
Verteufelte Klimaschutz-Energie Redet endlich über Atomstrom!


Annalena Baerbocks Reaktion auf die vulgäre Vollentgleisung Boris Palmers hat ihr am Wochenende den Schimpftitel »Bundescanclerin« eingetragen. Darüber kann man schmunzeln, ebenso wie über Boris Palmers Versuche, am politischen Narrensaum der Republik Asyl zu beantragen. Was dieser Tage »Satire« oder »Ironie« ist, war früher »Magen-Darm«: die meistgebrauchte Entschuldigung für persönliche Absenzen oder einfach alles, was in die Hose geht.
Doch wenn wir schon von grüner oder gesamtgesellschaftlicher »Cancel Culture« reden, dann erscheinen mir andere Kräfte weitaus wirkmächtiger. Jene nämlich, die es schaffen, dass in der laufenden Klimaschutzdebatte ein Wort kein einziges Mal fällt – Atomkraft. Ich staune: Das Bundeskabinett will diese Woche die deutschen CO2-Reduktionsziele verschärfen und die Energiewirtschaft den größten Anteil schultern lassen. Trotzdem wird eine potenzielle Großkomponente dabei so beschwiegen, als existiere sie überhaupt nicht mehr. Bei allem Respekt vor der politischen Befriedung des Atomstreits: Das ist »Cancel Culture« at its best.
Zu konstatieren ist eine polit-gesellschaftliche Verscheuklappung, die alle Logik blockiert, die Regeln von Kosten-Nutzen-Analysen ignoriert und am Ende auch das Wesen von Politik selbst. Chapöchen, das muss man von interessierter Seite erst einmal hinkriegen, und dass kaum jemand widerspricht, auch.
Die Klimaschutzbewegung, in ihrer aktivistisch und parteipolitisch erlangten Breitenwirkung, will das Ziel von null nationalem CO2-Ausstoß absolut setzen. Alle Politikfelder und gesellschaftlichen Belange seien im Zweifel diesem Ziel unterzuordnen, heißt es, weil der Klimatod unserer Erde eine ähnlich absolute Gefahr darstelle. Allein: Ganz so absolut soll der Klimatod dann doch nicht zählen, als dass er auch über dem Tabu der Atomkraft rangieren würde, und sei sie hundertmal eine annähernd CO2-freie Form der Energiegewinnung. Fällt dieser Widerspruch nur mir auf?
Tatsächlich drängen die Klimafakten auf rasche und nachdrückliche Abwägung dessen, was wir künftig (noch) essen sollten, wie wir uns fortbewegen, wohnen und welche Industrien wir noch unterhalten sollten. Bei jeder einzelnen Maßnahme steht der finanzielle oder soziale Aufwand gegen den klimarettenden Nutzen, und die Parteien werden im Bundestagswahlkampf ausfechten, was im Einzelnen jeweils überwiegt. Aber warum ist die Atomkraft nicht einmal ansatzweise Gegenstand einer solchen Abwägung? Für die Grünen, aber nicht nur für sie, ist sie eine »Risikotechnologie«, und so kann man das natürlich sehen. Ich fürchte nur, dass die Rettung des Planeten, das Jahrhundertprojekt der Menschheit, nicht mehr ganz ohne Risiko zu haben sein wird. Viele andere europäische Länder sehen das ähnlich. Polen zum Beispiel möchte an der Grenze zu Deutschland ein neues Atomkraftwerk bauen, Frankreich hat die Laufzeiten verlängert. Die Internationale Energieagentur (IEA) der OECD erklärte 2017 einen deutlichen Atomausbau für nötig, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen. It's the Atomkraft, stupid.
»Ich werde es immer für unsinnig halten, technisch sichere Kernkraftwerke, die kein CO2 emittieren, abzuschalten«, sagte auch Angela Merkel ziemlich genau vor zehn Jahren. Dann führte ein Tsunami zum Reaktorunfall von Fukushima, und der SPIEGEL titelte: »12. März 2011, 15:36 Uhr. Das Ende des Atomzeitalters«. Und ja, bis in Deutschland ein neues Atomkraftwerk die Genehmigungen durchlaufen hätte, wären die Polkappen geschmolzen oder die Hölle zugefroren. Aber wie wäre es, auf die Laufzeitverlängerung der relativ modernsten deutschen Anlagen zurückzukommen? Sie war schon einmal beschlossen und wurde im Schock nach Fukushima gleich wieder kassiert. Das kam damals sehr hastig, in einer hoch emotionalisierten Lage, und vielleicht war anderes politisch nicht möglich. Aber gilt das angesichts der neuerlich verschärften Ansprüche heute auch noch? Politik ist, wenn man immer mal wieder guckt, ob man noch die richtige macht.
Längere Laufzeiten könnten den noch einmal wachsenden Kostendruck beim Übergang zu rein erneuerbaren Energien mildern. Es geht um Arbeitsplätze in stromintensiven Industrien, aber auch um soziale Brüche, die ansonsten mit Steuergeld geflickt werden müssen, weshalb die Grünen in ihrem Wahlprogramm bereits etliche solcher »Transformationsfonds« ankündigen. Natürlich handelt man sich mit einer Laufzeitverlängerung zusätzlichen Atommüll ein, der Millionen Jahre eine Gefahr darstellt. Aber machen ein paar Castoren mehr oder weniger an diesem Punkt wirklich einen qualitativen Unterschied – außer vielleicht für jene Aktivisten, die sich dann wieder im Gleisbett die Arme einbetonieren lassen müssten? Das ist doch ein Witz.
Auch wenn's weh tut: Wer heute mit jährlich Hunderttausenden Klimatoten oder Millionen Klimaflüchtlingen argumentiert, der muss einen zweiten Blick auf die tödlichen Risiken der Atomkraft wagen – und wie oft (oder selten) sie bislang Realität wurden. Wenn Deutschland nach eineinhalb Jahren Corona gleich in die nächste Rosskur zur Klimarettung gehen soll, schulden die Verantwortlichen die ideologiefreie Begutachtung aller Optionen, auch der Atomkraft. Und das ist keine Satire.