BND-Mail Kunduz-Affäre wird zum Problem der Kanzlerin

Was wusste das Kanzleramt wann über das Kunduz-Bombardement? Eine E-Mail zeigt, dass die Regierungsspitze offenbar früh über mögliche zivile Opfer informiert war. Jetzt fordert die Opposition Aufklärung - in den Fokus gerät erstmals Kanzlerin Merkel.
Kanzlerin Merkel: Opposition fordert "umgehende Aufklärung" zur BND-Mail

Kanzlerin Merkel: Opposition fordert "umgehende Aufklärung" zur BND-Mail

Foto: GEORGES GOBET/ AFP

Luftangriff bei Kunduz

Merkel

Berlin - Gut sechs Monate ist der verheerende auf zwei Tanklaster inzwischen her. Doch noch immer beschäftigt die Debatte um die Hintergründe der Attacke die Bundesregierung. Nur das Bundeskanzleramt und Regierungschefin Angela (CDU) hielten die Vertuschungsaffäre rund um das Bombardement bisher erfolgreich von sich fern.

Jetzt aber rücken die Regierungszentrale und die Kanzlerin erstmals in den Fokus: Nach SPIEGEL-ONLINE-Informationen erhielt das Kanzleramt schon in den Stunden nach dem Angriff am 4. September 2009 eine E-Mail mit konkreten Hinweisen, dass durch die beiden Bomben viele Zivilisten ums Leben gekommen sein könnten. Auch wenn Bundeskanzlerin Merkel zivile Opfer nie geleugnet hatte, setzt sie die E-Mail unter Druck. Es stellt sich die Frage, ob Merkel nicht früher in das schlechte Krisenmanagement ihrer Regierung hätte eingreifen müssen.

Die Opposition im Deutschen Bundestag sieht die Regierungschefin nun in Erklärungsnot. "Merkel hat zugelassen, dass der Verteidigungsminister entgegen den Fakten und entgegen dem Wissen der Regierung zivile Opfer schlicht geleugnet hat", kritisierte Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin gegenüber SPIEGEL ONLINE. Die Kanzlerin müsse jetzt darlegen, warum sie in ihrer Regierungserklärung am 8. September die konkreten Hinweise nicht erwähnt habe: "Warum hat Merkel dem Deutschen Bundestag nicht mitgeteilt, dass das Kanzleramt informiert war?"

"Verwunderung und Unbehagen"

In einem Brief an Merkel, der SPIEGEL ONLINE vorliegt, verlangten Trittin und Ko-Fraktionschefin Renate Künast "umgehende Aufklärung". Mit "Verwunderung und Unbehagen" hätten sie die Meldung zur Kenntnis genommen, dass das Kanzleramt sehr früh über unbeteiligte Opfer Bescheid gewusst habe. Linke-Fraktionschef Gregor Gysi hielt der Kanzlerin systematische Vernebelungsversuche vor. Die Fragen an die Kanzlerin würden "drängender", erklärte auch der SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold.

Nach SPIEGEL-ONLINE-Informationen erhielten führende Beamte der Abteilung 6 im Kanzleramt am Morgen des 4. September um 8.06 Uhr eine Mail mit Erkenntnissen des Bundesnachrichtendienstes (BND), dass bei dem Angriff "zahlreiche Zivilisten ums Leben gekommen sind (Zahlen variieren von 50 bis 100)".

Die Informationen des BND nur Stunden nach dem Bombardement, bei dem bis zu 142 Menschen getötet wurden, waren ziemlich konkret. So berichtete der Dienst, das Kidnapping der beiden Tanklaster mit Treibstoff für die Nato könne "sowohl kriminellen (Diebstahl von Treibstoff) als auch terroristischen Hintergrund (mögliche Benutzung für Anschlag)" gehabt haben. Mindestens einer der Lastwagen habe sich aber auf einer Sandbank festgefahren. Daraufhin hätten die Dorfbewohner "die Gelegenheit" genutzt und "sich mit Benzinkanistern auf den Weg gemacht".

Bundesregierung bestätigt E-Mail

Die Bundesregierung bestätigte am Donnerstag die Mail, bemühte sich aber die Bedeutung herunterzuspielen. Es habe sich lediglich um eine unverbindliche Information des Bundesnachrichtendienstes gehandelt, teilte ein Regierungssprecher mit. Zudem war der E-Mail damals eine BBC-News-Nachricht beigefügt, "deren Überschrift als Betreffzeile übernommen wurde". Es sei richtig gewesen, dass die zuständigen Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes "von Beginn an allen Hinweisen mit Nachdruck nachgegangen sind".

Tatsächlich handelt es sich um eine "unverbindliche Erstinfo des BND", die frühmorgens am 4. September im Kanzleramt kommuniziert wurde. Allerdings ist eine solche Klassifizierung bei Geheimdiensten rund um den Globus üblich, auch der BND stuft seine Meldungen stets als "unverbindlich" ein. Auch der Hinweis des Regierungssprechers, dass die E-Mail einen Anhang mit einem Beitrag der BBC enthalten habe, ist wenig aussagekräftig: In der Mail wird auf diesen Bericht weder Bezug genommen, noch decken sich die Informationen mit denen, die an dem Morgen in den Medien kursierten.

Eher liefert das Schreiben erstmals den Beleg, dass die Regierung sehr früh konkrete und durch eine eigene Behörde recherchierte Hinweise auf zivile Opfer des Bombardements hatte.

In den Blickpunkt rückt dabei auch der ehemalige Chef des Kanzleramts, der heutige Innenminister Thomas de Maizière. Dass ihn die Abteilung 6 von einer solch brisanten Information über die bislang folgenschwerste Bundeswehroperation in Afghanistan nicht informierte, erscheint unwahrscheinlich.

Der ehemalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung, der am Donnerstag vor dem Untersuchungsausschuss vernommen wurde, hatte dagegen nach eigenen Angaben keine Kenntnis von den Informationen des BND, die ans Kanzleramt gingen. Jung sagte auf Nachfrage der FDP, er habe von der E-Mail erst durch den SPIEGEL ONLINE-Bericht erfahren. Er musste infolge der Kunduz-Affäre zurücktreten.

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