur einfach Boten? Ihre Tarnung jedenfalls war recht professionell. Aus Afghanistan hatten sie sich gefälschte "alien cards" besorgt - Papiere, die afghanische Behörden für Ausländer ausstellen und die man gegen Schmiergeld leicht bekommen kann. Mit den Dokumenten, so war wohl ihr Plan, wollten sie unbehelligt die Grenze passieren.

Einer der an der iranischen Grenze Festgenommenen ist ein 29-jähriger Mann aus Süddeutschland. Er gilt als sogenannter "Gefährder", der Kontakte zur Islamisten-Szene pflegt.

Nur einige Tage später wurde ein weiterer deutscher Extremist festgenommen, als er von Karatschi aus zurück nach Europa fliegen wollte. Ähnlich wie der 29-Jährige gilt auch der 45-Jährige laut Landeskriminalamt (LKA) Rheinland-Pfalz als "Gefährder". Bisher gelang es den Deutschen nicht, die beiden zu vernehmen.

Noch gibt es keine Hinweise, dass die beiden Männer konkrete Pläne hatten oder nach Deutschland für Anschläge zurückkehren wollten. Allerdings haben die deutschen Ermittler Hinweise aus den USA, dass in den Lagern in Afghanistan und in Waziristan in Pakistan noch zehn bis zwölf weitere Deutsche sein sollen, die dort ausgebildet werden. Das Innenministerium wies inzwischen die Grenzposten an, alle Reisenden aus der Region genau unter die Lupe zu nehmen, zudem wurde eine Liste mit Namen von Hunderten bekannten Personen aus der Szene verteilt.

Kooperation mit den USA soll gestärkt werden

Vor allem die USA warnen seit einigen Wochen intensiv vor der sogenannten "Pakistan-Connection". Die CIA teilte den Deutschen kürzlich mit, man fürchte, dass Attentäter aus dieser Region entweder für Anschläge nach Europa reisen oder über Europa in die USA einsickern könnten. Folglich intensivierten US-Behörden ihren Austausch mit den Deutschen massiv. Gegenwärtig ist eine deutsche Delegation auf dem Weg, um in den USA mehr Details zu erfahren.

Das Grenzgebiet von Afghanistan und Pakistan gilt unter Experten als "hotbed", als Zentrum des islamistischen Terrors. Mitunter sind die Übergänge von Gruppen, mal sind es reine Taliban-Ausbildungslager, mal aber auch Camps von ausländischen al-Qaida-Kräften, fließend. Fest steht allerdings, dass es ein offenkundiges Wiedererstarken der Rest-Qaida im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet gibt.

Westliche Geheimdienste sind überzeugt, dass im bergigen Grenzgürtel wieder Trainigscamps wie vor 9/11 operieren. Kürzlich kursierten auf Internetseiten Aufnahmen aus einem Lager, das die Qaida-Größe Abu Jahja al-Libi leiten soll. Die pakistanische Armee ist zu schwach oder unwillig, die Militanten zu stören. Vor einigen Tagen griff deshalb die US-Armee eines der Lager mit Raketen an und tötete bis zu 30 ausländische Kämpfer. "Al-Qaida in Pakistan ist offensichtlich wieder operationsfähig", lautet das Fazit der Geheimdienste hierzulande.

Druck auf Pakistan

Ein Beleg: Nach dem Anschlag in Kunduz, bei dem drei deutsche Soldaten getötet wurden, kam es am vergangenen Samstag erneut zu einem Angriff. Westlich von Kabul wurde ein Konvoi des deutschen Botschafters angegriffen, der auf der Rückreise von einem deutschen Krankenhaus war. Ein Fahrzeug wurde zerstört, verletzt wurde niemand. "Wir sehen, dass in Afghanistan vermehrt und gezielt deutsche Ziele angegriffen werden", fasste ein deutscher Top-Beamter zusammen.

Die Bundesregierung ist in der Bredouille: Zum einen wissen Sicherheitspolitiker wie August Hanning, dass öffentliche Hinweise auf Terror-Gefahr meist nur Panik schüren und nicht viel bringen. Auf der anderen Seite wollen sich Experten von Diensten und Polizei im Fall eines Anschlags nicht sagen lassen, sie hätten nicht gewarnt oder gar die Gefahr verschlafen.

Zunächst will die Bundesregierung nach der geänderten Lageeinschätzung vor allem die Kooperation mit ausländischen Stellen schnell und effizient verbessern. Ein Schlüssel-Partner für diese Zusammenarbeit sind die USA, aber auch Pakistan. Von dort, so reichlich frustrierte Ermittler, komme aber stets wenig oder nur gefiltert. Im Fall der drei deutschen Extremisten wird das vermutlich nicht anders sein.

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