
S.P.O.N. - Der Schwarze Kanal Gender-Politik: Mitleid mit Martenstein

Ich habe Harald Martenstein immer beneidet. Jede Woche schreibt er für das "Zeit Magazin" eine Kolumne, in der er sich seine Gedanken zum Zeitgeschehen macht, was in seinem Fall unter Humor läuft. Ich finde, dass wir politisch gar nicht so weit auseinanderliegen. Oft haben wir sogar dieselben Themen. Aber während ich dafür von den Lesern regelmäßig an den Ohren gezogen werde ("Fleischhauer, friss Atommüll, Arschloch!"), ruht er auf einer Wolke aus Anerkennung.
Er hat den begehrten Nannen-Preis bekommen, den nur alle fünf Jahre verliehenen Curt-Goetz-Ring und den Theodor-Wolff-Preis. Sollte es demnächst eine Ehrung für den meistdekorierten Kolumnisten des Landes geben, Martenstein würde sicher auch die gewinnen. Wenn man ihn bei einem seiner öffentlichen Auftritte erleben will, muss man Monate im Voraus Karten buchen. Andere veranstalten Autorenlesungen, Martenstein feiert im Kreis seiner Bewunderer Textséancen.
Jetzt aber hat es auch Martenstein richtig erwischt. Er halte sich sicher für "liberal, aufgeschlossen, aufgeklärt", schrieb am Dienstag der berühmte Medienjournalist Stefan Niggemeier in seinem Blog über den noch berühmteren Kollegen. Tatsächlich liefere er dem bürgerlichen "Zeit"-Publikum aber "dieselbe Mischung aus Ignoranz, Intoleranz und Desinteresse an Fakten", wie sie auch die "Bild" auszeichne.
Was ist passiert, mögen Sie sich fragen. Hat Martenstein plötzlich die Beherrschung verloren und angefangen, wild herumzukrakeelen? Hat er einen rassistischen Witz gemacht oder sich frauenfeindlich verhalten? Nein, der Mann von der liberalen, aufgeschlossenen "Zeit" hat sich in seiner Kolumne der vergangenen Woche über einen Beschluss der Bezirksversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg mokiert, neben den Toiletten für Männer und Frauen auch sogenannte "Unisex-Toiletten" für Menschen einzurichten, die nicht so genau sagen können, ob sie nun Mann oder Frau sind.
Man darf sich in der "Zeit" über alles Mögliche auslassen, ohne dass dies Konsequenz hätte: über weiblichen Führungsstil, Tierschutz oder vermeintliche Nazis im Kulturbetrieb. Sogar das Holocaust-Mahnmal war bei Martenstein schon mal Anlass für Sottisen, ohne dass dies Anstoß erregt hätte. Nur mit den Sorgen der sexuell Unentschlossenen, beziehungsweise "Transgender", sollte man keine Scherze treiben. Da hört der Spaß auf, wie man sieht.
"Er beweist, wie wenig ihn die Nöte und Befindlichkeiten anderer Menschen tatsächlich interessieren", schreibt Niggemeier über Martenstein, und Niggemeiers Leser sehen das offenbar ganz ähnlich. Ein "selbstverliebter Dutzendsassa" sei der "Zeit"-Kolumnist. Die ersten vergleichen Martenstein schon mit Franz Josef Wagner, dem Gottseibeiuns von der schrecklichen "Bild"-Zeitung. Man darf gespannt sein, wie es jetzt mit dem armen Mann weitergeht.
Genderpolitik ist ein ernstes Thema. Kein Wunder, schließlich ernährt es mittlerweile einen riesigen Apparat. Es ist schwer, einen Überblick zu bekommen, wie viele Menschen davon leben, dass sie anderen erklären, warum Geschlecht nur ein soziales Konstrukt ist. Aber man darf getrost davon ausgehen, dass diese Minderheit nicht mehr ganz so klein ist.
