Brandrede im SPD-Vorstand Wie Peer Steinbrück mit seiner Partei abrechnete

Verfall und Versagen: In seiner Abschiedsrede vor dem SPD-Vorstand hat der scheidende Finanzminister Peer Steinbrück scharfe Vorwürfe gegen seine Partei erhoben. Er sieht die SPD in einer Führungskrise - und viel zu sehr mit Nabelschau beschäftigt. SPIEGEL ONLINE dokumentiert die Brandrede.
Scheidender Finanzminister Steinbrück: "Beschämendes Revolutionstribunal"

Scheidender Finanzminister Steinbrück: "Beschämendes Revolutionstribunal"

Foto: DOMINIQUE FAGET/ AFP

Dies ist höchstwahrscheinlich das letzte Mal, dass ich als Mitglied des Parteivorstandes in diesem Gremium das Wort ergreife. Nach 16 Jahren als Landesminister, Ministerpräsident und Bundesminister ist - auch als Konsequenz aus dem Wahlergebnis - der Zeitpunkt gekommen, wo ich Platz für Jüngere mache und aus der ersten Reihe der Politik ausscheiden möchte. Mir war daran gelegen, Herr des Verfahrens in eigener Person zu bleiben. Und ich habe von anderen erwartet, dass sie mir dies nicht beschneiden. Das waren 16 Jahre, in denen ich gelegentlich die Erfahrung machen durfte, dass meine Wirkungsmöglichkeiten sowohl an der viel zitierten Basis unserer Partei als auch insbesondere über die SPD hinaus größer gewesen sind und ein positiveres Echo gefunden haben, als auf der Ebene von Delegierten und Funktionsträgern der SPD.

Andrea Ypsilanti hat vorhin im Präsidium davon gesprochen, dass sie in ihrem Beitrag einiges sagen würde, das uns gefällt und ebenso einiges, das uns nicht gefallen dürfte. Und Ralf Stegner hat davon gesprochen, dass wir "hart in der Analyse" sein sollten. An diese beiden Vorgaben will ich mich halten und Ralf Stegner wird an zwei oder drei Stellen die Probe auf seine Einlassung machen können bzw. müssen.

Ich will fünf oder sechs Punkte aufgreifen. Manche sehr kurz, einige etwas länger, in der Hoffnung, dass sie nicht langatmig werden. An die von Franz Müntefering empfohlene Redezeit werde ich mich nicht ganz halten können.

1. Alle bisher gegebenen Deutungen des Wahlergebnisses befriedigen mich nicht. Für mich steht die Tatsache rätselhaft im Raum, dass mitten in der größten Wirtschafts- und Finanzkrise seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland eine Mehrheit der Bevölkerung nicht etwa kapitalismuskritisch - um nicht "antikapitalistisch", mit der Gefahr von Missverständnissen zu sagen - gewählt hat, sondern eine konservativ-liberale Bundesregierung, die in Teilen stramm markttheologisch orientiert ist. Ich will sagen: In einer Zeit, in der breite Teile der Bevölkerung Augenmaß, Balance, Maß und Mitte anmahnen und dementsprechend sozialdemokratische Antworten eigentlich willkommen sein müssten, entzieht uns ein breites Publikum Vertrauen. Der Hinweis auf die Chiffren Agenda 2010, Hartz IV oder auf die Rente mit 67 oder die Mehrwertsteuererhöhung reicht als Erklärung nicht aus. Denn in keinem dieser Konfliktpunkte ist von einer konservativ-liberalen Bundesregierung eher eine Korrektur zu erwarten als von der Sozialdemokratie. Im Gegenteil. Ebenso wenig taugt der Hinweis auf die 1,1 Millionen Wählerinnen und Wähler, die zur Linkspartei abgewandert sind, um diesen Einbruch zu erklären. Denn die Verengung des Blicks auf diese 20 Prozent Wählerverlust gegenüber 2005 thematisiert die anderen 80 Prozent des Wählerschwundes nicht. Die sind überwiegend ins Lager der Nichtwähler gesprungen. Aber die eigentlich alarmierende Nachricht lautet, dass fast 1,5 Millionen Wählerinnen und Wähler - also mehr als zur Linkspartei gegangen sind - zur CDU/CSU und zur FDP abgesprungen sind. Wenn in den Opel-Standorten Rüsselsheim und Eisenach Wähler von der SPD zur Union und FDP gegangen sind, nachdem wir uns für die Existenz dieses Autokonzerns und seine deutschen Standorte krumm gelegt haben (und ordnungspolitisch als nicht sattelfest kritisiert worden sind), dann versagen eilfertige Deutungen.

