Bremen-Schock Sechs Rezepte gegen die Wahlmüdigkeit

Die Zahl der Nichtwähler hat in Bremen einen neuen Höhepunkt erreicht. Wählen im Supermarkt, längere Öffnungszeiten, Programme an Schulen - was hilft wirklich gegen die Politikverdrossenheit? Sechs Ideen im Überblick.
Vier Wahlkabinen und eine Wählerin

Vier Wahlkabinen und eine Wählerin

Foto: Arno Burgi/ picture alliance / dpa

Noch nie sind in einem westdeutschen Bundesland bei Landtagswahlen so wenige Menschen zur Urne gegangen wie am Wochenende in Bremen. Die Hälfte der Wahlberechtigten blieb dort zu Hause. Und auch bundesweit gibt es immer mehr Nichtwähler - die Wahlbeteiligung ist seit 1998 bei den Bundestagswahlen um mehr als zehn Prozentpunkte gesunken.

Viele Deutsche haben keine Lust mehr auf Wählen. Woran liegt das? Welche Rezepte gibt es gegen Wahlmüdigkeit? Was könnte wirklich helfen?

1. Politische Bildung

Je niedriger der durchschnittliche Bildungsgrad in einem Stadtteil, desto niedriger ist auch die Wahlbeteiligung - so war es auch in Bremen. Wie kann man also Wähler mobilisieren, die zum Beispiel kein Abitur haben? Die Landeszentrale für politische Bildung in Bremen hat versucht, mit dem Projekt "Juniorwahlen" die Erstwähler in allen Schulen des Landes zu erreichen. Die Schüler simulierten dann einen Wahltag und stimmten zur Probe ab - während des Unterrichts sind sie verpflichtet teilzunehmen. Bei den letzten Wahlen konnte die Landeszentrale mit dem Projekt schon einen Erfolg verzeichnen, so deren Leiter Sebastian Ellinghaus. "Die Wahlbeteiligung ging zwar allgemein nach unten, aber bei den Erstwählern war ein gegenteiliger Trend zu erkennen."

2. Den Urnengang erleichtern

Es muss einfacher und bequemer werden zu wählen - auf dieser Idee basieren eine ganze Reihe von Vorschlägen, die Parteien in den vergangenen Monaten vorgestellt haben. SPD-Generalsekretärin Fahimi regte zum Beispiel an, dass Bürger auch im Supermarkt wählen können, die Union will längere Öffnungszeiten der Wahllokale. Und auch eine sichere Onlinewahl soll es irgendwann in Zukunft geben.

Aber was bringt das? "Tendenziell würde die Wahlbeteiligung sicherlich etwas steigen", sagt Wahlforscher Klaus-Peter Schöppner. Wenn man zum Beispiel im Supermarkt sei, dort daran erinnert werde, dass Wahl sei und gleich sein Kreuz machen könne. Solche technischen Verbesserungen würden aber das Problem nicht an der Wurzel packen und nichts an der Wahlmüdigkeit ändern - an der "Entfremdung zwischen Bürger und Politik", so Wahlforscher Schöppner.

Torsten Schneider Haase vom Forschungsinstitut Emnid sagt: "Auch längere Ladenöffnungszeiten erhöhen den Umsatz der gesamten Marktwirtschaft nicht drastisch, genauso wenig werden technische Details die Wahlbeteiligung wesentlich steigern."

Denn die Menschen blieben den Wahlurnen nicht fern, weil sie bequem und zufrieden seien, so Forsa-Chef Güllner. "Sondern sie sind unzufrieden." Jüngste Umfragen von Infratest dimap aus Bremen belegen diesen Befund. So sagen 67 Prozent der Nichtwähler auf die Frage, warum sie nicht abgestimmt haben: "Politiker verfolgen doch nur ihre eigenen Interessen." 58 Prozent erklärten: "Derzeit vertritt keine Partei meine Interessen. 46 Prozent gaben an: "Gehe bewusst nicht zur Wahl, um meine Unzufriedenheit mit der Politik zu zeigen."

3. Politik muss unterscheidbarer werden

Was ist denn eigentlich noch der Unterschied zwischen Grünen und CDU? Die Union will doch jetzt auch den Atomausstieg. Die Grünen sind keine rein pazifistische Partei mehr. Und den Mindestlohn wollen irgendwie auch fast alle. Politik muss unterscheidbarer werden, heißt es deshalb immer wieder - auch von den Parteien selbst. Das aber ist schwierig. "Es gibt eine Sozialdemokratisierung der Politik, aber die kann man nicht allein den Parteien anlasten, auch die Bürger werden immer sozialdemokratischer", sagt Politikforscher Schneider Haase. Die großen Konfliktlinien zum Beispiel Ökologie gegen Ökonomie seien aufgeweicht. "Die Wähler leben einen stärkeren Konsens, verständlicherweise orientieren sich die Parteien deshalb zur Mitte."

