TV-Debatte Der Faktencheck – wer hat wo geschummelt?

110 Minuten TV-Triell, viele Behauptungen: Wo hielten Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz es mit der Wahrheit nicht so genau? Der Faktencheck der SPIEGEL-Dokumentation.
Baerbock, Laschet und Scholz mit Moderationsduo Atalay und Kloeppel

Baerbock, Laschet und Scholz mit Moderationsduo Atalay und Kloeppel

Foto: -- / dpa

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Von Okan Bellikli, Viola Broecker, Almut Cieschinger, Johannes Eltzschig, Janine Große, Bertolt Hunger, Ines Köster, Rainer Lübbert, Friederike Röhreke, Mirjam Schlossarek, Regina Schlüter-Ahrens, Benjamin Schulz, Rainer Szimm, Marc Theodor und Charlotte Weichert

Fast zwei Stunden lang haben Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz beim TV-Triell miteinander diskutiert, gestritten – und so manche Behauptung aufgestellt. Wer hat die Fakten auf seiner Seite, wer übertrieb – und wessen Aussagen sind nicht haltbar? Der Check der SPIEGEL-Dokumentation.

VERTEIDIGUNGS- UND SICHERHEITSPOLITIK

Bundestagsabstimmung zur Verlängerung des Afghanistan-Mandats

Aussage: Laschet sagte, bei der Abstimmung über eine Verlängerung des Afghanistan-Mandats der Bundeswehr im März habe »ein Drittel der Grünenfraktion mit Ja gestimmt. Ein Drittel und ein bisschen mehr mit Nein. Und ein Drittel enthält sich bei dieser Frage.«

Hintergrund: Laschet fragte Baerbock, ob solch ein Abstimmungsverhalten für sie Klarheit in der Außenpolitik sei.

Bewertung: Laschet ist nicht präzise.

Begründung: Fast die Hälfte der Grünenabgeordneten (49 Prozent), die sich an der Abstimmung beteiligten, haben mit Nein gestimmt . Konkret gaben 57 Grüne damals ihre Stimme ab. 17 (rund 30 Prozent) stimmten mit Ja, 28 (49 Prozent) mit Nein, 12 (21 Prozent) enthielten sich.

Die Linke und die Auslandseinsätze der Bundeswehr

Aussage: Laschet sagt zu den Linken und einer möglichen Koalition mit SPD und Grünen: »Aber ich meine, das ist jetzt nicht Ihr Ernst, Herr Scholz, Sie können nicht jetzt spielen wie Angela Merkel und reden wie Saskia Esken. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die Dinge, die Sie hier gerade vorgetragen haben, die Linke teilt. … Sie stimmt im Bundestag gegen die Rettung der Menschen.«

Hintergrund: Hier geht es um den jüngsten Beschluss des Bundestags zum Evakuierungsmandat der Bundeswehr in Afghanistan.

Bewertung: Die Aussage ist falsch.

Begründung: Die Linken haben nicht mehrheitlich gegen das Mandat gestimmt, sondern sich vielmehr enthalten: Nur sieben der Bundestagsabgeordneten stimmten mit Nein, fünf mit Ja, 43 enthielten sich – ein Novum. Grundsätzlich lehnt sie eigentlich Bundeswehreinsätze im Ausland ab.

Ortskräfte in Afghanistan

Aussage: Scholz sagte: »Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir es geschafft haben, viele in den letzten Jahren, die als Ortskräfte für uns tätig waren, nach Deutschland zu holen. Ich bin dankbar dafür, dass ... wir jetzt viele Tausend haben ausfliegen können (...).«

Hintergrund: Es ging um die aktuelle Lage in Afghanistan und speziell um die Menschen, die in den vergangenen Jahren für deutsche Stellen vor Ort gearbeitet haben.

Bewertung: Scholz' Aussage ist irreführend, da nur wenige Ortskräfte unter den Evakuierten waren.

Begründung: Laut offiziellen Zahlen hat die Bundesregierung  insgesamt mehr als 5300 Personen aus Kabul in Sicherheit bringen können. Laut der Zeitung »Welt am Sonntag«  vom 29. August, die sich auf Zahlen aus dem Bundesinnenministerium beruft, befanden sich »unter den bis Mitte der Woche Ausgeflogenen etwa 4500 Personen nur 101 Ortskräfte mit ihren Familien. Insgesamt machten sie rund 500 der 4500 Personen aus«. Laut der Tagesschau wiederum hatte das Auswärtige Amt zuletzt an 10.000 Ortskräfte Aufnahmezusagen verschickt .

