In der Pralinenküche mit dem Grünen-Fraktionschef Hofreiters Schokoladenseite

Als Fraktionsvorsitzender der Grünen vertritt Anton Hofreiter eine Partei, die gern Verzicht fordert. In der Konditorei genießt er ohne schlechtes Gewissen.
Anton Hofreiter in der Pralinenküche der Konditorei Alof in München

Anton Hofreiter in der Pralinenküche der Konditorei Alof in München

Foto: Sonja Och

Lange, bevor ich mit Anton Hofreiter in der Pralinenküche stehe, bin ich mit ihm für einen Ausflug in die österreichischen Alpen verabredet. Er will mir seine Lieblingswanderstrecke von Kufstein aus zum Anton-Karg-Haus zeigen, zwischen dem Zahmen Kaiser und dem Wilden Kaiser gelegen. Es ist eine Wanderung von 499 auf 829 Meter über dem Meeresspiegel, den Kaisertal-Rundwanderweg entlang, eine Strecke, von der er sagte, man könne sie gemütlich in drei, vier Stunden zurücklegen.

Es ist Sonntag, der 17. Juni 2018, der Tag, an dem für die deutsche Fußballnationalmannschaft mit dem Spiel gegen Mexiko die Weltmeisterschaft in Russland beginnt, als ich Hofreiter um sieben Uhr morgens von seiner Wohnung in Unterhaching bei München mit meinem Mietwagen abhole, um zusammen nach Kufstein aufzubrechen. Ich klingele, er kommt runter, wir fahren sofort los, die A8 nach Kufstein, 84 Kilometer, 51 Minuten ohne Stau. Um acht Uhr beginnen wir unsere Wanderung. Zum Fußballspiel um 17 Uhr will ich wieder zurück in Berlin sein. Meine Tochter wartet auf mich, die selbst Fußball spielt und unbedingt das Spiel mit mir schauen möchte. Und wir haben Gäste eingeladen. 

Hofreiter hat auch mal Fußball gespielt, sagt er, als Schüler war er Torwart, angeblich sogar ein guter, aber Fußball aus der Perspektive des Fernsehzuschauers interessiert ihn deutlich weniger. Als er einige Wochen vor dem Spiel den Wandertermin vorschlug, hatte ich gar nicht an die WM gedacht und spontan zugesagt. Worauf Hofreiter entgegnete: »Ich warne Sie: Das ist der Tag, an dem das Deutschland-Spiel ist.« Ich fühlte mich ertappt, wollte mir aber nichts anmerken lassen. Es würde knapp werden, müsste aber klappen.

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»Okay«, sagte ich zu Anton Hofreiter, »ich muss nur um 15 Uhr meinen Flug bekommen. Ich habe noch einen Termin.«

Der erste Anstieg ist schweißtreibend, aber nicht wahnsinnig lang, vielleicht zwanzig Minuten, ich habe höchstens ein bisschen Durst, aber keinesfalls Hunger, als vor uns der Gasthof Veitenhof auftaucht. Hofreiter sieht ihn und schlägt vor, schnell »was Kleines« zu frühstücken.

Ich hatte, kurz bevor ich Hofreiter in Unterhaching abholte, an einer Tankstelle gefrühstückt. Auch um unnötige Verzögerungen zu vermeiden.

Aber das sage ich nicht.

Ich sage: »Einverstanden, gern.« Ein Rührei geht schließlich immer. Was Kleines.

Wir setzen uns auf die Terrasse, der Kellner begrüßt Hofreiter mit dem Satz »Was macht die Politik?« und legt uns die Speisekarte hin.

»Ich komme öfter hierher«, erklärt Hofreiter.

Er bestellt zwei Spiegeleier mit Speck, eine große Orangensaftschorle und einen Tee; und mir wird klar: So schnell kommen wir hier nicht weg.

Aber noch haben wir ja viel Zeit.

Es gibt ein bestimmtes Bild von Anton Hofreiter, das in zahlreichen Porträts über ihn immer wieder beschworen wird, das eines Mannes, der als letzter deutscher Spitzenpolitiker noch lange Haare trägt, eine dünne, blonde Matte, die ihm bis zu den Schultern reicht und ein bisschen an die guten alten Zeiten erinnert, als eine solche Frisur noch als Symbol für politischen Widerstand galt und die Grünen als radikale Partei. Ein domestizierter Wilder also, harmlos, ehrlich, possierlich, manchmal auch ein bisschen tapsig, aus der Zeit gefallen.

