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Erdogan-Besuch in Berlin: Wie die Türkei boomt

Foto: TOBIAS SCHWARZ/ REUTERS

Besuch in Berlin Erdogan verschärft Kritik an Deutschland

Die Türkei boomt, Ministerpräsident Erdogan strotzt vor Selbstbewusstsein. Jetzt ist er in Berlin: offiziell zur Feier zum 50. Jubiläum des Gastarbeiter-Abkommens. Doch es droht Streit mit Kanzlerin Merkel. Zum Auftakt des Besuchs warf der Premier Deutschland vor, die Türken im Stich zu lassen.

Berlin - Es sollen schöne, freundliche Bilder werden: Kanzlerin Angela Merkel und der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan, wie sie Hände schütteln, die Freundschaft beider Länder beschwören, bei ihrem Treffen am Mittwoch im Weltsaal des Auswärtigen Amtes. Die Migranten aus der Türkei seien ein Teil des Landes geworden, lobte die Kanzlerin schon vor der Visite. Und der Empfang des türkischen Premiers am Dienstagabend durch Bundespräsident Christian Wulff verlief auch recht harmonisch.

Vor 50 Jahren wurde das Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland geschlossen, beide Länder sind eng miteinander verbunden. Doch die freundlichen Worte und großen Gesten können eins nicht überdecken: Zwischen Deutschland und der Türkei drohen erhebliche Spannungen.

Das Land am Bosporus ist die Aufsteiger-Nation des Jahres, die Wirtschaft boomt. Zugleich betreibt Erdogan eine neue, aggressive Außenpolitik, die bei seinen unmittelbaren Nachbarn, aber auch in Berlin mit größter Besorgnis verfolgt wird.

Nach dem Festakt im Außenamt dürfte deshalb Tacheles geredet werden: Erdogan und Merkel treffen sich zu seinem Meinungsaustausch, bei dem die heiklen außenpolitischen Probleme auf der Tagesordnung stehen - die Entwicklung in Nordafrika, im Nahen Osten, der Konflikt mit den Kurden und die bilateralen Beziehungen.

Die Tonlage aus Ankara hat sich in den vergangenen Wochen gegenüber Deutschland deutlich verschärft. Zum Auftakt des Besuchs legte der Premier noch einmal kräftig nach: "Die deutsche Politik würdigt die Verflechtung der drei Millionen Türken in Deutschland nicht genug", sagte Erdogan der "Bild"-Zeitung. Es gebe in Deutschland bereits 72.000 türkische Arbeitgeber mit 350.000 Arbeitsplätzen. "Der Gastarbeiter von gestern wird langsam auch Arbeitgeber, Akademiker, Künstler", sagte der Regierungschef.

Das türkische Volk sehe das deutsche Volk "immer noch mit sehr positiven Gefühlen an", sagte Erdogan weiter. Deshalb solle Deutschland mit der Türkei viel mehr Solidarität zeigen. "Die deutsche Politik müsste viel mehr für den EU-Beitritt der Türkei tun, weil er die Integration massiv vorantreiben würde", sagte er. "Weil wir Türken so viel Positives für Deutschland empfinden, fühlen wir uns gerade hier im Stich gelassen."

Verliert die Türkei das Interesse an der EU?

Tatsächlich herrscht bei den Verhandlungen mit der der Türkei über einen EU-Beitritt Stillstand. Eigentlich könnte Kanzlerin Merkel das gelegen kommen, sie ist sowieso gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei und favorisiert das Modell einer "privilegierten Partnerschaft". Allerdings wächst in Deutschland die Furcht, die Türkei könnte sich nun ganz von Europa abwenden - das wirtschaftlich erstarkte Land hat in den vergangenen Monaten spürbar Interesse an der EU verloren. Bei einem Wirtschaftswachstum von rund zehn Prozent, einer Verdreifachung des Pro-Kopf-Einkommens seit 2002, ist Ankara kaum noch auf engere Wirtschaftsbeziehungen angewiesen.

Vertreter der deutschen Industrie warnen seit langem davor, es sich mit der Türkei zu verscherzen, für Deutschland ist die Türkei ein extrem wichtiger Exportmarkt. Wie groß die Sorge ist, zeigt ein Statement von Außenminister Guido Westerwelle: "Wir müssten der Türkei die Tür nach Europa ganz weit öffnen, statt immer neue Hindernisse zu errichten, bis eines Tages die Türkei sich von uns abwendet."