Entwicklung des Verteidigungshaushalts

Aussage: Scholz sagte, in den Jahren seiner Amtszeit als Finanzminister habe in den vergangenen Jahren der größte Aufwuchs des Bundeswehrhaushalts stattgefunden. »Wir sind jetzt über 50 Milliarden. Dafür habe ich mich sehr eingesetzt.«

Hintergrund: Es ging um die Frage, wer die Verantwortung für mangelnde Ausstattung der Bundeswehr trägt – und ob diese zum Scheitern der westlichen Koalition in Afghanistan beigetragen hat.

Bewertung: Die Aussage ist in Teilen übertrieben.

Begründung: Scholz ist seit 2018 Finanzminister. Seither ist der Verteidigungshaushalt tatsächlich deutlich gewachsen. Dieser Trend setzte allerdings bereits unter Scholz' Amtsvorgänger Wolfgang Schäuble ein. Zudem liegt im aktuellen Haushaltsjahr 2021 der Verteidigungshaushalt nicht bei über 50 Milliarden Euro, sondern bei 46,9 Milliarden Euro. Im Regierungsentwurf für 2022 ist ein Etat von 50,33 Milliarden Euro für die Bundeswehr vorgesehen . In den Eckwerten für die Folgejahre fällt die Linie aber wieder ab:

  • 2022: 50,33 Milliarden Euro

  • 2023: 47,338 Milliarden Euro

  • 2024: 47,157 Milliarden Euro

  • 2025: 46,733 Milliarden Euro

Bewaffnete Drohnen für die Bundeswehr

Aussage: Scholz sagte, die Eurodrohne werde aktuell gemeinsam mit Frankreich entwickelt. Dies werde für die Bundeswehr eine gute Ausrüstung bringen.

Hintergrund: Laschet hatte Scholz gefragt, warum er nicht helfe, die Bundeswehr mit Drohnen auszurüsten.

Bewertung: Scholz lenkt ab.

Begründung: Laschet meint nicht die Eurodrohne, sondern die Beschaffung von marktverfügbaren, bewaffnungsfähigen Drohnen – konkret der Heron TP als Übergangslösung, bis die Eurodrohne zur Verfügung steht. Bei der Frage der Bewaffnung der Heron-Drohnen hat sich die SPD-Fraktion gegen eine Bewaffnung gestellt. Zur Begründung hieß es, es bestehe in dieser Frage noch Bedarf nach einer gesellschaftlichen Debatte. Die Beschaffung der Drohne wurde zwar vom Bundestag beschlossen, die Frage der Bewaffnung aber aufgeschoben.

Beschaffung von A400M-Transportflugzeugen für die Bundeswehr

Aussage: Laschet behauptete, jedes Mal, wenn neue A400M, ein Hubschrauber oder irgendetwas anderes bestellt werde, erlebe man ein »Nein« bei den Sozialdemokraten.

Hintergrund: Es ging um die Ausstattung der Bundeswehr. Flugzeuge des Typs A400M waren jüngst etwa im Einsatz, um Menschen aus Afghanistan auszufliegen.

Bewertung: Laschets Aussage ist bezogen auf den A400M falsch.

Begründung: Die Beschaffung von 60 Exemplaren des A400M wurde 2003 unter der rot-grünen Regierung beschlossen.

KLIMA, UMWELT, ENERGIE

Kosten des Klimaschutzes

Aussage: Baerbock sagte, man könne für gerechten Klimaschutz sorgen, indem man die Einnahmen aus dem CO2-Preis gerecht an die Menschen zurückgebe. In Kanada und der Schweiz gebe es dieses Energiegeld schon.

Hintergrund: Es ging um die Frage, wie viel Maßnahmen gegen den Klimawandel kosten, wer dafür bezahlen soll – und wie gegebenenfalls Bürgerinnen und Bürger entlastet werden sollen.

Bewertung: Die Aussage ist korrekt.

