Bamf-Präsident zur Flüchtlingskrise "Wahrscheinlich werden diese Zahlen noch steigen"

Syrien-Flüchtlinge in der Türkei: Warten auf die zweite Chance
Foto: AP/dpaNach Deutschland werden in diesem Jahr mehr Asylbewerber kommen als jemals zuvor - wie sollen Politik, Bürger und Behörden mit ihnen umgehen? Der Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf), Manfred Schmidt, spricht sich im Interview für härtere Maßnahmen aus, um den Zuzug der Asylbewerber aus den Balkanländern zu senken - und erklärt, welche Perspektive Deutschland afrikanischen Flüchtlingen bieten kann.
Er sei überzeugt, dass die deutsche Gesellschaft die vielen Flüchtlinge aus Syrien gut integrieren könne, so Schmidt.
Lesen Sie hier das ganze Interview:
SPIEGEL ONLINE: Herr Schmidt, immer mehr Flüchtlinge kommen nach Deutschland - in diesem Jahr rechnen Sie mit 800.000 Asylanträgen - das ist eine Vervierfachung gegenüber dem letzten Jahr. Werden die Zahlen weiter ansteigen?
Manfred Schmidt: Das ist schwierig zu sagen. Ob wir nächstes Jahr ähnlich hohe Zahlen haben, wird auch davon abhängen, ob es uns gelingt, den Zuzug aus den Balkanländern wie Serbien und Albanien zu senken - Menschen, die aus dieser Region kommen, werden so gut wie nie als Flüchtling oder Asylberechtigte anerkannt, machen aber rund 40 Prozent der Asylbewerber aus.
SPIEGEL ONLINE: Wie sieht der Trend bei den syrischen Flüchtlingen aus? Hunderttausende warten in der Türkei darauf, dass sie weiter nach Mittel- oder Westeuropa ziehen können.
Schmidt: Die Syrer machten 2015 bislang die größte Gruppe unter den Asylbewerbern aus, und das Innenministerium hat seine Prognose auch deshalb so stark erhöht, weil in den Sommermonaten sehr viele Syrer und auch Iraker über die Ägäis nach Deutschland gekommen sind. Wahrscheinlich werden diese Zahlen noch steigen. Die Situation in den Transitländern, zum Beispiel in der Türkei und im Libanon, wird schlechter. Und die Hoffnungslosigkeit der Syrer wird immer größer: Viele Syrer, die in Nachbarländer geflohen sind, hatten die Idee zurückzugehen. Aber jetzt merken sie: In Syrien wird die Lage immer schlimmer. Und im Libanon oder der Türkei sehen sie auch keine Perspektive. Viele Kinder haben seit Jahren nicht die Möglichkeit, in die Schule zu gehen. Es wächst dort eine verlorene Generation heran. Das Ergebnis: Die Menschen wollen jetzt dahin, wo sie eine Chance sehen, ihr Leben aufzubauen. Hinzu kommen werden in den nächsten Jahren noch schätzungsweise bis zu 200.000 Familienangehörige von Syrern, die in Deutschland ein Aufenthaltsrecht bekommen.

Flüchtlinge aus Afrika in Bayern: "Sie sehen keine Perspektive"
Foto: Andreas Gebert/ picture alliance / dpaSPIEGEL ONLINE: Es sind in den vergangenen Jahren auch immer mehr Flüchtlinge aus dem subsaharischen Afrika gekommen, viele von ihnen aus wirtschaftlicher Not. Die Bevölkerung in Afrika wird sich schätzungsweise bis 2100 fast vervierfachen. Müssen wir mehr über die afrikanischen Flüchtlinge sprechen?
Schmidt: Man muss hier deutlich unterscheiden: Auf der einen Seite gibt es Asylbewerber aus Ländern wie Eritrea oder Somalia, die aus politischen Gründen fliehen. Oder Nigerianer, die der islamistischen Boko Haram-Miliz entkommen. Auf der anderen Seite verlassen aber auch sehr viele Menschen aus anderen westafrikanischen Ländern ihre Heimat, weil sie eine zweite Chance wollen. Sie sehen wirtschaftlich keine Lebensperspektive in ihrem Land und wollen nach Europa beziehungsweise Deutschland, um zu arbeiten und ihre Familie in Afrika zu unterstützten.