Er geht gerne auf Wanderungen und lässt sich dabei auch immer wieder von Journalisten begleiten, entlang der renaturierten Isar, entlang der renaturierten Donau, in den Tiroler Alpen. Er bleibt dann entzückt vor Pflanzen stehen, die nur wenige Menschen erkennen würden, geschweige denn je davon gehört haben; vor Zirbelkiefern, Schneeheiden, Leberblümchen. Er referiert mit Leidenschaft über die Eibe als »zentraler Machtfaktor«, über die »Urkirsche«, von der alle Kirscharten abstammten, über »Ureichen« oder Schachtelhalme als »lebende Fossilien«.

»Schaut’s alle mal her«, ruft er, wenn er einen entdeckt. »Schachtelhalm!«

Er hat Biologie in München studiert und über die sogenannte Inkalilie promoviert. Der Titel seiner Dissertation aus dem Jahr 2003 lautet: »Die infragenerische Gliederung der Gattung Bomarea Mirb. und die Revision der Untergattungen Sphaerine (Herb.) Baker und Wichuraea (M. Roemer) Baker (Alstroemeriaceae)«. Für Laien nahezu unverständlich. Er redet gern über Artenvielfalt und die fünf »Aussterbe-Katastrophen«, wie er das nennt, die es in der Geschichte der Erde schon gegeben hat. Über 30 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten stünden derzeit auf der roten Liste der vom Aussterben bedrohten Arten, der Auerochse etwa, aber auch das schwimmende Hausschwein, das er einmal im Tierpark Arche Warder besichtigte, einem Zentrum für alte Haus- und Nutztierrassen.

Er erfüllt perfekt das Klischee vom grünen Nerd.

Wenn er von seiner Studienzeit erzählt, dann auch von seinen zahlreichen Reisen durch Südamerika, wie er sich im Regenwald auf die Suche nach der Inkalilie und anderen Pflanzen machte und nur hin und wieder in einem Goethe-Institut auftauchte, um eine deutsche Zeitung zu lesen. Es sind Geschichten, in denen er in Hängematten liegt, sich mit Moskitonetzen schützt, von Brüllaffen verfolgt wird und manchmal auch um sein Leben bangt.

Eine seiner liebsten Abenteuergeschichten spielt in Bolivien, wo er auf der Suche nach einer Inkalilie von einem Felsvorsprung abrutschte und nur überlebte, weil sich sein Fuß in einem Strauch verfing, der ihn festhielt. Er legte sich danach hin und schlief 24 Stunden lang. Ein anderes Mal, in der Nähe der peruanischen Stadt Ayacucho, standen ihm fünf Banditen gegenüber, die ihm seine Fotokameras abnehmen wollten.

Er hatte bei seinen Urwaldreisen immer allerhand dabei, unter anderem ein scharfkantiges Stemmeisen, das er gewöhnlich zum Ausgraben von Pflanzen benutzte. Er hielt es dem Anführer der Banditen so lange entgegen, bis dessen Jungs von ihm abließen.

Wenn er unterwegs war, wurde es jedenfalls nie langweilig, es passierten Dinge, die man ihm nicht zugetraut hätte. Deshalb freue ich mich auch, dass wir zusammen in die Berge gehen.

Vom Gasthof Veitenhof dauert es gute eineinhalb Stunden, bis wir am Anton-Karg-Haus sind. Man hat von dort aus einen wunderbaren Blick auf die Kaiserberge, den Zahmen Kaiser auf der linken, den Wilden Kaiser auf der rechten Seite.

Aber Hofreiter hat schon wieder ein Gasthaus im Blick.

Diesmal den Gasthof Hinterbärenbad, der zum Anton-Karg-Haus gehört.

»Wir können ja hier was trinken«, sagt Hofreiter.

Er bestellt ein Zitronenkracherl (einen halben Liter Zitronen­limonade) und einen Eisbecher mit heißen Himbeeren und Sahne, der auch hier oben »Heiße Liebe« genannt wird. Ich schließe mich an: ebenfalls »Heiße Liebe«, dazu aber eine große Flasche Wasser.