Begründung: Sowohl in Kanada als auch in der Schweiz gibt es Klimaprämien aus dem CO2-Preis. In der Schweiz gibt es über die dortige Krankenversicherung Klimaprämien . In Kanada erhalten Bürgerinnen und Bürger als Teil der Steuerrückerstattung eine Pro-Kopf-Klimaprämie .

Förderung der privaten Nutzung von teuren Elektro-Dienstwagen

Aussage: Baerbock behauptete, die Käuferinnen und Käufer teurer Elektro-Dienstwagen würden besonders von Förderprämien profitieren.

Hintergrund: Thema war die Förderung von Elektromobilität und mögliche Unterschiede bei den sozialen Auswirkungen. Baerbock sagte, es mache keinen Sinn zu sagen: »Wir fördern einfach mal alle Elektroautos und diejenigen, die sich neue teure Dienstwagen für 80.000 kaufen. Die profitieren besonders.«

Bewertung: Stimmt.

Begründung: Baerbock bezog sich vermutlich auf die Tatsache, dass die private Nutzung von Dienstwagen mit Hybrid- und Elektromotoren deutlich niedriger besteuert ist als die private Nutzung von Fahrzeugen mit Verbrennermotoren. Nutzer teurer Dienstwagen werden daher tatsächlich besonders begünstigt. Auch wenn die private Nutzung von Elektro-Dienstfahrzeugen, deren Basismodell teurer als 60.000 Euro ist, höher besteuert wird als günstigere Modelle, ergibt sich aufgrund des hohen Anschaffungspreises dennoch eine Begünstigung. Private Käufer von Elektro- und Hybridfahrzeugen werden nicht besonders begünstigt.

Das Bundeswirtschaftsministerium bietet auf seiner Website Informationen zum sogenannte Umweltbonus . Demnach wird der Kauf von E-Autos mit einem Preis von bis zu 40.000 Euro mit 9000 Euro gefördert (6000 Euro vom Bund, 3000 Euro von den Herstellern), der Kauf von teureren Fahrzeugen mit 7500 Euro (4500 Euro vom Bund und 2250 von den Herstellern). Bei Plug-in-Hybriden gibt es 6750 Euro für Fahrzeuge mit einem Kaufpreis von unter 40.000 Euro sowie 5625 Euro für Fahrzeuge, die mehr kosten.

Genehmigungsverfahren für Windkraftanlagen

Aussage: Scholz sagte, aktuell dauere es sechs Jahre, bis eine neue Windkraftanlage genehmigt werde.

Hintergrund: Es ging um die Frage, wie Deutschland einen schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien erreichen kann, indem beispielsweise Genehmigungsverfahren beschleunigt werden.

Bewertung: Scholz' Aussage stimmt im Großen und Ganzen. Experten aus der Windindustrie gehen von einer Genehmigungsdauer von derzeit vier bis fünf Jahren  aus.

Begründung: Kern von Scholz' Argument war, dass Genehmigungsverfahren momentan sehr lange dauern. Das kommt hin.

Stromverbrauch

Aussage: Scholz behauptete, Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) habe gesagt, Deutschland brauche »weder 2030 mehr Strom noch später«.

Hintergrund: Der Vorwurf zielte darauf ab, dass die deutsche Industrie, konkret die Chemiebranche, aufgrund des geplanten Abschieds von fossilen Energieträgern deutlich mehr Strom benötigt als bisher. Die Union aus CDU/CSU blockiere daher aufgrund falscher Annahmen den Ausbau erneuerbarer Energien und damit die Transformation der Industrie in Richtung Klimaneutralität.

Bewertung: Die Aussage von Scholz ist nicht falsch. Die Behauptung, die Union habe alle Vorschläge für mehr Stromproduktion aus Windkraft und Solarenergie und ein leistungsfähigeres Stromnetz »torpediert«, sind in dieser pauschalen Form aber nicht zu halten.