Streit über deutsche Integrationspolitik

Scharf kritisierte Erdogan in dem Interview erneut die deutsche Gesetzgebung, wonach türkische Angehörige vor dem Zuzug nach Deutschland die deutsche Sprache erlernen müssen. "Wer Deutschkenntnisse zur wichtigsten Voraussetzung erklärt, verletzt die Menschenrechte." Erdogan bekräftigte, Türken in Deutschland sollten ihren Kindern zuerst Türkisch und dann Deutsch beibringen. Dies sei "nur eine sprachwissenschaftliche Erkenntnis": Wenn ein Kind eine neue Sprache erlernen solle, müsse es die eigene Sprache gut können.

Das Thema Integration sorgt seit langem für Verstimmungen zwischen Deutschland und der Türkei. Bereits im vergangenen Jahr hatte Kanzlerin Merkel angekündigt, zum 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens für türkische Gastarbeiter den Blick auch auf "die unverkennbar bestehenden Probleme" zu lenken. Erdogan allerdings hatte seine Landsleute bei Auftritten in Deutschland eindringlich vor zu viel Anpassung, vor "Assimilation", gewarnt, türkische Gymnasien in Deutschland gefordert - und damit Irritationen bei deutschen Politikern ausgelöst.

Unangenehm könnten für die Kanzlerin auch Fragen Erdogans nach erleichterten Visa-Bestimmungen für Türken werden, die nach Deutschland reisen wollen. Merkel hatte bereits vor längerer Zeit in Aussicht gestellt, Verbesserungen insbesondere für türkische Geschäftsleute zu ermöglichen. Allein: Passiert ist bislang nichts.

Ärger wegen PKK, Israel-Politik und Zypern-Frage

Türkische Politiker greifen die deutsche Regierung auch im Zusammenhang mit dem PKK-Konflikt immer wieder an und beschuldigen Berlin indirekt, kurdische Terroristen zu schützen. "In Deutschland leben doppelt so viele PKK-Mitglieder wie in den Kandil-Bergen im Nordirak", behauptete der türkische Parlamentspräsident Cemil Çiçek, ein Parteifreund Erdogans, laut "Süddeutscher Zeitung". Und der Premier selbst attackierte deutsche Stiftungen und warf ihnen vor, die PKK mitzufinanzieren.

Fest steht: Als regionale Macht gewinnt die Türkei erheblich an Einfluss. Nach der arabischen Revolte in Tunesien und Ägypten wurde Erdogan bei einer Reise in das Gebiet bejubelt, er stellte sich symbolisch an die Spitze der Freiheitsbewegung. Die bei den Wahlen in Tunesien siegreichen Islamisten nehmen sich die Türkei und die AKP mit ihrem islamischen Politikmodell zum Vorbild. Den Großmachtanspruch seines Landes machte Erdogan kürzlich unmissverständlich deutlich: "Unsere Interessen reichen vom Suezkanal bis zum Indischen Ozean."

Für die Deutschen besonders schwierig ist die Israel-Frage. Im Nahost-Konflikt stellt sich die Türkei eindeutig auf die Seite Palästinas und fordert die Uno zur Anerkennung eines palästinensischen Staates auf. Deutschland allerdings stellte sich schon bei der Aufnahme Palästinas in die Unesco quer. Die Beziehungen zwischen Jerusalem und Ankara waren nach dem Vorfall auf dem Gaza-Hilfsschiff "Mavi Marmara" im Frühjahr 2010 auf einen Tiefpunkt gefallen. Damals stürmte die israelische Marine die Flottille, dabei kamen neun türkische Aktivisten ums Leben. Im Sommer diesen Jahres wies die Türkei den israelischen Botschafter in Ankara aus. Erdogan kündigte an, Kriegsschiffe mitzuschicken, wenn das nächste Mal ein Hilfskonvoi Richtung Gaza-Streifen auslaufe. Bei einem Besuch in Südafrika vor wenigen Wochen sagte der türkische Premier, Israel sei eine "Bedrohung" für den Nahen Osten.

Israel spielt auch eine Rolle beim Streit um Zypern. Die Gemengelage dort ist komplex: Die Türkei hält den Nordteil Zyperns seit 1974 besetzt und erkennt die Republik Zypern - also den größeren griechischen Südteil der Insel - nicht an. Die Republik Zypern, EU-Mitglied, machte Ansprüche auf die riesigen Gas- und Erdölvorkommen in den Gewässern rund um die Insel geltend und unterzeichnete mit Israel ein entsprechendes Abkommen zur Grenzziehung im Mittelmeer. Ankara war erzürnt, weil der international nicht anerkannte türkische Nordteil Zyperns nicht berücksichtigt werden sollte. Erdogan verkündete, die türkische Marine werde sich dort von nun an "sehr häufig" zeigen und schickte Kriegsschiffe auf Patrouille. Ankara hat angekündigt, die Beziehungen zur EU einzufrieren, wenn Zypern im kommenden Jahr turnusmäßig den EU-Vorsitz übernimmt.

mit Material von AFP
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