»Nullsiebenfünf?«, fragt der Kellner. Einen Dreiviertelliter?

Ich nicke.

»Och«, sagt Hofreiter, »dann bringen Sie mir doch auch noch ein Glas dazu.«

Wir brechen auf. Jetzt müssen wir noch bergab zum Auto zurück.

Aber es stimmt, was in vielen Porträts über ihn zu lesen ist: Er bleibt tatsächlich andauernd stehen, wenn er eine seltene Pflanze oder ein Tier entdeckt. Er zeigt mir die Türkenbundlilie, Frauenschuh, Wollgras. Eine Graslilie. Eine Feuerlilie. Und, weiter weg, ein rotes Waldvöglein.

Er erzählt vom »großen Wunder«, dass die Erde so schön grün sei und trotzdem nicht kahlgefressen, weil die Pflanzen ja vor ihren Feinden nicht weglaufen könnten. Und warum er in den Neunzigerjahren Biologe studieren wollte: »Die Neunzigerjahre waren eine unglaublich euphorische Zeit«, sagt Hofreiter, »man hatte die DNA entschlüsselt und geglaubt, man könne alle Krankheiten besiegen: Krebs, HIV, Autoimmunerkrankungen. Es gab einen unglaublichen molekularbiologischen Aufbruch.«

Da wollte er dabei sein, wie übrigens auch sein Bruder Michael, der Evolutionsbiologe wurde und heute als Professor für Allgemeine Zoologie und Evolutionäre adaptive Genomik an der Universität Potsdam lehrt. Auch sein Bruder stünde häufiger mal in der Zeitung, bei ihm ginge es meist um Dinosaurier oder um die Frage, ob Neandertaler blond oder rothaarig gewesen seien.

Die Zeit verfliegt. Wir sind schon fast wieder in Kufstein, als vor uns abermals der Gasthof Veitenhof auftaucht, wo wir am Morgen gefrühstückt hatten.

Hofreiter schaut mich an.

»Hier können wir uns kurz die Pfoten waschen«, sagt er.

Ich bin mir nicht sicher, ob wir noch genug Zeit haben. Ich erinnere ihn an meinen Flug.

»Och«, sagt Hofreiter, »wir sind ja gut in der Zeit. In zwanzig Minuten sind wir unten. Das schaffen wir locker.« Der Gasthof, der sich »das Gasthaus im Kaisertal« nennt, ist die letzte Möglichkeit vor dem Parkplatz, um einzukehren. Es gibt hier traditionelle ­Tiroler Spezialitäten, Speck, Gröstl, Kaiserschmarrn, Schlutzkrapfen und Pressknödelsuppe.

Es ist der Moment, in dem ich eigentlich hätte sagen müssen, nein, lieber Herr Hofreiter, lassen Sie uns lieber absteigen und zurückfahren, man weiß doch nie bei der A8, aber dann schaut er mich mit seiner unendlichen Friedfertigkeit an, und ich denke mir: Warum nicht?

»Wir sind wieder da«, verkündet Hofreiter, als wir die Terrasse betreten und ihm der Kellner entgegenkommt.

Er bestellt ein Radler mit naturtrübem Bier, dann fällt sein Blick auf die Speisekarte.

»Die Kasknödeln sind gut«, sagt er.

Er geht die Karte durch, eigentlich, sagt er, schmecke hier alles gut, »die Kasspatzen, das Rehgulasch«. »Wenn Sie kein Vegetarier sind, dann kann ich das Rehgulasch nur empfehlen.«

Ich bin kein Vegetarier, aber ich habe jetzt keine Lust auf ­Gulasch.

Hatten wir nicht gerade gegessen?

Ich bestelle mir eine Käseplatte mit Brot; Hofreiter eine Portion Käseknödel mit Wildragout.

Es dauert ein wenig, bis das Essen kommt.

Ich traue mich nicht mehr, auf die Uhr zu schauen.

Als ich meine Käseplatte aufgegessen habe – ohne besonderen Appetit –, entschuldige ich mich kurz, ich müsse mir die Hände waschen. Als ich zurückkomme, steht er auf und sagt: »Wir müssen los.«

Nun wirkt er plötzlich ein bisschen nervös.