Begründung: Im Mai 2020 hat das Bundeswirtschaftsministerium in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen  bestätigt, dass das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung ein Zielmodell enthalte, das von einem »Bruttostromverbrauch von 580 Terawattstunden und damit ein[em] Bruttostromverbrauch im Bereich des heutigen Verbrauchsniveaus« ausgeht. Diese Menge liege in der Mitte der Prognosen aus aktuellen Studien. Auch für die Zeit nach 2030 würden die Prognosen nicht von einem deutlich gestiegenen Strombedarf ausgehen, hieß es. Mitte Juli 2021 erhöhte das Ministerium die Zahl von 580 auf 655 Terawattstunden, die benötigt würden. Als Begründung verwies Altmaier auf die Neufassung des Klimaschutzgesetzes mit ambitionierteren Zielen, die eine Reaktion auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts war. Die neuen Vorgaben würden eine Anpassung der Analysen zum für 2030 vorhergesagten Stromverbrauch  erfordern, so Altmaier.

Strompreis

Aussage: Scholz sagte, er wolle die Bürger im Gegenzug für einen steigenden CO2-Preis bei den Kosten für Strom entlasten. Dafür wolle er die sogenannte EEG-Umlage abschaffen, was einer Familie mit zwei Kindern rund 300 Euro pro Jahr bringe.

Hintergrund: Privatkunden müssen die Umlage aktuell nach dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz (EEG) zahlen.

Bewertung: Stimmt grundsätzlich.

Begründung: Laut einer Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft  würde ein vierköpfiger Haushalt durch eine Abschaffung der Umlage sogar mehr als 400 Euro sparen.

CORONA

Laschets Schlingerkurs

Aussage: Laschet wehrte sich gegen den Vorwurf, er habe in der Coronakrise politisch einen Zickzackkurs verfolgt. Er sprach davon, die Antwort auf unterschiedliche Situationen gegeben zu haben. »Wenn Inzidenzzahlen steigen, müssen wir vorsichtig sein, Maßnahmen ergreifen. Aber ich war immer einer derer, der gesagt hat, wenn Zahlen sinken – und so war das im letzten April, Mai bis hin zum Sommer – muss man Grundrechtseingriffe auch zurücknehmen. Muss man Schulen wieder in Präsenz machen.«

Hintergrund: Laschet, Baerbock und Scholz waren nach einem möglichen vierten Corona-Lockdown gefragt worden. Moderatorin Pinar Atalay bemerkte dazu: »Herr Laschet wurde oft in dieser Pandemiezeit ein Zickzackkurs vorgeworfen (...) für Nordrhein-Westfalen.«

Bewertung: Völlig haltlos ist die Behauptung des Zickzackkurses nicht.

Begründung: Es gab mehrfach gegen Laschet den Vorwurf eines erratischen Schlingerkurses, der auch Profilierungsversuchen gegen Markus Söder diene. Je nachdem, ob er als liberaler oder fürsorglicher Landesvater auftrat, oder je nach Gruppe, an die er sich wandte, vertrat Laschet in kurzem Abstand unterschiedliche Positionen .

Zudem wurde Laschet vorgehalten, er habe wiederholt zu spät bei schnell steigenden Inzidenzen in seinem Bundesland reagiert. Laschets besonderes Augenmerk galt schon im ersten Pandemiejahr 2020 eher einer Exit-Strategie und weniger der Vorsicht. Auch öffnungsfreundliche Virologen wie Hendrik Streeck beeinflussten ihn. Mit den aktuell stark steigenden Inzidenzen  in Laschets Bundesland ist erneut eine Situation eingetreten, die schnelle, wirkungsvollere Maßnahmen erwarten ließ. Dem stünde ein Verbot von Schulschließungen  entgegen, wie es Laschets Schulministerin Yvonne Gebauer etwa im März anordnete.

Luftreiniger

Aussage: Baerbock behauptete, die Bundesregierung habe erst am Montag »nach anderthalb Jahren Pandemie« die Finanzierung für mobile Luftreiniger bereitgestellt.

Hintergrund: Das Kabinett hat am 14. Juli 2021 beschlossen , für die Anschaffung von mobilen Luftreinigern 200 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Die Finanzierung sollen sich Bund und Länder hälftig teilen. Die entsprechende Verwaltungsvereinbarung von Bund und Ländern gibt es seit Montag.

Bewertung: Die Aussage ist richtig. Allerdings gab es auch Länder wie zum Beispiel Bremen, die bereits selbst Initiative ergriffen haben, ohne auf das Geld vom Bund zu warten.