Manche Analyse, die ich vor einer Woche gehört habe, war erkennbar davon geprägt, für die eigene Kritik in der Vergangenheit nachträglich eine Bestätigung zu konstruieren. Im Übrigen fällt auf, dass nach diesem desaströsen Wahlergebnis für die SPD mit der Folge einer schwarz-gelben Koalitionsregierung keineswegs ein Aufschrei der Empörung durch das Land fegt. Im Gegenteil weisen einige Umfragen nach dem 27. September eine relativ hohe Akzeptanz für eine schwarz-gelbe Bundesregierung auf. Das heißt, dass viele Menschen in Deutschland von einer solchen Regierung keineswegs eine Verschiebung der Achse in unserer Gesellschaft oder eine soziale Demontage befürchten. Unsere Warnungen vor einer schwarz-gelben Regierung haben ihnen nicht in den Ohren geklingelt. Vielleicht liegt das auch daran, dass sie dort, wo es bereits schwarz-gelbe Landesregierungen gibt, keineswegs die niederschmetternden Erfahrungen gemacht haben, die wir ihnen in unserer Wahlkampagne in Aussicht gestellt haben.

Es wäre näher zu untersuchen, ob uns die Sozialdemokratisierung der christdemokratischen Parteien - ich erinnere an die Positionswechsel insbesondere in der Familien- und Gleichstellungspolitik, zur Kinderbetreuung oder auch im Rahmen der Integrationspolitik - weiteren Raum in der Mitte der Gesellschaft abgeschnitten hat. Unter dem Strich müssen wir feststellen, dass die stärkere Identifizierung der CDU/CSU mit der sozialen Marktwirtschaft und vor allem auch die Beständigkeit ihrer Bekenntnisse zu diesem Wirtschafts- und Ordnungssystem erfolgreicher wirkt, als eine nach neuen Ufern (und Partner?) suchende Politik der SPD. Wenn dieser komparative Vorteil von CDU/CSU dann auch noch von einer staatspolitischen Zweckmäßigkeit begleitet wird - wie in der Finanzmarktkrise geschehen -, dann wird es für die SPD sehr schwer.

2. Vier Schlussfolgerungen gehen mir durch den Kopf, die natürlich den Charakter des Vorläufigen haben:

• Die sozialpolitische Kompetenz der SPD ist eine notwendige Bedingung, um eine Wahl zu gewinnen, aber keineswegs eine hinreichende. Die Kompetenzdefizite im Bereich Wirtschaft und Finanzen, die uns die Demoskopie ungeschminkt bestätigt, waren von ausschlaggebender Bedeutung. Ich habe Andrea Nahles sehr genau zugehört, als sie dieses Kompetenzdefizit vorhin ansprach. Und sie hatte Recht. Aber ich für meinen Teil nehme in Anspruch, dass ich mir darüber in den letzten vier Jahren bereits den Mund fusslig geredet habe. Es geht hier um eine inhaltliche und personelle Kompetenz. Und es reicht nicht, eine Person ins Schaufenster zu stellen, wenn diese in der Breite von Fraktion und Partei nicht begleitet wird oder sogar gelegentlich für Ausflüge gemaßregelt wird, die angeblich einer parteipolitischen Räson (wer definiert die eigentlich?) widersprechen. Die entscheidende Frage für die nächsten Jahre lautet deshalb: "Wo sind die Personen, die dieses Defizit abbauen können?" Sind die Wirtschaft- und Finanzpolitiker der SPD nicht erst jüngst bei der Aufstellung von Landeslisten zur Bundestagswahl eher bestraft worden bzw. aus Frustration vorzeitig aus der Fraktion ausgeschieden?

