Baden-Württemberg Kretschmann knackt die Union

Winfried Kretschmann (Grüne), Thomas Strobl (CDU)
Foto: Philip Schwarz/ dpaSeit Mittwoch herrscht im Südwesten Deutschlands verkehrte Welt. Jahrzehntelang stellte die CDU in Baden-Württemberg den Ministerpräsidenten, oft holte sie die absolute Mehrheit. Davon ist kaum etwas übrig: Jetzt strebt die Union eine gemeinsame Regierung mit den Grünen an. Allerdings in der Rolle des Juniorpartners, als kleiner Bruder an der Seite von Grünen-Ministerpräsident Winfried Kretschmann.
Die CDU-Landtagsfraktion und der Landesvorstand beschlossen im Laufe des Tages, dass sie zu Koalitionsverhandlungen bereit sind. Damit ist der Weg für Gespräche über eine Regierungsbildung frei, die Grünen waren von Anfang an dafür offen. Gerade für das bürgerlich-konservative Baden-Württemberg wäre dieses Bündnis spektakulär.
Was bedeutet Grün-Schwarz für Land und Bund? Welche Personen muss man im Blick behalten? Kann noch etwas schiefgehen? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Warum wäre Grün-Schwarz eine Sensation?
Eine grün-schwarze Regierung stünde für die neuen Kräfteverhältnisse im einstigen Stammland der CDU. Laufen die Koalitionsgespräche gut, ist die CDU erstmals in ihrer Geschichte Juniorpartner der Grünen. In Hessen regieren Grüne und Schwarze bereits zusammen, aber unter Führung der Union.
Auch im Bund kann eine "Kiwi-Koalition", wie Grün-Schwarz scherzhaft genannt wird, Folgen haben. Die Grünen haben mit Kretschmann ein neues Aushängeschild, der 67-Jährige ist im SPIEGEL-Politiker-Ranking beliebter als Angela Merkels Ministerriege. Seiner Bundespartei beschert er gerade einen kleinen Umfrage-Aufwind. Kretschmann hat die Bundespolitik zwar für sich ausgeschlossen. Trotzdem könnte seine mögliche Koalition mit der CDU die Grünen auch im Bund als Verhandlungspartner stärken. Grün-Schwarz im großen Stil wird damit wahrscheinlicher.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Koalitionsgespräche könnten schon am Freitag starten. Bis Ende April müssen die Verhandlungen beendet sein, am 12. Mai soll der Landtag in Stuttgart den Regierungschef wählen. Beide Seiten dürften die maximal mögliche Zeit für einen Koalitionsdeal ausreizen, um der Anhängerschaft zu zeigen: Hier wird bis zuletzt gefeilscht. Schließlich geht es bei solchen Verhandlungen vor allem um Glaubwürdigkeit. Zwei Rivalen müssen in unruhigen Zeiten eine stabile Regierung bilden - ohne dass das eigene Profil zu sehr leidet.
Kann Grün-Schwarz noch platzen?
Solange kein Koalitionsvertrag steht, ist niemand zum Regieren verpflichtet. Auch verbindet beide Parteien wenig miteinander. Aus der Opposition heraus attackierte die Union die Grünen heftig, umgekehrt war es nicht anders. Dass nun eine "Verlobung" bevorsteht, wie Kretschmann flachst, ist reichlich übertrieben: Grün-Schwarz wäre vor allem ein Zweckbündnis. Es gibt schlichtweg keine andere Option. Andere Möglichkeiten hatten sich zerschlagen.
Trotzdem spricht mehr für erfolgreiche Koalitionsgespräche als dagegen. Sowohl CDU als auch Grüne wollen Neuwahlen vermeiden, auch aus Furcht vor wachsender Zustimmung für die Alternative für Deutschland (AfD). Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass ein Partner die Gespräche impulsiv aufkündigt. Viele Differenzen, die während der Sondierungen auftauchten, gelten als lösbar.
Wo muss man sich zusammenraufen?
In Baden-Württemberg ist Bildungspolitik ein Riesenthema. Grün-Rot hatte die Gemeinschaftsschule eingeführt, die Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialabschlüsse unter einem Dach anbietet. Die CDU will auf keinen Fall neue davon erlauben, die Grünen schon. Denkbar ist ein Kompromiss, der das Modell für einen bestimmten Zeitraum genehmigt. Auch bei der Windkraft gehen die Vorstellungen auseinander: Kretschmann will beim Ausbau von Windrädern aufholen, die Union die Standortauswahl einschränken.
Es gibt aber auch Konsens. Die CDU fordert mehr Personal und eine bessere Ausrüstung für die Polizei. Dagegen dürften sich die Grünen kaum wehren, solange man eine Finanzierung hinkriegt. Einig ist man sich bei der Digitalisierung, beide Seiten wollen in Breitband investieren. Außerdem wollen sich Grüne und Union an die im Grundgesetz vorgesehene Schuldenbremse halten.
Wen muss man im Blick behalten?
Neben Kretschmann ist CDU-Landeschef Thomas Strobl eine spannende Person. In der Bundes-CDU ist er einer von Merkels Stellvertretern, nun könnte er in einem grün-schwarzen Kabinett landen, womöglich sogar als Innenminister und Vizeregierungschef. "Ich kenne ihn seit vielen Jahren, und er hat mein Vertrauen noch nicht enttäuscht", sagt Strobl über Kretschmann. Der glücklose Spitzenkandidat Guido Wolf ist trotz Rücktrittsforderungen weiter CDU-Fraktionschef. Noch ist unklar, ob er sich eine Schlüsselrolle im Kabinett sichern kann.
Im Blick behalten muss man die vielen Unbekannten in einem möglichen neuen Kabinett: In der CDU-Landtagsfraktion sitzen nur wenige Politiker, denen ein Ministeramt zugetraut wird. Außerdem hatte Wolf im Wahlkampf versprochen, die Hälfte der Posten mit Frauen zu besetzen. Auch bei den Grünen sind Überraschungen möglich, einzelne Minister könnten ausgetauscht, einige Ministerien neu zugeschnitten werden.
Zusammengefasst: Wenn nicht mehr ernsthaft etwas dazwischenkommt, hat Baden-Württemberg ab Mai die erste grün-schwarze Regierung Deutschlands. Die CDU ist zu offiziellen Koalitionsverhandlungen mit den Grünen bereit. Für die meisten Konflikte dürften Grüne und Union Kompromisse finden. Das müssen sie auch - denn Neuwahlen wollen beide Seiten um jeden Preis vermeiden.