Es stellt sich heraus, dass es einen Unfall auf der A8 gegeben hat, Vollsperrung, schlimmer kann es nicht kommen. Es gibt auf dem Weg zum Flughafen keine wirkliche Alternative zur Autobahn, nur Landstraße über die Dörfer.

Wir steigen die letzten Meter zum Parkplatz im Stechschritt ab, Hofreiter, der jedem, der ihm bisher entgegenkam, ein »Servus« zurief, winkt nur noch flüchtig, wenn ihn jemand grüßt. Als wir endlich am Auto ankommen, sagt er, er müsse noch schnell sein T-Shirt wechseln. »Erinnern Sie mich nachher an mein stinkendes T-Shirt«, bittet er und erklärt: »Jetzt ist es ja nur frisch verschwitzt, zu stinken fängt es erst später an.« Aber ich finde das nicht mehr witzig, ich denke nur noch an meinen Flug.

Er versucht alles, um dem Stau zu entkommen, sucht auf Google Maps nach Umgehungen über die Landstraße, aber auch die sind schon überfüllt, irgendwann stecken wir endgültig fest.

Hofreiter versucht es mit einer Konversation.

Er: »Müssen Sie von Berlin noch weiterfliegen?«

Ich: »Nein. Ich muss nur nach Berlin.«

Er: »Wenn ich fragen darf: Ist das ein unaufschiebbarer Termin?«

Ich: »Ja.«

Er: »Dienstlich?«

Ich: »Privat.«

Er: »Frau oder Freundin?«

Ich: »Tochter.«

Er: »Wie alt?«

Ich: »17.«

Er: »Ach so.«

Er kann nichts dafür. Aber jetzt bin ich wirklich sauer. »17, ach so.« Was will er damit eigentlich sagen? Dass meine Tochter alt genug ist, um ohne mich klarzukommen?

Wir sitzen noch lange im Auto zusammen, es ist eine quälende Fahrt.

Irgendwann, kurz vor Unterhaching, ruft Hofreiter seine Freundin an, die in München auf ihn wartet. Er wollte sie eigentlich kurz treffen, bevor er um 16 Uhr den ICE nach Berlin nimmt, aber auch dafür ist es nun zu spät. »Hey du«, meldet er sich, er sagt das immer wieder, dieses liebevolle »Hey du«, erzählt ihr kurz von der Wanderung und dem Stau, in dem wir gerade stecken, und schließlich von dem Flug, den ich verpassen werde – ebenso wie das Spiel und meine Gäste, aber das weiß er ja nicht. Bevor er auflegt, sagt er: »Das Porträt über mich wird jetzt sicher ganz schlimm.«

Zutaten

Frage: Wie nennen Sie Ihre Sorte Bart?
Hofreiter: Mein Bart? Das ist halt ein Bart.
»Zeit-Magazin«, 26. Juni 2014

Ein paar Tage nach unserer Bergtour hatte ich ihn gefragt, ob wir uns noch einmal sehen könnten, diesmal ohne Wanderung, direkt in der Küche. Ich habe gelesen, dass er Pralinen liebt, das Ideal von gehobenem Genuss. Und sie auch noch gern selber macht.

Er sagte mir damals, das sei kein Problem, Pralinen mache er allerdings nur im Winter, am liebsten in der Vorweihnachtszeit, und so vergingen eineinhalb Jahre, bis wir uns am 3. Dezember 2019 endlich im Münchner Stadtcafé gegenübersitzen. Wir wollten eigentlich noch eine Tasse Kaffee zusammen trinken, aber diesmal ist er es, der auf die Uhr schaut, es eilig hat, wir müssen sofort los.

In München stehen Kommunalwahlen bevor, und Anton Hofreiter will mit Katrin Habenschaden, der grünen Oberbürgermeisterkandidatin, Pralinen herstellen. Die Münchner Grünen haben dazu 25 potenzielle Wählerinnen und Wähler eingeladen, die per Los bestimmt wurden. In der Bäckerei & Konditorei Alof im Glockenbachviertel dürfen sie nun Hofreiter treffen.