Begründung: Die Bremer Schulbehörde schaffte im vergangenen Schuljahr mehr als 2500 mobile Luftreiniger an. »Jede noch so kleine Summe, die wir irgendwie entbehren konnten, haben wir zusammengekratzt, um die Schulen sicherer zu machen«, sagte die inzwischen zurückgetretene Bildungssenatorin Claudia Bogedan (SPD) in einem SPIEGEL-Interview .

Impfkampagne

Aussage: Baerbock bezog sich auf die Situation in Nordrhein-Westfalen und sagte, die von Laschet angeführte Landesregierung wolle einen Bus, der Schülerinnen und Schüler zum Impfen fährt, nicht mitfinanzieren.

Hintergrund: Vermutlich spielt Baerbock hier auf die Situation in Duisburg an: Die Stadt hat einen Pendelbusverkehr für Schüler und Schülerinnen zum Impfzentrum organisiert .

Bewertung: Die Aussage ist richtig. Das Land NRW will die Kosten hierfür nicht übernehmen.

Begründung: Das Gesundheitsministerium des Landes sieht bei dieser Aktion die Gefahr, dass Druck auf die Schüler und Schülerinnen ausgeübt wird, sich impfen zu lassen. Stattdessen befürwortet das Ministerium den Einsatz mobiler Impfteams an Schulen.

Impfpflicht

Aussage: Baerbock sagte, eine allgemeine Impfpflicht sei in Deutschland rechtlich nicht umsetzbar.

Hintergrund: Es ging um mögliche Maßnahmen bei der Bekämpfung der Coronapandemie.

Bewertung: Stimmt nicht.

Begründung: Baerbock bezieht sich vermutlich auf das im Grundgesetz festgelegte Recht auf körperliche Unversehrtheit. Paragraf 20 Absatz 6 des Infektionsschutzgesetzes erlaubt es dem Bundesgesundheitsministerium jedoch, »durch Rechtsverordnung anzuordnen, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist«. Zu diesem Schluss kam jedenfalls 2016 der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags . Eine allgemeine Impfpflicht müsse aber mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sein, hieß es damals.

Das Masernschutzgesetz etwa, das am 1. März 2020 in Kraft trat, sieht eine Impfpflicht für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr spätestens zum Eintritt in die Schule oder den Kindergarten vor. Zudem werden laut Gesundheitsministerium Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen oder medizinischen Einrichtungen tätig sind (soweit diese Personen nach 1970 geboren sind) sowie Asylbewerber und anerkannte Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften zur Masernimpfung verpflichtet. Das ist aktuell zwar nicht die gesamte Bevölkerung – die zukünftige aber schon. Außerdem gab es im Verlauf der deutschen Geschichte eine zeitweise Impfpflicht  unter anderem bei Pocken.

Strategie

Aussage: Moderator Peter Kloeppel fragte Baerbock, ab wann man sagen könne, dass die Gesellschaft mit dem Virus leben müsse wie mit jeder anderen Infektionskrankheit auch. Dazu sagte sie: »Wenn wir mit dem Impfen so weit sind, dass es keine große Gefährdung mehr für Kinder und Jugendliche, die nicht geimpft werden können, für chronisch Kranke, gibt.« Auf Kloeppels Nachfrage nach einer konkreten Zahl sagte Baerbock weiter: »Die Wissenschaft sagt ja deutlich, dass wir über 80 Prozent sein müssen, die dann in der Gesellschaft Geimpfte sein müssen.«

Hintergrund: Baerbock bezog sich darauf, dass bestimmte Gruppen der Bevölkerung nicht geimpft werden können.

Bewertung: Die Aussagen sind nur zum Teil richtig.

Begründung: Am 31. Mai 2021 wurde der Pfizer-/Biontech-Impfstoff für Jugendliche ab zwölf Jahren zugelassen , seit dem 13. August empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) eine Impfung für diese Altersgruppe . Für Kinder unter 12 Jahren gibt es bisher keine Zulassung oder Empfehlung. Was die Impfquote angeht, hat Baerbock im Grundsatz recht. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, dass Länder möglichst schnell eine Quote von mindestens 80 Prozent in der Erwachsenenbevölkerung erreichen sollten.

SOZIALPOLITIK

Armut

Aussage: Baerbock sagte, jedes fünfte Kind in Deutschland lebe in Armut.

Hintergrund: Es ging um die gewachsene soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik.

