S.P.O.N. - Im Zweifel links Demokratie wagen!
Am Wochenende feierten die Genossen in Berlin ihr Jubiläumsjahr. Zehntausende kamen. Schön für die gebeutelte Sozi-Seele. Noch schöner als ein gelungenes Fest wäre eine gewonnene Wahl. Aber man darf Zweifel haben, ob Kandidat und Partei das wirklich wollen. Denn auf die realistischen Optionen der Macht pfeifen die Sozialdemokraten: ein Bündnis mit der Linkspartei und eine Minderheitsregierung.
Der Wasserstand der Wählergunst nach der jüngsten Meldung des ARD Deutschlandtrend sieht so aus:
- Schwarz-Gelb steht bei 47 Prozent,
- Rot-Grün liegt bei 37 Prozent.
Da ist ein Regierungswechsel unwahrscheinlich, um es vorsichtig zu formulieren. Zählt man aber die acht Prozent der Linkspartei hinzu, steht es 47 zu 45. Das ist doch was! Das lässt sich aufholen! Wenn man will.
Aber eine Bundesregierung mit Links oder gar mit Minderheit - das sind immer noch die großen politischen Tabus in Deutschland. Und in den vergangenen Wochen haben sich Sozialdemokraten und Linke geradezu in die Hand versprochen, diese Tabus nicht zu verletzen. Merkel dankt! Aber was soll das? Sozialdemokraten und Linke müssten inzwischen bemerkt haben: Mit einem "Weiter so!" wird kein Genosse Kanzler.
Die Linken sind nicht "unkalkulierbar"
Was Rot-Rot angeht, will Linken-Chef Bernd Riexinger Spekulationen über mögliche Bündnisse gar nicht mehr kommentieren, um sie nicht zu "nähren". Und SPD-Chef Sigmar Gabriel hält "nichts davon, die Stabilität Deutschlands aufs Spiel zu setzen, nur um mit einer absolut unkalkulierbaren Partei ins Kanzleramt zu kommen". Sehr ehrenhaft. Der gute Gabriel kommt bestimmt mal in den Himmel. Die böse Angela hingegen ist im Kanzleramt. Denn vergleichbare Skrupel hatte Merkel nicht, als sie ihr klapperndes schwarz-gelbes Bündnis zusammenflickte.
Die SPD traut sich und ihrem möglichen Verbündeten so wenig zu. Erst vor kurzem hat Gysi den Preis für eine Koalition deutlich herabgesetzt: keine neuen Kampfeinsätze der Bundeswehr, mehr soziale Gerechtigkeit und Rentenangleichung zwischen Ost und West. Weder Nato noch Hartz IV müssen fallen. Und immer noch zieren sich die Genossen vor dem Regal anstatt zuzugreifen.
Was die Minderheitsregierung angeht, hält Linken-Ikone Gregor Gysi das für "nicht verantwortbar". Und Gabriel sagt, beinahe wortgleich über eine Tolerierung durch die Linken: "Das wäre unverantwortlich und deswegen wird es so was ganz sicher mit der SPD nicht geben." Dann ist man sich also immerhin in diesen Fragen völlig einig. Zu Unrecht. Die Linken sind nicht "unkalkulierbar" und eine Minderheitsregierung ist durchaus zu verantworten - wenn man sie richtig führt.
Hannelore Kraft hat das in Nordrhein-Westfalen vorgemacht. Da leben 17,5 Millionen Einwohner - immer noch. Die Düsseldorfer Minderheitsregierung hielt anderthalb Jahre und man sieht nicht, wie sie dem Land oder der Demokratie oder sonst wem geschadet haben könnte. Außer der CDU. Es ist ein Zeichen für die freiwillige Selbstbeschränkung der deutschen Medien und der deutschen Politik, dass die Minderheitsregierung in solchem Misskredit steht.
Das Wünschbare ins Machbare wandeln
Wenigstens der ehemalige Berliner Wirtschaftssenator Harald Wolf hat neulich in der Online-Ausgabe des Magazins "Cicero" ein Plädoyer dafür gehalten. "Wechselnde Mehrheiten bedeuten (...) einen Zugewinn an Demokratie, weil politische Entscheidungen wieder aus den Hinterzimmern der Koalitionsausschüsse und Kungelrunden ins Parlament verlagert werden und unterschiedliche politische Konzepte wieder deutlich werden."
Wohlgemerkt: Minderheitsregierung ist etwas anderes als Tolerierung. Die ist ja nichts als eine versteckte Koalition des schlechten Gewissens. Hannelore Kraft nannte ihre Regierung dagegen "Koalition der Einladungen". Was für ein hübsches Wort! Es liegt darin eine freundliche Leichtigkeit, die dem Denken in den Begriffen von Koalitionsdisziplin und vom Kleineren Übel längst abhanden gekommen ist. Bei zwei Haushalten konnte die Ministerpräsidentin auf die Linken setzen. Den "Schulkonsens" erreichten SPD und Grüne zusammen mit der CDU. Ihre Pläne zur Reform der Kommunalfinanzen wiederum fanden keine Unterstützung bei CDU und Linken, dafür aber bei der FDP.
Das ist kein politisches Chaos. Das nennt man Demokratie. Das hat auch Gysi noch nicht verstanden, der neulich gesagt hat: "Was soll eine Bevölkerung mit einer Bundesregierung anfangen, die in den Fragen A und B mit der Linken und bei den Fragen C und D mit der Union stimmt, dann vielleicht mit der FDP? Es widerspricht dem gegebenen Demokratieverständnis." Gerade dieses Verständnis gilt es endlich zu erneuern! Hannelore Kraft sagte ihrem Parlament am Ende: "Wir haben etwas vorangebracht, was anfangs niemand geglaubt hat und was der Demokratie gutgetan hat."
Wer sagt, Politik sei die Kunst des Machbaren, greift zu kurz. Politik ist die Kunst, das Wünschbare ins Machbare zu wandeln.
Mit den sagenhaften Worten "Mehr Demokratie wagen" begann Willy Brandts Kanzlerschaft. Inzwischen ist die Lage ernster geworden. Auf ein Mehr wagen wir gar nicht zu hoffen. Der Kanzlerkandidat der SPD sollte einfach plakatieren lassen: "Demokratie wagen!" Das wäre schon was. Aber will Peer Steinbrück das? Will die SPD das? Oder - mit Gregor Gysi: "Es geht immer um die Frage: Bleibt die SPD auf der Gegenseite oder nicht?"