Arbeitslosengeld-Debatte Warum Rüttgers Recht hat

Wer mehr in eine Versicherung einzahlt, muss auch mehr rausbekommen. Hartz IV bricht mit diesem Urprinzip - deshalb muss Jürgen Rüttgers' Plan zwingend umgesetzt werden. Sonst ist das Verfassungsgericht gefragt.
Von Hubert Kleinert

Ministerpräsident Rüttgers' Vorschlag, dass Ältere länger Arbeitslosengeld I beziehen sollen, hat eine Debatte mit wundersamen Frontverläufen ausgelöst. Ausgerechnet Rote und Grüne schäumen wegen einer angeblichen Verletzung der Generationengerechtigkeit aus populistischen Motiven. Auch in seiner eigenen Partei erfährt NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers viel Gegenwind. Sogar der Bundespräsident ließ neulich verlauten, dass er wenig davon halte. Die Arbeitslosenversicherung sei kein Sparvertrag, konnte man lesen.

Nun mag es ja sein, dass auch Profilierungsdrang und populistische Anwandlungen bei diesem Vorstoß eine Rolle gespielt haben. Das soll in der Politik immer wieder vorkommen. Mag auch sein, dass es Rüttgers ganz gut zupass kommt, wenn seine Initiative jetzt gern als Symbol für eine "Linkswendung" der Union diskutiert wird.

Ob Letzteres aber nun Etikettenschwindel ist oder nicht: Das Spekulieren über die Motive des Düsseldorfer Regierungschefs kann kaum den Maßstab liefern zur Beurteilung der sachlichen Substanz seines Vorstoßes. Und in der Sache hat der Ministerpräsident des größten deutschen Bundeslandes derart eindeutig recht, dass man sich über die vielen Fundamentalkritiker in Berlin nur verwundert die Augen reiben kann. Jedes Lehrbuch über Sozialpolitik stellt die besondere Bedeutung des Versicherungsprinzips im deutschen Sozialsystem heraus und lehrt, dass dessen Wesen gerade darin besteht, dass Rechtsansprüche auf nach dem Äquivalenzprinzip gezahlte Leistungen entstehen.

Sozialversicherungsbeiträge sind keine Steuern

Dieses Prinzip wird zugunsten einer egalitären Leistungsbereitstellung lediglich in der Kranken- und Pflegeversicherung aus einleuchtenden Gründen durchbrochen. Mit anderen Worten: In dem beitragsgestützten deutschen Sozialsystem sollen sich die Leistungen an dem orientieren, was zuvor an Beiträgen eingezahlt wurde. Der Versicherte bekommt, "was ihm zusteht". Dabei unterliegen die Beitragszahlungen der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, das heißt sie können nicht einfach entschädigungslos verfallen. Sozialversicherungsbeiträge sind schließlich keine Steuern, über deren Verwendung nach Gusto frei entschieden werden kann.

Dieser verfassungsrechtliche Sachverhalt schreibt derart zwingend einen im Prinzip abgestuften Leistungsanspruch in der Arbeitslosenversicherung vor, dass man sich schon vor Jahren wundern musste, dass dies den Autoren der Hartz-Gesetze offenbar entgangen war. Schon die Finanzierung allgemeiner arbeitsmarktpolitischer Programme aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung nach der Deutschen Einheit war ja Anfang der neunziger Jahre von der damaligen SPD-Opposition folgerichtig als höchst bedenklich kritisiert worden. Natürlich lässt sich einwenden, dass die bis zur Agenda 2010 geltenden Regelungen von Arbeitgebern gerne genutzt wurden, um zur Frühverrentung älterer Arbeitnehmer die Mittel der Arbeitslosenversicherung in Anspruch nehmen zu können. Wer das eindämmen will, muss freilich keineswegs zum Mittel einer Gleichmacherei aller Leistungsansprüche greifen.

Jedenfalls hat Rüttgers derart eindeutig recht, dass man sich über die schräge öffentliche Debatte und vor allem über die harschen Reaktionen der Sozialdemokraten eigentlich nur wundern, ja ärgern kann. Zumal jeder aufmerksame Zeitgenosse wissen müsste, dass das Gerechtigkeitsempfinden der Betroffenen genau an dieser Stelle so nachhaltig gestört wird, dass die ganze Akzeptanz der Hartz-Reformen dadurch beeinträchtigt ist. Man kann den Menschen eben nicht plausibel machen, dass einem 50-Jährigen nach 30 Jahren Einzahlung in die Arbeitslosenversicherung der gleiche Leistungsanspruch zustehen soll wie dem 23-Jährigen nach drei Jahren. Das wird als ungerecht empfunden, und das ist sehr gut nachvollziehbar.

Aufgeblasener Streit um Etiketten

So offenbart die derzeitige Debatte gleich zweierlei: Ein erstaunlich laxer Umgang mit dem Versicherungsprinzip als gewiss nicht unumstrittene, aber nun einmal geltende Grundlage unseres sozialstaatlichen Sicherungssystems, aber zugleich auch eine bedenkliche Ferne der Berliner Problemwahrnehmung von der in der Mitte der Gesellschaft. Eine Ferne, die für die politische Klasse ebenso zu gelten scheint wie für ihre journalistischen Beobachter. Lieber führt man einen aufgeblasenen Streit um Etiketten ("Arbeiterpartei CDU"), als dass man sich mit dem Vorschlag selbst sorgfältig auseinandersetzen würde.

So kann man nur hoffen, dass Rüttgers sich durchsetzt und jener Webfehler von Schröders Agenda endlich beseitigt wird, der wie kein zweiter der Akzeptanz der Sozialreformen in der Gesellschaft seit Jahren im Wege steht. Wenn nicht, dann steht zu hoffen, dass das Verfassungsgericht bald Gelegenheit bekommt, sich damit zu befassen. Ich bezweifle sehr, ob die derzeit geltende Regelung dort Bestand haben wird.

Ob das dann als Beitrag zur "Linkswende der CDU" bewertet wird, kann dabei erst einmal durchaus gleichgültig sein. Es ist eine in den vergangenen Jahren noch schlimmer gewordene Unart der modernen Politik, immer mehr in Etiketten und Labels zu denken statt in der sachlichen Substanz von Initiativen. Auch deshalb wäre es gut, wenn Rüttgers sich durchsetzte. Das wird dem sozialdemokratischen Selbstverständnis der "Schutzmacht der kleinen Leute" nicht gefallen. Aber es ist schließlich das ureigenste Problem der SPD selbst, wenn die Sensoren in der Partei die Ausschläge des verletzten Gerechtigkeitsempfindens in der Gesellschaft nicht mehr mitbekommen.

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