Berliner Wahl Start frei für Wowereits Pokerrunde
Berlin - Warum die Linkspartei/PDS ausgerechnet den "Festsaal" im Berliner Abgeordnetenhaus für ihre Wahlparty ausgesucht hatte, weiß an diesem Abend niemand mehr. Auch die Live-Band Swing Dance Orchestra wirkt plötzlich fehl am Platz. Als die erste Hochrechnung auf der Großbildleinwand erscheint, herrscht betretenes Schweigen. 13,5 Prozent, das schlechteste Ergebnis der Parteigeschichte - ausgerechnet in Berlin. Ganz bitter wird es, als sich in den nächsten Hochrechnungen auch noch die Grünen vor die PDS schieben.
"Absolut enttäuschend", sagt Ingeborg Simon, Abgeordnete der Partei und Sprecherin für Gesundheitspolitik. "Das erschüttert mich, weil es zeigt, dass wir unsere Regierungsarbeit nicht verkaufen konnten." Noch deutlicher wird die 28-jährige Katharina Weise: "Verantwortung schadet immer", sagt die Listenkandidatin. Ihre Augen schimmern feucht.
Ganz anders die Reaktion des zweiten Verlierers des Abends. Zwar hat Friedbert Pflüger sein Ziel, den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit abzulösen, denkbar weit verfehlt - doch gibt er selbst in der Stunde der Niederlage noch den wackeren Kämpfer. "Die CDU Berlin ist wieder da nach fünf schweren Jahren", ruft der Spitzenkandidat in den Saal. Er werde sich "durch gar nichts die Freude am Neuanfang der CDU vermiesen lassen". Mit 22 Prozent hat er soeben das schlechteste Ergebnis der CDU seit 1948 geholt, seinen Wahlkreis Neukölln hat er nicht gewonnen. Trotzdem spricht er standhaft nur vom "Misstrauensvotum für Rot-Rot". Die Anwesenden danken ihm die schöne Illusion mit Applaus, eine Frau ruft "Friedbert, Friedbert".
Als Wowereit live redet, dreht die CDU den Ton ab
Pflüger bekräftigt seine Entscheidung, seinen Staatssekretärsposten im Verteidigungsministerium aufzugeben und sich als Fraktionsvorsitzender ganz Berlin zu widmen. Das löst Jubel aus, doch viele teilen seine rosige Analyse nicht. Schließlich hat die Partei im Osten wie im Westen der Stadt Federn gelassen. 60.000 Wähler hat die CDU an die Gruppe der Nichtwähler verloren - mehr als alle anderen Parteien. Die CDU könne mit diesem Ergebnis nicht zufrieden sein, sagt der frühere Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen in ein Radiomikrofon. "Intensive Arbeit" sei nun nötig. Auch der Vorsitzende der Senioren-Union, Otto Wulff, zeigt sich "überhaupt nicht zufrieden": Die CDU müsse endlich wieder zu einer Mitgliederpartei werden, schimpft er.
Kaum hat Pflüger ausgeredet, taucht Wowereit auf der Großbildleinwand im CDU-Saal auf. Der Ton wird abgestellt. Kein Christdemokrat soll den Sieger hören. Stattdessen spielt der DJ "What the world needs now is love" - beruhigenden Kaufhaus-Jazz von Jackie DeShannon.
Im E-Werk, wo die SPD feiert, wird in dem Moment auch die Musik gewechselt: vom lässigen Surfer-Sound zu lautem Techno. Die Gäste klatschen rhythmisch mit, während Wowereit sich den Weg zur Bühne bahnt. Der Wahlsieger des Abends strahlt, will alle Hände schütteln, an denen er vorbeikommt. "Die Partei, die großspurig behauptete, sie könne uns abhängen, hat verloren. Wie heißt sie noch mal? Ich glaube CDU", ruft Wowereit. Die SPD hingegen habe gleich zwei Wahlziele erreicht. Mehr als 30 Prozent - und vor allem: freie Wahl des Koalitionspartners.