Wir müssen davor nur noch die Zutaten für sein Orangentrüffelrezept einkaufen. In einem Interview hat er einmal verraten, dass Orangentrüffel seine Lieblingspralinen sind. Die Zutaten für alle anderen Pralinen, sagt er, hätten schon seine Mitarbeiter besorgt.

Foto: Sonja Och

»Wir wollen fair gehandelte Schokolade kaufen«, sagt Hofreiter.

Im Supermarkt greift Hofreiter sich einen der Einkaufskörbe und steuert die Kühltheke an.

Er braucht einen halben Liter Sahne. Bio-Sahne. Er kauft immer nur Bio.

Er ist in der Nähe von München aufgewachsen, sein Vater war Maschinenschlosser, auf dem zweiten Bildungsweg brachte er es zum Ingenieur. Geld, sagt Hofreiter, habe es nicht im Überfluss gegeben, war aber auch nie knapp. In seiner Familie sei es schon immer wichtig gewesen, keine Massenware zu konsumieren, sondern qualitativ hochwertige Produkte, was damals, als er ein Junge war, schwieriger als heute gewesen sei. Bio-Supermärkte habe es genauso wenig gegeben wie ein Label für einen garantiert ökologischen Anbau.

In seiner Familie machten sie deshalb so viel wie möglich selbst: Apfelsaft, Brot, Marmelade, getrocknete Früchte, Weihnachtsplätzchen. Sie hätten zu Hause einen Gemüsegarten gehabt und zwei große Tiefkühltruhen, sagt Hofreiter. Als er zehn oder elf Jahre alt war, sagt er, wollte er seinen eigenen Weg gehen, er habe sich gefragt: »Was wurde in dieser Familie noch nicht selbst gemacht?« So sei er auf Pralinen gekommen. Seitdem gebe es eine klare Aufteilung, die ihm in der Familie niemand streitig mache: Sein Vater backt Plätzchen, Pralinen macht er.

Anton Hofreiter hat keine großen Vorbilder, er wollte nie wie jemand anderer sein, in seiner Familie nicht, aber auch nicht in seiner Partei. Er hat sich seine Frisur bewahrt, seinen bayerischen Dialekt, er sagt: krass, abartig, geil, obwohl er schon fünfzig ist, er trägt keine Pullis, nur Hemden, hat noch nie ein eigenes Auto besessen, ist bockig wie ein Kind, wenn ihm etwas nicht passt, und flippt im Bundestag gern mal aus, wenn Alice Weidel am Rednerpult steht oder Christian Lindner. Seine »Ausraster« schaffen es dann manchmal sogar in die »Tagesthemen«. Jürgen Trittin, sein Förderer, hat einmal sehr onkelhaft über ihn gesagt, er sei ein »Rohdiamant, der noch geschliffen werden muss«.

Aber vielleicht muss er gar nicht geschliffen werden, auch wenn er sich nicht immer eloquent ausdrückt und gelegentlich einfriert, wenn Kameras auf ihn gerichtet sind. Seine ungekünstelte Art, seine polternden Auftritte, frei vom Anschein der Imagepolitur, sind vielleicht sein eigentlicher Trumpf, der Grund für seine Glaubwürdigkeit.

Nichts wirkt geplant, auch seine Karriere nicht, die damit begann, dass er mit 16 Jahren zu seiner ersten Demonstration ging, der sogenannten Pfingstschlacht 1986 in Wackersdorf, bei der es gegen die dort geplante Wiederaufarbeitungsanlage für Brennstäbe ging. Er wurde danach Mitglied der Grünen, verbrachte viele Jahre in der Kommunal- und Landespolitik, wurde 2005 in den Deutschen Bundestag gewählt, war zunächst grüner Obmann im Verkehrsausschuss und verkehrspolitischer Sprecher seiner Fraktion, dann, ab Juni 2011, Vorsitzender des gesamten Verkehrsausschusses, bis er im Oktober 2013 zum Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen gewählt wurde, dem ersten und bisher einzigen Spitzenamt seiner Karriere.

