Jan Fleischhauer

Leben in Berlin Das Venezuela Deutschlands

Tote kommen nicht unter die Erde, Geburtsurkunden dauern Monate, jeder Behördengang ist eine Qual: Wer Sehnsucht nach einer linken Sammlungsbewegung hat, sollte sich den Alltag im rot-rot-grün regierten Berlin anschauen.
Michael Müller

Michael Müller

Foto: Gregor Fischer/ dpa

Eine Geschichte aus der großen Stadt. Ein Mann, Schriftsteller und ehemaliger Mediziner, seit Längerem in Rente, glaubt im Lebenslauf der Sprecherin der Stadtregierung Unstimmigkeiten entdeckt zu haben. Die Immobilienfirma, bei der sie angeblich eine Leitungsfunktion innehatte, findet sich nicht im elektronischen Handelsregister. Ein Studium an der Fernuni Hagen dauerte offenbar nicht sechs Jahre, wie von ihr angeben, sondern eher 13. Auch was ihre frühere Tätigkeit als Journalistin angeht, gibt es aus seiner Sicht Fragen.

Der Mann trägt seine Rechercheergebnisse in einem 79 Seiten umfassenden Dossier zusammen, das er an den Bürgermeister der Stadt und die Fraktionschefs der im Abgeordnetenhaus vertretenen Fraktionen verschickt. Als Autor neigt er zu einer kräftigen Sprache, die Sprecherin wird in seinem Text als "Flunkerqueen" und "Plappermaul" bezeichnet. Das ist nicht besonders freundlich. Anderseits: Verglichen mit dem, was Leute so im Internet absondern, darf das als maßvolle Meinungsäußerung durchgehen.

Nicht lange, nachdem er sein Pamphlet auf den Postweg gebracht hat, bekommt der Mann Besuch von der Polizei. In aller Herrgottsfrühe stehen sechs Polizisten vor der Tür und verlangen Zutritt zu seiner Wohnung. Sie konfiszieren Computer und Handys sowie Drucker, Festplatten und diverse USB-Sticks, wie man bei Stern.de nachlesen kann, das den Fall publik machte.

Verwaltungsirrsinn unter Michael Müller

Hans-Joachim Lehmann, so heißt der Dossierschreiber, hat nicht mit Drogen gehandelt oder Hehlerware angenommen. Vielleicht hätte Lehmann mit Drogen handeln sollen, dann wäre ihm ein Polizeibesuch mutmaßlich erspart geblieben. Berlin unterhält im Görlitzer Park den größten Open-Air-Drogenumschlagplatz Europas, ohne dass die Polizei eingreift, die Stadtregierung will es so.

Dit is Berlin, kann man sagen. Kein Personal für die Routinearbeit, aber sobald jemand ein böses Wort über ein Mitglied der Landesregierung verliert, steht ein halbes Einsatzkommando in der Tür. Dit is Berlin unter Rot-Rot-Grün, würde ich sagen. Eine gewisse Wurschtigkeit gepaart mit dem Hochmut der Metropole war der Stadt immer zu eigen. Die Mischung aus Inkompetenz, Hybris und Arroganz, die der Senat unter Michael Müller an den Tag legt, ist allerdings einzigartig.

Der Kolumnist Harald Martenstein füllt seine Kolumne im "Tagesspiegel" mittlerweile mühelos mit Begebenheiten aus dem Verwaltungsalltag. Manches ist so kurios, dass man es nur glaubt, weil es in der Zeitung steht. Um die chronischen Verspätungen bei der S-Bahn zu beheben, kamen die Verkehrsbetriebe auf die Idee, nicht mehr an jeder Haltestelle zu stoppen. Der Plan wurde erst nach Protesten aufgegeben. Die Bezirksämter schaffen es nicht, Geburtsurkunden zeitnah auszustellen, berichtet der Chronist, Tote dürfen nicht unter die Erde, weil Ämter überlastet sind. Heiratswillige sollten ihr Vorhaben weit in die Zukunft legen.

Im Video: Überlastet - Alltag im Landgericht Berlin Moabit

SPIEGEL TV

Eine Bekannte ist gerade mit Mann und Kindern nach Charlottenburg gezogen. Als sie sich beim Einwohnermeldeamt anmelden wollte, hieß es, der früheste Termin sei in vier Wochen. Ich dachte, es sei illegal, so lange mit der Ummeldung zu warten, weil die Meldegesetze einem maximal 14 Tage geben, seinen neuen Wohnort anzugeben. In jedem Fall ist es hinderlich, weil man zum Beispiel für die Anmeldung der Kinder auf einer weiterführenden Schule eine Meldebestätigung braucht.

Es liest sich lustig, wenn man nicht in Berlin lebt. Wenn man das Pech hat, von Michael Müller und seinen Leuten regiert zu werden, dann flüchtet man sich am besten in Galgenhumor. Oder weicht auf private Lösungen aus. Wer nicht auf öffentlichen Nahverkehr, funktionierende Kitas und allgemeine Schulen angewiesen ist, den muss der Zustand der Politik nicht bekümmern. Die Reichen kommen immer zurecht. Notfalls beschäftigen sie neben Kindermädchen und Privatlehrern auch Personal, das für sie die Behördengänge erledigt. Links sein muss man sich leisten können, das war schon immer so.

Sammlungsbewegung liest sich gut, funktioniert aber nicht

Ich halte die Venezuelaisierung der deutschen Hauptstadt für ein politisch unterschätztes Thema. Es gibt ja nicht wenige, die Rot-Rot-Grün als Modell für ganz Deutschland empfehlen. Das Ehepaar Lafontaine/Wagenknecht hat unter der Überschrift "Aufstehen!" gerade eine neue Sammlungsbewegung ausgerufen, um wieder mehr Menschen für linke Politik zu begeistern. Angeblich haben sich binnen einer Woche schon mehr als 60.000 Leute als Unterstützer eingetragen.

Man muss Wagenknecht zugutehalten, dass sie im Gegensatz zu vielen auf der Linken erkannt hat, dass es den deutschen Sozialstaat nicht unter den Bedingungen offener Grenzen geben kann. Sie und ihr Mann haben sich für den Ausbau des Sozialstaats entschieden, was ihrem Programm eine dezidiert nationale Note verleiht. Das Problem ihrer Bewegung plagte schon den Sozialismus: Die Überführung der Idee vom Programm in die Praxis bekommt weder der Idee, noch der Wirklichkeit. Wer wissen will, wie das Leben unter einer Verbindung aus Linkspartei, SPD und Grünen aussehen würde, der muss sich nur in der Hauptstadt umsehen.

Anderseits passt Wagenknechts Idee irgendwie zu Berlin. "Aufstehen" ist die erste politische Bewegung, bei der man nicht einmal das Sofa verlassen muss, um dabei zu sein. Es reicht völlig, dass man im Internet seinen Namen hinterlässt, damit man "Teil der Bewegung" wird. Das funktioniert sogar in einem Milieu, in dem die Mehrheit nur noch anlässlich eines der gelegentlichen Besuche beim Spätkauf die Wohnung verlässt.

Interview mit Sahra Wagenknecht - Wahlversprechen und andere Lügen (2013)

dbate
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