S.P.O.N. - Im Zweifel links Am Schmelzpunkt des sozialen Systems

Aufstand in London 2011: "Wenn die Gesellschaft kaputt ist, geht auch der Mensch kaputt"
Foto: Kerim Okten/ dpaAuf YouTube läuft der Vorfilm unserer Zukunft. August 2011, die Aufstände in London. Ein Student sitzt blutend am Boden, ein paar Jugendliche beugen sich über ihn, helfen ihm auf, öffnen langsam den Rucksack des Verletzten und räumen ihn aus. Sie lassen den jungen Mann, der sich nicht wehren kann, stehen. "Die sozialen Probleme, die sich seit Jahrzehnten entwickelt haben, sind vor unseren Augen explodiert", sagte der britische Premier Cameron damals. Er sprach von der "kaputten Gesellschaft". Das war ein Fortschritt. Gesellschaft - dieses Wort kommt einem britischen Konservativen nicht leicht von den Lippen. Aber wenn die Gesellschaft kaputt ist, geht auch der Mensch kaputt. Das wollten die Ideologen des Neoliberalismus lange Zeit nicht wahrhaben.
Jetzt fällt das plötzlich allen auf. Hatte sich einer vor Jahren auf den Marktplatz gestellt und gerufen: So geht es nicht weiter mit dem Kapitalismus, dann wären die Leute kopfschüttelnd weitergegangen oder der Staatsschutz wäre gekommen. Und heute, wer würde heute einem solchen Redner widersprechen?
Plötzlich erinnern sich alle, dass schon Marx gelehrt hat, die Geschichte des Kapitalismus sei die Geschichte seiner Krisen. "Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfallen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durchlauft, und deren Gipfelpunkt - die allgemeine Krise." Steht so im "Kapital". Daran muss man sich erst mal wieder gewöhnen. Das soziale Selbstverständnis des Westens ist durch die Finanzkrise so schwer angeschlagen, wie sein technologisches es nach der Explosion im Kernkraftwerk Fukushima war: Wir erleben den Super-Gau des Systems, die lange vorausgesagte, aber vielleicht nicht ernsthaft erwartete Katastrophe, den moralischen Meltdown.
Leugnen, bis der Arzt kommt, war gestern
Die Finanzkriminellen an den Märkten haben die Maßstäbe von Recht und Unrecht zertrümmert. Im Sommer 2012 mussten sich Top-Manager von HSBC, der größten europäischen Bank, einem Ausschuss des US-Senats stellen, weil ihr Haus offenbar jahrelang mexikanisches Drogengeld gewaschen hatte. Die Bank legte vorsorglich 700 Millionen Dollar für Strafzahlungen zurück. Zur selben Zeit meldete sie einen Gewinn in Höhe von 12,7 Milliarden Dollar.
Vor der Reise nach Washington ließ Stuart Gulliver, Chef der Bank, verlautbaren: "Wir werden uns entschuldigen, unsere Fehler einräumen, zu unseren Handlungen stehen und uns unmissverständlich dazu verpflichten geradezurücken, was schiefgelaufen ist." Das ist die professionelle Technik zeitgenössischen Krisenmanagements: Leugnen bis der Arzt kommt, war gestern. Es ist viel klüger einzuräumen, was offensichtlich ist, um Entschuldigung zu bitten, Besserung zu geloben - und manch einer macht dann einfach weiter wie vorher.
Schuld und Verantwortung werden zu Begriffen, die nicht mehr meinen, was sie bedeuten. Geld ist eine Frage des Vertrauens. Aber es geht um viel mehr als um die Wiederherstellung des Vertrauens der Märkte in sich selbst. In Wahrheit geht es um eine Krise des Vertrauens in das System und seine Begriffe: Gerechtigkeit, Recht, Verantwortung, Gesetz, Pflicht, Gleichheit, Vernunft, Fortschritt, Öffentlichkeit, Parlament, Regierung, Wahlen, Demokratie. Wir erleben die Aushöhlung und dann den Verlust dieser Begriffe.
Es gibt Schlauköpfe, die finden, man brauche gar keinen Wertevorrat mehr. Für sie gilt Peter Sloterdijks berühmte Zynismus-Definition: "Zynismus, als aufgeklärtes falsches Bewusstsein, ist eine hartgesotten-zwielichtige Klugheit geworden, die den Mut von sich abgespalten hat, alle Positivitäten a priori für Betrug hält und darauf aus ist, sich nur irgendwie durchzubringen." Das sind also die Zeitgenossen, die Apathie für Besonnenheit halten und Angst für Vernunft und Faulheit für Weitblick. Man kann es sich ja auch in der Kapitulation gut einrichten. Das Problem ist nur: Für eine Demokratie, die den Namen verdient, reicht das auf Dauer nicht aus. Im zynischen Exil gibt es keine Demokraten.
Es ist zu wenig, bei der Wahl die Stimme abzugeben
Wenn wir unsere Begriffe verlieren, dann verlieren wir die Möglichkeit, die Wirklichkeit zu verstehen. Der Finanzphysiker Emanuel Derman hat geschrieben: "Für Modelle der physikalischen Welt sind wieder gute Zeiten angebrochen. (...) Was jedoch Modelle für die soziale Welt angeht, sind die Zeiten schlecht." Und zwar weil die Modelle nicht mehr für Vorhersagen taugen. Wir haben eine Vorstellung davon, was ein Kanzler ist und ein Minister und ein Präsident und ein Bankier. Und wir haben solche Vorstellungen auch von einem Parlament, einer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt, einem Gericht. Und wir erwarten von diesen Personen und Institutionen ein bestimmtes Verhalten. Was tun wir, wenn die Personen und Institutionen diese Erwartungen enttäuschen?
Wir haben erlebt, dass die Bundeskanzlerin sich vom Bundesverfassungsgericht den Vorwurf gefallen lassen musste, in der Euro-Krise systematisch die Rechte des Bundestags verletzt zu haben. Das ist keine Kleinigkeit. Wenn wir uns über Demokratie unterhalten, müssen wir jetzt immer dazu sagen, dass wir darunter nicht dasselbe verstehen wie die Bundeskanzlerin.
Es geht darum, Begriffe zurückzuerobern: Gerechtigkeit, Gesetz, Gleichheit, Demokratie, Freiheit: Ein trübsinniger Kapitalismus hat uns diese Begriffe geraubt. Wir haben unsere Verantwortung delegiert - und dann ist sie im Dickicht furchtsamer Politiker, gieriger Banker und verständnisvoller Journalisten einfach verschwunden. Es ist zu wenig, bei der Wahl die Stimme abzugeben und danach zu schweigen.
Man kommt um die Frage nach den Handlungen nicht herum. Das richtige Bewusstsein allein schafft noch nicht das richtige Sein. Der Schriftsteller Ingo Schulze hat darüber nachgedacht und kommt zu dem Schluss: "Wir müssen über die Geste und die symbolische Handlung hinaus unseren Willen gewaltlos kundtun, und dies - wenn nötig - auch gegen den Widerstand der demokratisch gewählten Vertreter."
Es ist an der Zeit, wieder das Wünschen zu lernen. Und das Handeln.
Dies ist ein Auszug aus Jakob Augsteins Buch "Sabotage". Es ist am 29.7. im Münchner Hanser Verlag erschienen.