Es gibt Parteifreunde, die behaupten, Anton Hofreiter sei nur deshalb so plötzlich von einem einfachen Abgeordneten zum Fraktionsvorsitzenden aufgestiegen, weil es sonst niemanden gab, auf den sich die Fraktion habe verständigen können, der kleinste gemeinsame Nenner einer Partei, die größer geworden ist, ein Lückenfüller. Aber vielleicht ist er vielmehr der perfekte Vertreter einer Partei, die niemanden mehr verschrecken will, ihr neues, wahres Gesicht.

Im Supermarkt hat er sich das mit dem halben Liter Sahne noch mal überlegt: Er braucht eine zweite Flasche, er nimmt von allem lieber das Doppelte, damit nachher niemand mit zu wenig Pralinen nach Hause geht.

Er hat auch schon das Orangenöl und die Kuvertüre im Einkaufskorb, jetzt muss er noch die Bio-Schokolade einpacken. Er steht vor dem Schokoladenregal und zählt die Tafeln.

»Eins, zwei, drei, … .«

Er hört gar nicht mehr auf.

»Sechzehn!«, ruft er schließlich.

»Und das war jetzt nur für die Orangentrüffel.«

Zubereitung

Frage: »Was haben Sie mit Angela Merkel gemein?«
Hofreiter: »Das naturwissenschaftliche Denken.«
DER SPIEGEL, 10. Oktober 2018 

Die Bäckerei Alof ist weihnachtlich geschmückt, Kränze, Schokoladennikoläuse. Als Hofreiter die Schokoladennikoläuse sieht, fällt ihm eine Geschichte ein, die er vorher im Bio-Supermarkt vergessen hatte zu erzählen: »Jetzt weiß ich wieder, wie ich darauf gekommen bin, Pralinen selber zu machen«, sagt er. »Als ich zehn oder elf Jahre alt war, haben wir so viele Schokoladennikoläuse geschenkt bekommen, dass die ganze Vorratskammer voll davon war. Und dann dachte ich mir: Wir machen was Sinnvolles damit, wir schmelzen sie ein und machen Pralinen daraus.« Er ist erleichtert, dass ihm das noch rechtzeitig eingefallen ist. Recycelte Weihnachtsmänner, eine grüne Weihnachtsgeschichte.

Foto: Sonja Och

Hofreiter wendet sich den Schokoladentafeln zu, die er auf einem der Hochtische aufeinandergestapelt hat; einer seiner Mitarbeiter hat noch ein paar Tafeln hinzugefügt, für die anderen Pralinen. Hofreiter zählt noch einmal durch.

»Zwoahalb Kilo«, stellt er fest.

Die Zeiten, in denen die Grünen in gutbürgerlichen Kreisen Angst vor gesellschaftlichem Umsturz verbreitet haben, sind lange vorüber. Die Alten, die einmal das Bild der Partei prägten, sind abgetreten, Joschka Fischer, der ehemalige »Steinewerfer«, ist Privatier und Geschäftsmann, und Jürgen Trittin, der ehemalige Kommunist, nur noch einfacher Abgeordneter. Die neue Parteispitze mit Annalena Baerbock und Robert Habeck ist wohnzimmertauglich, vielseitig, volksparteifähig, sie passt in den deutschen Mainstream ebenso wie Katrin Göring-Eckardt, Hofreiters Ko-Vorsitzende der Grünen Bundestagsfraktion. Und vor Hofreiter muss sowieso niemand Angst haben, trotz seiner Haare.

Im Sommer 2018, kurz vor unserer gemeinsamen Wanderung in den Tiroler Alpen, treffe ich Hofreiter zu einem Gespräch in der Cafeteria des Bundestags. Ich will mit ihm über modernes Regieren reden und ob es so etwas gibt wie »weibliches Regieren«. Er bestellt sich erst einmal einen frisch gepressten Orangensaft und einen Erdbeerbecher mit Sahne, und dann, als er den Eisbecher gegessen und den Orangensaft getrunken hat, noch einen Kamillentee. Als sich der Kellner wieder entfernt, sagt Hofreiter: »Ich hab für viele Leute 'ne ungewöhnliche Leidenschaft. Ich trinke gern Kamillentee. Kamillentee schmeckt mir wirklich.«

Womit wir eigentlich schon beim Thema sind: Wer bestellt ohne Grund und dann noch an einem heißen Sommertag einen Kamillentee? Männliches Regieren, im klassischen Sinn, lebt von Statussymbolen, von Machtdemonstrationen, ist protzig, laut, selbstgefällig, paternalistisch.