• Es mag sein, dass sich die SPD nach links öffnen muss - ich würde eher davon sprechen, dass sich die SPD in alle gesellschaftlichen Richtungen öffnen sollte. Aber wie dem auch sei, sie darf dabei um keinen Preis inhaltlich die Mitte aufgeben. Ich weiß, dass die "Mitte der Gesellschaft" ein sehr diffuser Begriff ist, über den man trefflich streiten kann. Aber dies ändert nichts an der nach wie vor richtigen Einschätzung, dass genau in dieser Mitte unserer Gesellschaft Wahlen gewonnen oder auch verloren werden. Die Addition von Minderheitsinteressen führt keineswegs arithmetisch zu einer politischen Mehrheit in Deutschland. Und bei der Annäherung an die Linkspartei ist nicht einmal ein Nullsummenspiel, sondern eher ein Verlust für die SPD wahrscheinlich, weil immer um einen Faktor höher Wählerinnen und Wähler in der Mitte zu den konservativ-bürgerlichen Parteien überlaufen. Das hat etwas mit der ausgeprägten Sehnsucht der Deutschen nach Stabilität, Sicherheit und Beständigkeit zu tun. Diese in meinen Augen tief verankerte Sehnsucht in der deutschen Gesellschaft geht auf die Brüche und traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zurück. Diese Traumatisierungen sind nach wie vor mentalitätsprägend und lassen die Wählerinnen und Wähler in Deutschland in der Mitte zusammenrücken. Jede Annäherung an die politischen Ränder trifft daher auf eine verbreitete Skepsis, mehr noch: Ablehnung in der Bevölkerung.

• Die SPD muss die Kraft sein, die den Fortschrittsbegriff ausfüllt. Sie muss so wie in den früheren Jahrzehnten mit Fortschritt identifiziert werden. Natürlich nicht alleine in einem platten ökonomischen Verständnis, sondern auch in einem technischen, kulturellen und gesellschaftlichen Sinn. Jedoch ist uns in den letzten 20 bis 25 Jahren die Definitionshoheit über den Fortschritt verloren gegangen. Dementsprechend sind unsere Zukunftsangebote gerade für eine jüngere Wählerschaft unzureichend. Meine persönlich schärfsten Kritiker, die viel näher als ihr glaubt in meinem unmittelbaren Familien- und Freundeskreis sind, werfen mir vor, dass ich zwar eine einigermaßen stichhaltige Gegenwartsanalyse vortragen kann, aber wenig faszinierende Angebote zur Zukunftsgestaltung vorlege. Das mag an unsicheren und unübersichtlichen Zeiten und Verhältnissen liegen, aber der Kern der Kritik trifft nicht nur auf mich, sondern unsere gesamte Partei zu: Worin liegt das Zukunftsversprechen und die Aufstiegsperspektive, welche die SPD insbesondere auch jüngeren Generationen machen kann? Welche Kommunikationsplattformen und Veranstaltungsformate bieten wir dafür an?