Bewertung: Baerbocks Aussage stimmt.

Begründung: Laut Paritätischem Wohlfahrtsverband  sind 20,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen von Armut betroffen, statistisch gesehen also mehr als jeder und jede Fünfte in dieser Gruppe. Die Quote der Betroffenen, die Hartz IV bekommen, ist allerdings leicht gesunken .

Ungleichheit

Aussage: Baerbock sprach darüber, dass die Einschulung für finanziell schwächere Familien eine große Belastung darstellen kann. Wenn der Schulranzen, das Sportzeug und die Schultüte gekauft werden müssten, könne es sein, dass eins davon wegfalle oder manche Kinder keinen neuen Schulranzen haben könnten.

Hintergrund: Baerbock war gefragt worden, ob sie der Ansicht sei, dass starke Schultern mehr tragen müssten, um ein besseres Zusammenleben in Deutschland zu ermöglichen.

Bewertung: Baerbocks Aussage lässt sich schwer nachprüfen.

Begründung: Es gibt für Kinder, die Hartz IV beziehen, Unterstützung für Anschaffungen wie Schulranzen. Das Bildungspaket umfasst 150 Euro im Jahr, das Jobcenter übernimmt die Kosten der Einschulung. Gesetzlich geregelt ist dieser Anspruch in Paragraf 28 des Sozialgesetzbuch II (SGB II). Außerdem wird mit dieser Unterstützungsleistung mit 15 Euro zusätzlich im Monat die Teilhabe an Sport und Kultur gefördert. Das bedeutet freilich nicht, dass diese Maßnahmen für alle Familien – insbesondere für Alleinerziehende – ausreichen beziehungsweise nicht stigmatisierend sind.

BÜNDNISOPTIONEN

Koalitionsfähigkeit der Linken

Aussage: Laschet hielt Scholz vor, die Partei Die Linke – ein zumindest rechnerisch denkbarer Koalitionspartner der SPD – sei gegen die Nato, gegen das Kommando Spezialkräfte (KSK) und wolle den Verfassungsschutz abschaffen. »Ich verstehe nicht, warum das so schwer ist für Sie zu sagen: Mit dieser Partei werde ich nicht koalieren«, sagte Laschet an Scholz gerichtet.

Hintergrund: Es ging um die Frage, unter welchen Umständen – wenn überhaupt – Scholz eine Koalition unter Beteiligung der Linken für möglich hielte. »Es muss ein klares Bekenntnis geben zur Nato«, sagte Scholz. Laschet forderte, Scholz müsse sich klarer gegen ein Bündnis mit den Linken positionieren.

Bewertung: Die Aussage Laschets, dass Die Linke die Auflösung der Nato fordert, stimmt – ebenso wie die Aussage, Die Linke sei für die Auflösung des Spezialverbands Kommando Spezialkräfte (KSK). Die Aussage, dass Die Linke den Verfassungsschutz abschaffen möchte, stimmt zum Teil. Die Partei will die Verfassungsschutzbehörde in der jetzigen Form auflösen und stattdessen eine unabhängige Beobachtungsstelle einsetzen.

Begründung: Entsprechende Passagen finden sich im Wahlprogramm der Linken . Dort heißt es über die Nato, man fordere ihre Auflösung und »Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das Abrüstung als ein zentrales Ziel hat«. Zudem heißt es, die Linke werde »in jeder politischen Konstellation dafür eintreten, dass Deutschland aus den militärischen Strukturen des Militärbündnisses austritt und die Bundeswehr dem Oberkommando der Nato entzogen wird«.

Ebenso heißt es im Linken-Programm, man wolle »die Spezialeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK) auflösen«. Und über den Verfassungsschutz heißt es, dieser schütze »nicht die Demokratie, sondern oft rechte Strukturen. Wir wollen die Verfassungsschutzbehörden in dieser Form auflösen.« Man wolle »antifaschistische Arbeit in der Zivilgesellschaft fördern und eine unabhängige Beobachtungsstelle einsetzen«.

Anmerkung der Redaktion: Bei der Bewertung der Aussage Annalena Baerbocks zur Förderung von Dienstwagen ist uns ein Fehler unterlaufen. Die Aussage Baerbocks ist im Grundsatz korrekt. Wir haben den Check entsprechend angepasst.

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