Kamillentee gehört nicht dazu.

Ich frage ihn, ob es so etwas wie »weibliches Regieren« gibt. Seit 2005 regiert Angela Merkel die Bundesrepublik, als erste Frau nach sieben Männern. Merkel verkörpert in vielerlei Hinsicht das Gegenteil ihres Vorgängers Gerhard Schröder, des typisch männlichen Regierens. Merkel ist nicht laut, sondern leise, sie ist sachlich, nüchtern, bescheiden, unprätentiös, dennoch bestimmt, und wenn sie etwas durchsetzt, dann auf genau diese Art.

Anton Hofreiter denkt nach.

In seinem aktiven politischen Leben habe er nur drei Kanzler erlebt, sagt er. Kohl. Schröder. Merkel. »Zwei Männer und eine Frau: Das ist definitiv eine zu geringe Grundgesamtheit.«

Er erinnert daran, wie Frank-Walter Steinmeier im Wahlkampf 2009 an Merkel verzweifelte. »Männer sind zu sehr mit Gorillaverhalten beschäftigt«, sagt Hofreiter. Merkel habe es geschafft, dieses Verhalten lächerlich zu machen, was aber keineswegs heiße, sie würde darauf verzichten, selbst im Mittelpunkt zu stehen. »Merkel geht sehr geschickt mit Statussymbolen um«, sagt Hofreiter, »beachten Sie Fotos auf Gipfeln, da steht Merkel mit Quietschbuntem dazwischen. Wenn das nicht eine kluge, bewusste Inszenierung ist.«

Man muss sich nicht wie Schröder verhalten, um aufzufallen, was sich gut auch auf Anton Hofreiter übertragen lässt: Verglichen mit Göring-Eckardt, Baerbock oder Habeck ist Anton Hofreiter derjenige, der quietschbunt ist.

In der Bäckerei Alof ist es inzwischen voll geworden, Hofreiter organisiert das Wasserbad, in dem die Schokolade geschmolzen wird, den Mixer, mit dem die Sahne geschlagen wird, das Reibeblech für die Pistazien, Backpapier und Puderzucker. Ihm ist immer wieder wichtig zu betonen, dass Pralinen selber machen ein Hobby für jedermann ist, kein Hobby, für das man viel Geld oder teure Spezialgeräte braucht. »Habt’s ihr a Spritzpistole, die ganz einfachen sind die besten, kosten zehn Euro«, ruft Hofreiter in die Runde. Ein paar Minuten geht alles noch ein wenig durcheinander in der Bäckerei, aber irgendwann stehen alle an ihren Plätzen.

Hofreiter bittet um einen Moment Ruhe, damit er etwas sagen kann, zur Einstimmung auf einen lustigen Abend.

»In der Küche gibt es keine Demokratie«, sagt er. »Ihr müsst jetzt einfach tun, was ich sage.«

Genuss

Frage: Kennen Sie eigentlich das Gefühl, sich als Verbraucher schuldig zu fühlen? Angenommen, Sie würden bei McDonald’s essen …
Hofreiter: Mir schmeckt es da nicht.
»Rheinischer Merkur«, 2. Februar 2017

Er steht neben dem Wasserbad, das 45 Grad erreicht hat, die ideale Schokoladenschmelztemperatur. »Zack, die ganze Schokolade rein«, sagt Hofreiter, »zack!«

Foto: Sonja Och

Die Schokolade schmilzt, und Hofreiter geht von Tisch zu Tisch, um zu beaufsichtigen, wie die Butter schaumig geschlagen und die flüssige Sahne mit der geschmolzenen Schokolade vermischt wird, er sorgt dafür, dass die Schokolade rechtzeitig aus dem Wasserbad genommen und so lange gerührt wird, bis sie wieder erkaltet ist. Um daraus Tonis Weinbrandwürfel zu machen, muss sie gerade noch flüssig sein. Der Puderzucker muss dann noch mit der Butter vermengt, der Weinbrand dazugegeben und die fertige Masse auf ein mit Backpapier ausgelegtes Blech gegeben werden, um dort abzukühlen.