SPIEGEL ONLINE: Die Situation dort ist nicht erst seit ein paar Jahren schwierig - wie erklären Sie sich den aktuellen Anstieg?
Schmidt: Die Welt ist in den letzten 20 Jahren kleiner geworden, es gibt durch Internet und Handy mehr Informationen. So spricht sich herum, dass Deutschland der Wirtschaftsmotor in Europa ist, dass hier Arbeitskräfte gesucht werden, dass es hier sicher und geordnet zugeht. Wenn man sich manchmal mit Flüchtlingen unterhält, schildern die Situationen, die für uns so selbstverständlich sind, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen. Ein Mann sagte mir: "Das finden wir super, bei euch gibt es eine rote Ampel, und die Menschen bleiben stehen." Unser Ruf im Ausland ist wesentlich besser, als wir denken.
SPIEGEL ONLINE: Welche Perspektive kann Deutschland diesen Flüchtlingen bieten?
Schmidt: Wir müssen den Menschen vermitteln, dass der Weg über das Asylsystem für sie nicht der richtige Weg nach Deutschland ist und auch in den afrikanischen Ländern selbst deutlich machen, dass es legale Wege gibt, als Arbeitskraft nach Deutschland einzuwandern - zum Beispiel für Mangelberufe im Pflege- oder Gesundheitswesen. Denkbar wäre es auch, Ausbildungsabkommen mit afrikanischen Ländern abzuschließen. Aber natürlich ist es auch nicht realistisch und nicht sinnvoll, dass das gesamte Arbeitskräftepotenzial Westafrikas in Deutschland unterkommt, insofern müssen wir weiter darin investieren, in den Ländern selbst gute Strukturen aufzubauen.
SPIEGEL ONLINE: Noch immer steigen die Zuzugszahlen aus den Balkanländern leicht an - trotz aller Kampagnen und Interviews vor Ort, die den Menschen klar machen sollen, dass sie keine Chance auf Asyl in Deutschland haben. Was soll denn gegen den Zuzug helfen?
Schmidt: Da müssen mehrere Maßnahmen zusammen greifen. Wir brauchen natürlich schnelle Verfahren, dann den schnellen Vollzug der Ausweisung - und schließlich müssen wir auch rechtliche Maßnahmen ergreifen, wie zum Beispiel Wiedereinreisesperren für Menschen, deren Antrag abgelehnt wurde, wie es das gerade in Kraft getretene Gesetz nun ermöglicht. Außerdem brauchen wir viel mehr Richterstellen, denn rund die Hälfte aller Asylentscheidungen für Menschen aus dem Balkan werden angefochten und müssen vor Gericht. Am Beispiel Kosovo sehen wir, dass schnelle Verfahren wirken. Im Februar 2015 kamen täglich bis zu 1600 Menschen von dort hierher. Diese Zahl ist auf unter 60 gesunken.
SPIEGEL ONLINE: Der SPD-Oberbürgermeister von Erfurt hat gefordert, dass Kinder von Asylbewerbern aus sicheren Herkunftsstaaten erst dann zur Schule gehen dürfen, wenn ihr Asylantrag entschieden ist. Trägt man damit nicht die Debatte auf dem Rücken der Schwächsten aus?
Schmidt: Das klingt erst einmal grausam. Aber letztlich weiß ich nicht, was für die Kinder schlimmer ist: Vorgegaukelt zu bekommen, hier bleiben zu dürfen, sich für drei Monate in eine Schulklasse einzufügen, um dann wieder in ihre Heimat zurückgeschickt zu werden, oder von vornherein klar zu machen: Ihr dürft hier höchstwahrscheinlich nicht bleiben. Letztlich halte ich diesen Vorstoß für konsequent.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben auch angeregt, Bargeldleistungen für Asylbewerber aus dem Balkan zu streichen. Warum?