• Die SPD erlebt ohne Zweifel eine Glaubwürdigkeitskrise. Das hat nach meiner Auffassung viel mit dem Bild der Zerstrittenheit zu tun, mit dem, was der Journalist Prantl als Verfall der Führungskultur in der SPD bezeichnet hat, mit dem Verschleiß von Führungspersönlichkeiten, mit dem mangelnden Stolz auf Leistungen und Errungenschaften und damit zusammenhängend die häufig schnelle Relativierung von Positionen und Entscheidungen. Das liefert der Bevölkerung kein Bild der Verlässlichkeit und Beständigkeit. Wer glaubt, dass die SPD ein Teil an Glaubwürdigkeit dadurch zurückgewinnt, dass die meisten Schilder unserer Regierungspolitik der vergangenen Jahre flugs abmontiert werden, der irrt. Die eigene Politik der vergangenen Regierungsjahre quasi zu dementieren, würde das Bild mangelnder Beständigkeit und Kalkulierbarkeit der SPD noch viel stärker prägen. Getreu der Aufforderung, tabulos zu diskutieren, füge ich - auch auf die Gefahr hin, jetzt in manche Beete von Empfindlichkeit zu treten - die Entwicklung in Hessen hinzu. Wer will nach den Erfahrungen aus vielen Gesprächen und Veranstaltungen stillschweigend darüber hinweggehen, dass die Vorgänge in Hessen einen Anteil an der Glaubwürdigkeitskrise der SPD haben?

"Die Krise der SPD ist eine Führungskrise"

3. Die Krise der SPD ist nach meiner Einschätzung weit weniger programmatischer oder inhaltlicher Art. Mit dem Hamburger Grundsatzprogramm, mit dem Regierungsprogramm und mit dem Deutschlandplan von Frank-Walter Steinmeier ist etwas erarbeitet worden, das gute Grundlagen bietet - Nachjustierungen im Einzelfall nicht ausgeschlossen. Ich sehe deshalb keine Notwendigkeit, jetzt in einen neuen programmatischen Entwurf einzusteigen. Die Krise der SPD ist zuallererst in meinen Augen eine Führungskrise und eine Krise der Organisation.

Die Führung der SPD ist in den vergangenen Jahren einem permanenten Autoritätsverfall ausgesetzt worden. Dieser Prozess ist dringend aufzuhalten. Die neue Führung bedarf daher der uneingeschränkten Unterstützung, aber sie wird sich auch selbst bewusst machen müssen, dass ihre Zusammenarbeit eine der letzten Chancen ist. Wenn einige der neuen Führungsmitglieder und die sie tragenden innerparteilichen Kräfte bereits im Kopf haben, dass mit dieser neuen Aufstellung bereits die Claims bis Mitte der Legislatur in Vorbereitung auf 2013 abgesteckt werden, dann wird der Absturz der SPD noch weitergehen. Wenn irgendjemand von euch in diesen politischen Kategorien denkt und danach handelt, dann wird das eine Reise, bei der keiner ankommt.

Die ehrliche Bestandsaufnahme zur Parteiorganisation lautet, dass von den Landes- und Bezirksverbänden wahrscheinlich nur drei oder vier als intakt und schlagkräftig beurteilt werden können. Hubertus Heil hat darauf mehrfach und in begrüßenswerter Offenheit hingewiesen. Ich habe die gelegentlichen Hinweise von einigen von euch nach wie vor im Ohr, nach denen man wieder stärker eine "Kultur der innerparteilichen Demokratie" pflegen müsste. Dem widerspreche ich nicht. Aber ein ungetrübter Blick weist aus, dass die Absender dieses kritischen Hinweises an die Bundesebene diese Kultur in ihrer eigenen Verantwortung auf Landes- oder Bezirksebene keineswegs in allen Fällen selbst befolgen.

Von einer erheblichen Bedeutung ist ferner, dass die SPD massiv an Einfluss in den sogenannten gesellschaftlichen Vorfeldorganisationen verloren hat. Es gab vor einigen Jahrzehnten kaum Sportvereine, karitative Einrichtungen, freiwillige Feuerwehren, Nachbarschaftszirkel etc., in denen nicht auch Frauen und Männer der Sozialdemokratie verankert waren und als Multiplikatoren wirkten. Dies ist weitgehend verlorengegangen. Ich stimme Sigmar Gabriel vollständig zu, dass die SPD mehr denn je darauf angewiesen ist, in allen gesellschaftlichen Bereichen Verbündete zu suchen, ohne sie gleich zu instrumentalisieren.