Hofreiter wendet sich der Sahne-Schokoladen-Mischung für die Orangentrüffel zu.

»Je mehr Sahne man nimmt«, ruft er durch die Bäckerei, »desto geschmeidiger wird es.«

Hofreiter gehört dem linken Parteiflügel an, den sogenannten Fundis. Aber linker Dogmatismus ist ihm fremd. Er war anders als viele Parteifreunde nicht gegen den internationalen Militäreinsatz 2011 in Libyen. Er fährt Ski auf dem Gletscher in Hintertux. Und als die Partei 2010 über den sogenannten Veggieday diskutierte, einen fleischfreien Tag in Kantinen, bekannte er sich zu seiner Vorliebe für gute Steaks. Wenn Hofreiter überhaupt einmal radikal klingt, dann weil er Vorschriften nicht leiden kann, etwa die Fahrradhelmpflicht, selbst beim Skifahren weigert er sich, einen Helm zu tragen.

Er ist wie kein anderer in seiner Partei. Aber er tut auch niemandem weh; er klingt dann eher wie ein Vertreter der FDP als ein linker Grüner.

2016 hat Hofreiter ein Buch über Fleischkonsum geschrieben, Fleischfabrik Deutschland, in dem er die Massentierhaltung kritisierte, aber das Buch sorgte auch vor allem deshalb für Interesse, weil sich Hofreiter darin als leidenschaftlicher Fleischesser präsentierte, der in seiner Jugend schon Schweinehälften zerlegt hat. Sein Buch stellte er damals zusammen mit dem damaligen Kanzleramtsminister Peter Altmaier vor, von dem er sagte: »Erst vor ein paar Tagen habe ich mit Peter ein gutes Steak gegessen, in einem Laden, wo es auch um das Tierwohl geht«, worauf Altmaier vom »Filet mit Anton« schwärmte.

»Sünde ist ja ein christliches Konzept«, hat er einmal in einem Interview gesagt. »Ich bin Naturwissenschaftler. Und Genussmensch. Übrigens: Keiner kann immer ethisch 100 Prozent korrekt handeln.«

Foto: Sonja Och

Er findet zwar, dass wir uns als reiche Gesellschaft viel zu wenig Gedanken über Produkte machten, die wir insbesondere »aus Ländern des globalen Südens« importierten, zum Beispiel den Kakao für die Schokolade, die man zum Pralinenmachen brauche. Deshalb kaufe er ja nur fair gehandelte Schokolade. Wenn das alle machen würden, hätte man kein Problem mehr. Aber das will er nicht verlangen, er mag keinen Zwang, obwohl Schokolade ja »nicht das klassische Grundnahrungsmittel« sei, das man täglich kiloweise esse, der höhere Preis also nicht so sehr ins Gewicht falle wie bei anderen Lebensmitteln. Aber das Recht, sich frei zu entscheiden, will er den Verbrauchern nicht nehmen; das gehöre für ihn zur Demokratie.

Er hat dafür eine ganz andere Lösung, das sogenannte Lieferkettengesetz.

Es ist ein Gesetz, mit dem Unternehmen dazu verpflichtet werden sollen, für Schäden an Mensch und Umwelt, die durch ihre Produkte verursacht werden, zu haften, ein Gesetz also, das dem Verbraucher die Verantwortung für eine bessere Welt abnehmen soll. »Wir setzen den Ordnungsrahmen«, sagt Hofreiter, »mit dem ethisches Handeln leichter gemacht wird.« Es ist ein Gesetz ganz nach seinem Geschmack: Für eine Welt ohne schlechtes Gewissen und ohne Verzicht.

Er steht vor dem Blech mit den Weinbrandwürfeln, 1,5 Zentimeter mal 1,5 Zentimeter breit, laut seinem Rezept. Sie müssen nur noch mit Kakaopulver bestäubt werden, dann sind sie fertig, aber Hofreiter greift schon mal zu.

Dann schaut er die Frau an, die neben ihm steht.

Sie soll auch mal »Weinbrandwürfel à la Hofreiter« probieren.

»Kann man’s essen?«, fragt er.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem SPIEGEL-Buch von Marc Hujer: »Auch nur ein Mensch. Politiker und ihre Leidenschaften und was sie uns über sie verraten.«

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