"Wir haben Jörn - und das ist auch gut so!"
Für den deklassierten Pflüger hat Wowereit noch eine Botschaft. Jener hatte am Vorabend im Fernsehen bemerkt, dass Berlin wieder eine First Lady brauche. "Aber wir haben Jörn - und das ist auch gut so", sagt Wowereit und schließt seinen Lebensgefährten Jörn Kubicki fest in die Arme.
Schon am Wahlabend beginnen Annäherungsversuche zwischen den möglichen Koalitionspartnern. Spekuliert wird über Rot-Rot und Rot-Grün. Die Präferenz auf der SPD-Wahlparty ist eindeutig: Als der grüne Balken in der ersten Hochrechnung auf 13,5 Prozent hochschnellt, auf gleiche Höhe mit der PDS, wird laut applaudiert. Heftiger noch als bei der eigenen Partei. Ein klares Votum für Rot-Grün.
Auch bei den Grünen ist der Jubel um 18 Uhr ohrenbetäubend. Im Kaisersaal am Potsdamer Platz ist man sich von den ersten Prognosen an ziemlich sicher, dass es für Rot-Grün in der Hauptstadt reichen wird. Parteichefin Claudia Roth sagt, sie freue sich "unglaublich" und sei sehr zuversichtlich, dass ein rot-grünes Bündnis zustande kommen wird. "Das Wahlergebnis ist kein Auftrag für die Verlängerung der rot-roten, betonierten Stillstandspolitik."
Rot-Grün ist das Bündnis der roten und grünen Herzen
Der Berliner Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wieland spricht von einem "triumphalen Ergebnis". Seit der Bundestagswahl sind die Grünen an keiner Regierung mehr beteiligt. Der große Zugewinn von rund vier Prozent in Berlin lässt die Macht nun wieder in greifbare Nähe rücken. "Rot-Grün passt zu den urbanen Zentren, hier leben die Menschen das schon", sagt Wieland. Außerdem gebe es an der SPD-Basis und bis in die Spitze hinein eine Präferenz für die Koalition mit den Grünen. "Ja, ich habe bereits entsprechende Signale aus der SPD gehört", sagt er. Entsprechende Vorstöße von Sozialdemokraten erwarte er schon in Kürze.
Das Wahlergebnis ist eine große Erleichterung für die Grünen - selbst wenn es nicht in eine Regierungsbeteiligung münden sollte. Denn so wie es aussieht, kommt es nicht zu der schwierigen Debatte über ein eventuelles Dreierbündnis Rot-Rot-Grün. Die hätte die Partei vor eine Zerreißprobe stellen können. Dass nun wieder Rot-Grün gelingen könne, das sei "total wichtig" für die Grünen, sagt Parteichefin Claudia Roth.
Aber die Linkspartei/PDS ist noch im Rennen. Obwohl das Wahlergebnis als Quittung für die unpopulären Entscheidungen in deren Regierungszeit wahrgenommen wird, steht die Bewerbung bei Wowereit. Die Ohrfeige der Wähler wollen die Genossen nicht umsonst eingesteckt haben. Das Heil in der Radikalopposition zu suchen wie die WASG, das komme nicht in Frage, meint die Abgeordnete Simon. Die Gefahr, dass die SPD den Partner wechselt, wird als akut angesehen: "Die Grünen sind hier so geil und scharf aufs Mitregieren, dass es mir schon ganz unheimlich ist", meint Gregor Gysi, Linksfraktionschef im Bundestag.
Wer am Ende mitregieren darf, dazu hält sich der Wahlsieger noch bedeckt. "Wer das sein wird, messen wir daran, mit wem wir so viel sozialdemokratische Politik wie möglich durchsetzen können", sagt Wowereit gelassen. Das Pokern hat begonnen.