4. Im Präsidium und in der Parteivorstandssitzung am letzten Montag haben einige von euch mit großem Nachdruck davon gesprochen, dass es kein "Weiter so!" geben dürfe. Das will ich nicht widerlegen - und habe gerade für meine Person daraus ja auch eine Konsequenz gezogen. Ich weiß zwar nicht so ganz, was darunter im Einzelnen verstanden wird, aber nach einer solchen Niederlage keine - und seien es auch schmerzliche - Konsequenzen zu ziehen, wäre wohl falsch.

Ich frage mich allerdings, ob diese Aufforderung, dass es kein "Weiter so!" geben dürfe, auch für die Personen selbst gilt. Zum Beispiel für den Vorsitzenden des Landesverbands Schleswig-Holstein, der mit minus 13 Prozentpunkten gerade eine krachende Niederlage erfahren hat. Ich habe deiner Analyse, Ralf Stegner, am letzten Montag genau zugehört. Dabei war der exkulpierende Fingerzeig von Kiel nach Berlin ja unübersehbar. Zwei wesentliche Faktoren für diese Niederlage kamen allerdings dabei nicht vor:

1. du selbst und

2. eine maßgeblich von dir bestimmte Strategie in der Koalition mit der CDU während der letzten Jahre, die systematisch zum Verlust der Regierungsbeteiligung der SPD geführt hat.

Deine Verkürzung der Analyse passt nicht zu deinen Aufforderungen hier in Berlin und deinen Einlassungen, man müsse "hart in der Analyse sein".

Und dann ist da ein Landesverband Berlin, der bei dieser Bundestagswahl 300 000 Stimmen gegenüber 2005 verloren hat. Nur noch jeder fünfte Wähler wählt in Berlin die SPD. Dieser Landesverband und seine Spitzenvertreter haben noch am Freitag, den 25. September 2009, in der Abschlussveranstaltung vor dem Brandenburger Tor Frank-Walter Steinmeier zugejubelt. Drei Tage später, am Montag, 28. September 2009, war es dieser Landesverband, der als erster das Revolutionstribunal einrichtete - über die drei Namen, die nun zur Verantwortung zu ziehen seien. Nämlich Franz Müntefering, der kürzlich noch bejubelte Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück. Das ist alles andere als stilsicher, eigentlich beschämend. Ich kann nur darum bitten, dass Frank-Walter Steinmeier als neuer Fraktionsvorsitzender gestützt und vor solchen anwidernden Abrechnungen geschützt wird und der Umgang mit ihm nicht jene bestätigt, die zwischen unserem Appell zur Solidarität und der Behandlung unseres eigenen Führungspersonals einen nicht aufzulösenden Widerspruch sehen.

Der Ruf danach, dass es "Kein weiter so!" geben könne erstreckt sich auch auf die Zusammensetzungen des Parteirates als wichtigstem Gremium zwischen Parteitagen und Sitzungen des Parteivorstandes. Dieser Parteirat ist ein Altherrenrat, in den von den Landesverbänden 60- bis 70-jährige Honoratioren entsendet werden, weil sie aufgrund von früheren Verdiensten noch eine Parteifunktion haben sollen. Mehr denn je gehören in diesen Parteirat Kommunalpolitiker der SPD und junge Leute.

"Die innerparteiliche Sicht spielt eine unverhältnismäßige Rolle"

5. Ich sprach vorhin von der eilfertigen Abrechnung mit Müntefering, Steinmeier und mir in der Sitzung des Berliner Landesverbandes. Ich kann mir nicht ganz verkneifen - wohl wissend um das Risiko, als eitel missverstanden zu werden - darauf hinzuweisen, dass es exakt diese drei Personen sind, die bei Umfragen zur Wertschätzung von Politikern die führenden Positionen für die SPD einnehmen. Das berührt einen schon merkwürdig, wenn man selbst in Umfragen für die SPD offensichtlich eine gewisse Wirkungsmöglichkeit oder Anerkennung findet, und dies in den eigenen Gremien offenbar völlig irrelevant für eine erfolgreiche Aufstellung der SPD ist. Dies war und bleibt mir ein Rätsel.