Kaum ein Studienfach hat in den vergangenen Jahren eine solche Karriere hingelegt wie die von der modernen Geschlechtertheorie inspirierten Gender Studies. An deutschen Hochschulen gibt es inzwischen über 40 entsprechende Institute und Einrichtungen, darüber hinaus hat sich die Gender-Forschung an nahezu jedem geisteswissenschaftlichen Lehrstuhl etabliert. Auch im Verwaltungsalltag ist die moderne Gendertheorie längst angekommen. Jede Landesregierung, die etwas auf sich hält, fühlt sich der Förderung der Geschlechterneutralität verpflichtet, was man nicht mit gängiger Quotenpolitik verwechseln sollte.
Das ist ein bemerkenswerter Erfolg für eine Theorie, die ihren Ursprung in den Seminarräumen der philologischen Fakultät einer kalifornischen Hochschule hat und bis heute ohne jede wissenschaftlich nachprüfbare Fakten auskommt. Dass Menschen sich nicht entscheiden können, ob sie sich als Männer oder Frauen fühlen, mag vorkommen - auf der Überwindung des biologischen Geschlechts aber ein Konzept aufzubauen, das dann Richtlinie staatlichen Handelns wird, verlangt einiges an Phantasie. Der klassische Feminismus hat sich aus gutem Grund bescheidenere und in jedem Fall pragmatischere Ziele gesetzt wie die Veränderung der Machtverhältnisse.
Wenn man einmal angefangen hat, über die Benachteiligung der Andersgeschlechtlichen nachzudenken, kommt man zu einer ganzen Reihe von Reformvorschlägen, um auch dem "Dritten Geschlecht" zu seiner rechtmäßigen Anerkennung zu verhelfen. Dazu gehört ein Verbot der Ehe und damit ein Ende der "unsäglichen Subventionierung heterosexueller Liebe durch das Ehegattensplitting", wie es die Nachwuchsorganisation der Grünen schon vor Jahren gefordert hat. In einem weiteren Schritt ist man dann bei der Abschaffung von "Geschlechtsangaben in Pässen" und der Einführung einer "gegenderten Sprache" im Rahmen der nächsten Rechtschreibreform.
Kleiner Tipp: Wer wirklich fortschrittlich denkt, schreibt "BäckermeisterInnen" heute nicht mehr allein mit großem "I", um seine Sensibilität zu bekunden: "Bäckermeister_innen" ist die gendermäßig korrekte Schreibweise, weil sie über den Unterstrich auch alle sexuell Uneindeutigen einschließt.
Die geschlechtspolitisch derzeit anspruchsvollste Frage ist zweifellos, wie sich die Genderdiskussion mit der Debatte um die Frauenquote verträgt, die bis nach Brüssel gerade alle politischen Instanzen beschäftigt. Zeigt das Beharren auf Quoten nicht eine Fixierung auf die bipolare Geschlechterordnung, wie man sie eigentlich überwinden will? Oder anders gesagt: Wie geht man korrekt mit jemandem um, der zwar äußerlich alle Attribute eines Mannes trägt, sich aber der "Selbstkategorisierung in das binäre Geschlechtersystem" verweigert? Muss es für solche Menschen demnächst eine eigene Unisex-Quote geben? Oder sollte man künftig auch Männern erlauben, Frauenstellen einzunehmen, wenn sie geltend machen, dass sie sich meist als Frau fühlen?
Man sieht, hier warten noch einige Herausforderungen. Dagegen ist die Einrichtung einer Unisex-Toilette noch ein vergleichsweise leicht zu lösendes Problem: Im Zweifel schraubt man einfach das Schild ab.
Ergänzung: Kaum etwas ist so flüchtig wie der Fortschritt: Auch der Unterstrich als Genderzeichen ist schon wiedet veraltet, wie ich im Forum lernen musste (Dank an "fredheine", Benutzer seit 14.10.2009!). Wer rechtschreibmäßig wirklich auf der Höhe der Zeit sein will, schreibt BäckermeisterInnen heute mit "Genderstar" , also: Bäckermeister*innen. Der Stern steht für die Vielfalt an Varianten, die Transgender haben kann.