Jakob Augstein

S.P.O.N. - Im Zweifel links Tschüs, Solidarität!

Der Ausstand der Piloten war ein Lehrstück: Klassenkampf war vorgestern - solidarisch sind wir nur noch mit den Unternehmern. Aber warum sollen eigentlich Angestellte Verzicht üben, während Manager sich die Taschen füllen?
Pilotensprecher Handwerg vor Tafel mit annullierten Flügen: Prozess der Entsolidarisierung

Pilotensprecher Handwerg vor Tafel mit annullierten Flügen: Prozess der Entsolidarisierung

Foto: Boris Roessler/ dpa

Der Pilotenstreik ist erst mal vorüber. Bei der Lufthansa fielen 3800 Flüge aus, 425.000 Menschen waren betroffen, die Fluggesellschaft schätzt den Schaden auf bis zu 75 Millionen Euro. Das hat es noch nie gegeben. Nach Ostern könnte es weitergehen.

Eine Welle der Solidarität ist den Streikenden nicht entgegengeschlagen. Im Gegenteil. Angesichts eines Durchschnittslohns von 181.000 Euro fragte die "Bild"-Zeitung: "Sind die Lufthansa-Piloten völlig abgehoben?" Und die "FAZ" wunderte sich: "Darf jede Minderheit die Mehrheit zur Geisel nehmen?"  

Solche öffentlichen Reaktionen haben aus dem Streik eine gesellschaftspolitische Lehrstunde gemacht. Was tun die Piloten? Sie maximieren ihren Profit. Unternehmer und Manager verhalten sich so. Man erwartet es geradezu von ihnen. Bei allen anderen gilt das als anstößig. Wo kämen wir hin, wenn sich jeder so verhielte wie die Eliten?

Union will das Streikrecht beschränken

In der Union denkt man schon darüber nach, das Streikrecht zu ändern, wie es auch der Lufthansa-Chef fordert. Es könne nicht sein, dass eine Gewerkschaft, deren Mitglieder an wichtigen Schaltstellen säßen, ihre Position nutze, bei der Tarifentwicklung schneller voranzukommen als andere, sagte der Vizechef der CDU-Fraktion, Arnold Vaatz. Herr Vaatz hat sich diese Gedanken nicht gemacht, als zwischen 2003 und 2012 die Vorstände der 30 größten deutschen Unternehmen ihre Bezüge verdoppelten.

Wie kann es sein, dass Angestellte, die ihren Teil wollen, zu Gesellschaftsfeinden gestempelt werden?

Wie sehr uns die Maßstäbe durcheinandergeraten sind, zeigt diese Meldung der "Süddeutschen Zeitung", die auch von der Pressestelle der Lufthansa hätte kommen können: "Der Streik trifft das Unternehmen mitten in einem Sanierungsprogramm , durch das der Gewinn bis 2015 um 1,5 Milliarden Euro verbessert werden soll." Bislang dachte man, Sanierungsprogramme seien notleidenden Unternehmen vorbehalten - nicht solchen, die ihren Profit über die Milliardengrenze heben wollen.

Wir erleben einen Prozess der Entsolidarisierung. Er dauert schon lange. Wir wurden daran gewöhnt, dass man sich oben die Taschen füllt. Und wir sind schon so weit, dass wir eifersüchtig die Profite der Reichen beschützen. Wann gab es in Deutschland den letzten großen Protest? Das letzte Raunen, das durch die Menge ging? Die letzte echte Beunruhigung? Das war im Jahr 2003 der Streik der IG Metall in Ostdeutschland und ein Jahr später die Protestwelle gegen die sogenannten Hartz-IV-Reformen. Diese kurzen zwei Jahren, in denen es eine lebendige Opposition gegen den Umbau des westdeutschen Sozialsystems gab, sind längst in Vergessenheit geraten.

Der Klassenkampf ist längst entschieden

Der Streik der IG Metall - es ging um die Arbeitszeitverkürzung in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie - war ein Desaster. Es war vielleicht das Ende der herkömmlichen Arbeiterbewegung in Deutschland. Schon damals sprach die "Süddeutsche" von "Irrsinn", das "Handelsblatt" von "Anmaßung" und die "Zeit" von "Machtspielen" zum falschen Zeitpunkt. Das Bild der Gewerkschaften in der Öffentlichkeit war gekippt - und die IG Metall hatte es zu spät bemerkt.

In der Öffentlichkeit ist der Klassenkampf seitdem entschieden: die Zeitungen schreiben, dass Streiks den Unternehmen schaden, und damit der Wirtschaft, und damit dem Land, und damit uns allen. Nicht der Profiteur ist unsolidarisch - sondern der Streikende. Ver.di und IG Metall haben daraus gelernt. Große Arbeitskämpfe wagen sie nicht mehr. Dem deutschen Lohndumping der vergangenen Jahre haben sie tatenlos zugesehen.

Der Kapitalismus hat seinem Gegner, der organisierten Arbeiterklasse, den Garaus gemacht. Privatisierung und Preismechanismus herrschen. Früher war die Infrastruktur öffentlich. Vorbei. Früher galt die Regel: ein Betrieb, ein Tarifvertrag. Vorbei. Das lief alles unter dem Stichwort Deregulierung. Aber es gab eine unerwartete Nebenwirkung: eine neue Form von Arbeitnehmerprotest, den Aufstieg der kleinen Gewerkschaften, die aus gleichem Holz geschnitzt sind wie die Unternehmen.

Lokomotivführer, Fluglotsen, Piloten - wenig Leute, die über einen großen Hebel verfügen. Sie kümmern sich nicht um das Klassenbewusstsein, sondern um ihr Eigeninteresse. Ihre Gewerkschaften verhalten sich wie Firmen: Sie denken an sich selbst zuerst. Sie sorgen dafür, dass Angebot und Nachfrage in ein vernünftiges Gleichgewicht kommen. Die Lufthansa will, dass die Flugzeuge fliegen? Dann soll sie entsprechend bezahlen.

Eine Erinnerung für die großen Gewerkschaften: Wir brauchen nicht nur Piloten und Lokführer. Wir brauchen auch Krankenschwestern, Müllfahrer, Automechaniker, Callcenter-Mitarbeiter, Reinigungspersonal, Volksschullehrer, Zeitungsredakteure, Stahlarbeiter und, und, und...

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