Das verbindet sich mit einer nicht durchgängigen, aber bei manchen Parteifreunden festzustellenden Neigung, möglichst im Fernsehen darüber eine Definitionshoheit zu beanspruchen, was parteipolitisch in der SPD korrekt ist und was nicht, welche Aussagen es sind und welche es nicht sind. Ich fühle mich gelegentlich an eine Art Glaubenskongregation erinnert.

Dies alles wirft Schlaglichter darauf, wie stark die SPD mit sich selbst beschäftigt ist. Die innerparteiliche Sicht - und auch innerparteiliche Legitimationsbeschaffung in unseren Gremien - spielt eine unverhältnismäßig große Rolle gegenüber der viel wichtigeren Frage, wie wir durch den Wähler in der Wahlkabine legitimiert werden können. Den Hinweis von klugen Beobachtern, dass sich Parteien zu selbstreferenziellen Systemen entwickeln können, würde ich in der Lage, in der wir jetzt sind, sehr ernst nehmen.

6. Mein vorzeitiges Fazit lässt sich im Telegrammstil wie folgt fassen:

• Der Verfall der Führungsautorität muss gestoppt werden. Mit Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier und die sie begleitenden Personen muss ein Personaltableau unterstützt werden, das der SPD und auch der Öffentlichkeit personelle Beständigkeit und Verlässlichkeit gibt.

• Die tüchtigen Kommunalpolitiker, die die SPD im ganzen Land aufweist, müssen in die Führungsstrukturen der Partei auf Bundesebene stärker eingebunden werden. Damit ist in meinen Augen zwangsläufig eine Verjüngung verbunden.

• Die SPD muss ihr Spektrum öffnen, nicht verengen. Wir brauchen eine Öffnung in alle gesellschaftlichen Gruppen, wir brauchen politische Charaktere in der vollen Bandbreite. Wie man ein Spektrum erfolgreich öffnet und das auch noch über widerstreitende Positionen, hat uns die Union bei Opel zwischen Merkel, drei Ministerpräsidenten und Guttenberg erfolgreich vorgeführt.

• In einem solchen Prozess der Öffnung geht es vor allem darum, die gesellschaftliche Mitte in Deutschland inhaltlich zu erreichen. Damit ist keineswegs ausgeschlossen, das Verhältnis zur Linkspartei zu entkrampfen und zu normalisieren. Dieses Verhältnis wird maßgeblich davon bestimmt, ob der Linkspartei ein Anpassungsprozess gelingt - vor allem auf den Feldern der Außenpolitik, der Europapolitik und mit Blick auf die Einnahmen- und Ausgabenseite des staatlichen Haushaltes.

• Mit dem Rückfall auf ein bloß alimentierendes Verständnis von Sozialpolitik (nach dem Motto "viel hilft viel") wird die SPD keine Kompetenz zurückgewinnen. Von entscheidender Bedeutung ist eine moderne Sozialpolitik (vorsorgende Sozialpolitik mit dem Schlüsselfaktor Bildung), die vor allem die demografischen Veränderungen nicht verdrängt, in Kombination mit einer starken wirtschafts- und finanzpolitischen Kompetenz.

• Der SPD steht die Herausforderung einer Organisationsreform bevor. Sie wird sich über die Betreuung von bzw. Beteiligung an "klassischen" Vorfeldorganisationen ebenso Gedanken machen müssen, wie über Kommunikations- und Veranstaltungsformen, die der Neugier der Internetgeneration entsprechen.

• Schließlich wird die SPD sich Gedanken machen müssen über ein großes Bewegungsthema, das an die Zukunft unseres Landes wie auch des Erdteils anknüpft. Bei dieser Suche könnte man auf die Herausforderung stoßen, wie man die Verlierer der Globalisierung - national wie international - einerseits schützen kann, um unsere Gesellschaft zusammenzuhalten und unseren Globus zu stabilisieren, und zugleich denjenigen, die an der Globalisierung aktiv teilhaben wollen, die dafür notwendig Bedingungen und Spielregeln bieten kann.

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