Schmidt: Wir müssen das für die sicheren Herkunftsländer ernsthaft erwägen. Die Menschen von dort sagen uns zum Teil: Wenn wir drei, vier Monate hier sind, können wir uns mit dem Geld, das wir hier bekommen, bis zu einem Jahr in unserer Heimat finanzieren. Das gilt zum Beispiel für eine fünfköpfige Familie aus Albanien, die in drei Monaten neben Kleidung, Nahrung und Hygieneartikeln in den Erstunterkünften über 1600 Euro bekommt, während der Durchschnittslohn etwa in ländlichen Gebieten Albaniens bei 200 Euro im Monat liegt. Das Bargeld scheint also ein Anreiz zu sein, der dazu beiträgt, dass die Menschen hierher kommen, obwohl sie dann fast immer wieder gehen müssen.
SPIEGEL ONLINE: Wenn die Asylverfahren schneller entschieden würden, dann würden diese Menschen nicht monatelang Taschengeld bekommen.
Schmidt: Ist es besser, den Anreiz beizubehalten und eine fünfköpfige Familie erst hierher ziehen zu lassen, um sie dann schnell wieder zurückzuschicken, als diesen Pullfaktor von vornherein wegzulassen? Diese Logik verstehe ich nicht.

Flüchtlinge in Griechenland: "Bilder haben eine große Macht"
Foto: ACHILLEAS ZAVALLIS/ AFPSPIEGEL ONLINE: Es liegen schon jetzt rund 250.000 Anträge in Ihrem Amt unbearbeitet, nun kommen Hunderttausende dazu. Wie wollen Sie das abarbeiten?
Schmidt: Es wird neue Entscheidungszentren in mehreren Städten geben, und tausend neue Mitarbeiter werden in diesem Jahr eingestellt, 2016 kommen noch mal bis zu 1000 weitere hinzu. Das macht sich bereits bemerkbar: Bis Juli haben wir bereits mehr Anträge bearbeitet als im gesamten Jahr 2014. Wir gehen davon aus, dass wir in den nächsten sechs Monaten noch einmal bis zu 200.000 Entscheidungen treffen können.
SPIEGEL ONLINE: Wie viele Flüchtlinge kann Deutschland denn noch aufnehmen?
Schmidt: Es kann für die Aufnahme von Menschen, die vor Verfolgung fliehen und Schutz brauchen, keine Grenze nach oben geben.
SPIEGEL ONLINE: Sind wir als Gesellschaft darauf vorbereitet, die vielen syrischen Flüchtlinge zu integrieren?
Schmidt: Ja, davon bin ich überzeugt. Es gibt ein ungeheures Engagement der Menschen in Deutschland. Einmal Heidenau - dagegen kann man 100 oder 200 Mal Ehrenamt stellen. Im Übrigen nehmen die Syrer, die ich kennengelernt habe, ihre Chance in Deutschland mit großer Anstrengung wahr. Sie wissen, dass hier ihr zweites Leben beginnt.
SPIEGEL ONLINE: Fast täglich gibt es derzeit Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte. Überrascht Sie dieses Ausmaß der Fremdenfeindlichkeit?
Schmidt: Nach den fremdenfeindlichen Ausschreitungen Anfang der Neunzigerjahre hatte ich die Hoffnung, dass diese dunkle Zeit hinter uns liegt. So ist das aber leider nicht. Was wir jetzt in Heidenau erlebt haben, das sind Kriminelle, denen man nicht anders beikommt, als mit Mitteln der Strafverfolgung. Aber ich bin sicher, dass die Gesellschaft in ihrer großen Mehrheit viel weiter ist als damals. Was mir übrigens immer wieder auffällt: Das Thema ist insgesamt sehr emotional. Bilder von Flüchtlingen haben eine große Macht - wenn darauf zum Beispiel nur junge Männer zu sehen sind, dann reagieren viele abwehrend. Sobald aber Kinder und Familien auf den Fotos sind, steigt das Mitgefühl enorm.

Der promovierte Jurist Manfred Schmidt, Jahrgang 1959, ist seit gut fünf Jahren Chef des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg.
Zuvor war er in unterschiedlichen Funktionen im Bundesinnenministerium tätig. Das BAMF ist unter anderem für die Entscheidung über Asylanträge zuständig, außerdem soll es sich um die Integration von Zuwanderern kümmern.