Grünenspitze gegen Boris Palmer Ausgerechnet jetzt der schon wieder

Boris Palmer war einmal der Hoffnungsträger der Grünen, galt als ihr größtes politisches Talent
Foto: Sebastian Gollnow/ DPASie wollen ihn nicht mehr. Die grüne Spitze hat genug von Boris Palmer. Er dürfe auf keinerlei finanzielle oder logistische Unterstützung durch die Partei hoffen, sollte Palmer überlegen, 2022 noch einmal als Oberbürgermeisterkandidat in Tübingen anzutreten, erklärte Parteichefin Annalena Baerbock. Weitere parteiinterne Schritte gegen ihn würden geprüft.
Vielleicht ist das schon die Katastrophe, mit der die Tragödie um die Karriere von Boris Palmer endet, vielleicht ist es nur der vorläufige Höhepunkt. Viel deutlicher hätte sich die Partei jedenfalls nicht von ihm abwenden können.
Dass die Parteiführung das zu diesem Zeitpunkt tut, hat vor allem strategische Gründe. Denn bislang haben die Bundesgrünen Palmer ertragen. Ab und zu sagten sie, dass er nicht für die Partei spreche - dabei blieb es. Von ihm als Person distanzierten sie sich nicht.
Nicht, als Palmer sich während der Flüchtlingskrise mehrfach im Ton vergriff.
Nicht, als er das rüpelhafte Verhalten eines Radlers mit dessen Hautfarbe assoziierte und dann meinte, der Radfahrer müsse wohl Asylbewerber sein.
Nicht, als er sich über eine Werbekampagne der Deutschen Bahn aufregte: Er meinte, sich nicht in der abgebildeten Gesellschaft wiederzuerkennen, weil Menschen für die Bahn warben, die nicht weiß sind.
Palmers Rassismus hatte keine ernsthaften Konsequenzen.
Aber als Palmer nun mit einer Aussage zu Alten und Kranken provozierte, ging das der Grünenspitze zu weit. Als er während der Coronakrise im "Sat.1-Frühstücksfernsehen" sagte, in Deutschland würden möglicherweise Menschen gerettet, die in einem halben Jahr sowieso tot wären - aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.
Das ist ein erbarmungsloser Satz. Palmer schließt damit die Schwachen aus der Gesellschaft aus. Schlimmer noch: Er scheint infrage zu stellen, ob es überhaupt wert ist, um die Leben von Alten und Kranken zu kämpfen.
Palmer hat sich dafür entschuldigt, viel schneller, als er sich früher für viele andere Entgleisungen entschuldigt hat. Gleichzeitig hat er zu einer Erklärung seiner These angesetzt. Im Kern lässt sie sich einfach zusammenfassen: Auch eine Wirtschaftskrise kostet Leben. Gegen den Vorwurf, er messe unterschiedlichen Leben unterschiedlich viel Wert bei, wehrt er sich. "Der Wert jedes menschlichen Lebens ist gleich", schreibt er.
Die Parteiführung hätte ihm das glauben können. Sie hätte, wie die vielen Male zuvor, sagen können, dass Palmers Absicht nicht die Haltung der Grünen sei, sie hätte dem Druck aus den eigenen Reihen standhalten können. Sie hätte Palmers Provokation einmal mehr aussitzen können.
Das wollte sie diesmal nicht mehr.
Die Grünen sind angeschlagen. Nach zwei Jahren Höhenflug, während derer den Parteichefs Robert Habeck und Annalena Baerbock ein politischer Paartanz attestiert wurde, dem ein Zauber innewohne ("Stern"), nach den besten Wahlergebnissen ihrer Geschichte und einem Magazincover nach dem anderen sinken ihre Werte in der Krise. Einige Umfragen sehen sie hinter der SPD, die in den vergangenen zwei Jahren nun wahrlich keine gute Figur machte.
Das grüne Establishment kann, nein, will sich den anstrengenden Querulanten Palmer nicht mehr leisten. Wenn die Partei in der Coronakrise um Aufmerksamkeit ringt, dann soll in der Öffentlichkeit nicht ausgerechnet das Bild einer altenfeindlichen, herzlosen Partei verfangen. Das ambitionierte Spitzenduo kann einen Parteifreund, der solche Schlagzeilen produziert, nicht gebrauchen.
Baerbock und Habeck wollen keine Hindernisse auf ihrem Marsch in die Mitte. Will man in Deutschland an die Macht, dann darf man es sich nicht mit den Älteren verscherzen, einer der größten Wählergruppen.
Diesen Fehler hat einmal der frühere und mittlerweile verstorbene Junge-Unions-Chef Philipp Mißfelder gemacht, als er sagte, er halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekämen. Die Aussage blieb an ihm kleben wie ein Katzenhaar am Sofa.
Die Grünen wollen wachsen. Gerade bei älteren Wählern haben sie großes Potenzial. Wer eine Volkspartei werden will, darf die Wähler über 60 Jahre nicht gegen sich aufbringen.
Paradoxerweise war Palmer einer der Ersten, die ein Konzept erarbeiteten, wie die Grünen die Mitte erobern könnten. Bereits 2011 legte er ein Strategiepapier vor, das großen Unmut in der Partei auslöste, weil Palmer folgenden Satz geschrieben hatte: "Das uneingeschränkte Adoptionsrecht für homosexuelle Paare ist vorerst keine Forderung, mit der sich 25 Prozent der Deutschen gewinnen lassen."
Palmer war schon immer ein Provokateur. Als er 2012 aus dem Parteirat der Grünen flog, sagte er: "Mein Erfolg beruht darauf, dass ich so kantig und eckig bin, wie ich bin. Anpassung gibt es nicht."
Die Grünen aber haben sich auf ihrem Gang in die Mitte an diese angepasst - und die Mitte hat sich auf die Grünen zubewegt. Das Adoptionsrecht für schwule und lesbische Paare etwa ist längst mehrheitsfähig.
Palmer jedoch mag sich nicht anpassen. So passt er nicht mehr zu den Grünen.