Es stimme nicht, dass sich die Bürger nach mehr Streit und Unterschieden sehnen würden. Die Nichtwähler fänden eher, dass die Politiker sich zu viel streiten, "sie erwarten mehr Konsens", so Forsa-Chef Güllner. Hämische Kommentare gegenüber dem politischen Gegner kämen beim Bürger meist überhaupt nicht gut an.

4. Echte Lösungen statt Krisenmanagement

"Es geht monatelang um die NSA und Edathy, das sind zwar unschöne Sachen, aber es sind nicht die Hauptprobleme des Wählers", sagt Wahlforscher Schöppner. Die Menschen hätten zunehmend das Gefühl: "Warum kümmert sich keiner um mich?" Zwar sei die wirtschaftliche Lage in Deutschland gut, aber das Unsicherheitsgefühl bei den Menschen trotzdem auf Rekordhoch. Die Politiker, so das Gefühl bei sehr vielen, würden nur Krisenmanagement betreiben, statt wirkliche Lösungen zu erarbeiten. Schöppner nennt Themen wie Konzepte für Flüchtlinge, die demografische Entwicklung, die Situation auf den Finanzmärkten, Sorge wegen der globalisierten Weltwirtschaft und des Aufstiegs Chinas etwa. "Für den redlichen Bürger, der seine Steuern ehrlich zahlt, sein Strafmandat rechtzeitig begleicht und sich für seine Kinder einsetzt, wird wenig getan." Stattdessen kümmert sich die Politik um Randgruppen, so Schöppner. "Die Politik muss empathischer werden, sich wieder in die Probleme der Menschen einfühlen", so Schöppner. Auch Güllner beklagt, dass Minderheiten zu viel Aufmerksamkeit bekämen und die Politik sich von ihnen treiben ließe. Als Beispiel nennt der Wahlforscher Pegida - die ja auch in Dresden nur einen kleinen Teil der Bürger ausmachten - oder die "Wutbürger" von Stuttgart 21.

5. Politiker, die man versteht

Um Menschen zu motivieren, wählen zu gehen, muss es mehr Politiker geben, die nicht abgehoben wirken und authentisch sind. Gleichzeitig müssten sie vermitteln, dass sie die immer unübersichtlicheren Probleme durchblicken, so Forscher Schöppner. Authentische Politiker, Typ "Primus inter Pares", könnten auch im direkten Kontakt mit Bürgern zum Wählen anregen, im Wahlkampf etwa. Zur Politikmüdigkeit trügen auch Politiker bei, die man nicht mehr verstehe, weil sie in so unverständlichen Floskeln redeten, so Meinungsforscher Güllner.

6. Wahlpflicht

In Deutschland kann jeder frei entscheiden, ob er wählen geht oder nicht. In anderen Ländern hingegen drohen Bürgern, die nicht an die Urne gehen, sogar Strafen. In Luxemburg oder der Schweiz ist eine Geldstrafe fällig, wenn man keinen Gebrauch von seinem Wahlrecht macht. In Australien müssen Bürger bei wiederholtem Fernbleiben von der Wahl mit einer Haftstrafe rechnen.

Kritiker der Wahlpflicht sehen solche Maßnahmen als Verletzung der Persönlichkeitsrechte. Zudem müsste es bei einer Wahlpflicht auch ein Feld für Enthaltungen geben, falls Wähler sich mit keiner Partei identifizieren können - das würde vielleicht die Wahlbeteiligung steigern, das Ergebnis bliebe jedoch dasselbe.

Und ähnlich wie Wählen im Supermarkt oder längere Öffnungszeiten der Wahllokale würde eine Wahlpflicht nichts an der Politikmüdigkeit ändern - da sind sich Wahlforscher einig. Eine Wahlpflicht könnte den Verdruss sogar verstärken. "Es könnte das Gefühl aufkommen, die Politiker schaffen es nicht, Lösungen anzubieten und jetzt wollen die uns auch noch verpflichten, sie zu wählen", so Schöppner.

Die Wähler, die einfach nur aus Lustlosigkeit nicht wählen gehen, könnte man durch eine gesetzliche Wahlpflicht jedoch abfangen - das sind Befragungen zufolge aber wenige.

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