
S.P.O.N. - Im Zweifel links Wollen wir den totalen Krieg?

Nie ist von unseren westlichen Werten so viel die Rede wie zu Weihnachten, zu Ostern oder nach einem terroristischen Anschlag. Dieser Ostermontag bietet also gleich doppelten Grund, auf den westlichsten aller Werte hinzuweisen: die Versöhnung. Wir holen die Bibel hervor und lesen den Zweiten Korinther-Brief des Apostels Paulus: "Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung."
Aber manchen im Westen steht der Sinn zurzeit nach nichts weniger als nach Versöhnung. Im Gegenteil: Krieg. Krieg. Krieg. Nach den Attentaten von Paris und Brüssel wird viel vom Krieg geredet. Das Wort vergiftet den, der es gebraucht. Die wehrhafte Demokratie ist nicht die kriegerische Gesellschaft. Es ist wahr, was die Spötter sagen: Terroristen lassen sich nicht bekämpfen, indem man sie mit Törtchen bewirft. Aber mit Bomben eben auch nicht. Der Kampf gegen den Terror ist keine Frage des Kalibers.
"Wir sind im Krieg", hat der französische Premierminister Manuel Valls nach den Morden von Brüssel gesagt. Aber wer ist der Feind? Jetzt in Brüssel, im vergangenen Jahr in Paris, vor drei Jahren in Boston - die Terroristen sind unsere eigenen Kinder. Die bislang bekannten Täter von Brüssel, Najim Laachraoui und Ibrahim und Khalid El Bakraoui, stammten alle aus Belgien. Fünf der sieben in Paris getöteten Attentäter vom November des vergangenen Jahres waren Bürger der Europäischen Union. Und die Brüder Zarnajew, die 2013 den Bombenanschlag in Boston verübt hatten, waren in den USA aufgewachsen. Was für ein Krieg soll das sein, den wir da gegen die Terroristen führen? Ein Bürgerkrieg?
Wer einen Gegenstand mit den falschen Werkzeugen zu fassen versucht, darf sich nicht wundern, wenn er danebengreift. Dieser Gedanke ist nicht trivial, sowohl was die Vernunft der Ergebnisse als auch was die Moral der Verantwortung angeht. Weil sich der Kampf gegen den Terror in militärischen Kategorien nicht verstehen lässt, ist er mit militärischen Mitteln auch nicht zu gewinnen. Wer den Terror systematisch missversteht, steht ihm andauernd machtlos gegenüber - und trägt letztlich Mitschuld an den Toten.
Unser eigenes, anderes Gesicht
Dasselbe gilt für den vorgeblichen Zusammenhang des Terrors mit der islamischen Religion. Er ist eine westliche Konstruktion, derer wir bedürfen, um uns das Eigene, das wir im Terror erkennen, vom Leib zu halten. Der Islamforscher Olivier Roy hat mit Blick auf unsere Terroristen gesagt: "Selbst in ihrem Bruch mit der Gesellschaft bleiben die europäischen Dschihadisten einem sehr westlichen Modell verbunden. Es ist nihilistisch, was überhaupt nicht der islamischen Tradition entspricht."
Der islamistische Terror ist überhaupt nur so zu verstehen, wie ihn der französische Philosoph Alain Badiou erklärt hat: als unser eigenes, anderes Gesicht. Badiou nennt ihn das "versteckte Phantom" des globalen Kapitalismus. Es sind der Neid und der Hass der Ausgeschlossenen, die sich hier manifestieren. "Der Faschismus nährt den Islamismus - nicht andersherum", hat Badiou gesagt.
Dieser Gedanke ist im Angesicht der Toten eine Zumutung - aber gleichwohl liegt hier unsere einzige Hoffnung. Denn das Problem, vor das uns der Terror stellt, ist überhaupt nur zu lösen, wenn wir ihn als sozialpsychologisches Phänomen betrachten, das uns zugänglich ist.
Andernfalls droht uns der totale Krieg. Denn wer den Kampf gegen den Terror als Krieg begreift, wird ihn als totalen Krieg führen müssen - als Krieg, dem auf Dauer Recht und Zivilität zum Opfer fallen.
In der Gesellschaft des totalen Krieges werden die Menschen von hochgerüsteter Technologie überwacht, schwer bewaffnete Sicherheitskräfte kontrollieren den öffentlichen Raum, Metalldetektoren sichern den Zutritt von Schulen und Kaufhäusern, aber die eigene Moral bekommt Risse: In Israel hat neulich ein Soldat einen am Boden liegenden verletzten Attentäter mit einem Schuss in den Kopf hingerichtet. Wenn der Ausnahmezustand zum Normalzustand wird, ist das kein Zeichen von Stärke - es ist die Kapitulation.
"Der beste Schutz vor Terrorismus ist immer noch, möglichst viele Terroristen zu töten oder ins Gefängnis zu sperren", hat Julian Reichelt in der Bild-Zeitung geschrieben. Das ist falsch. Der beste Schutz vor Terrorismus besteht darin, ihn gar nicht erst entstehen zu lassen. Niemand kommt als Terrorist auf die Welt.
Wenn er von Versöhnung spricht, benutzt Paulus im Korinther-Brief das ungewöhnliche Wort "katallage". Eigentlich bedeutet es, den Unterschied zwischen zwei Dingen verringern, sie angleichen oder miteinander vertauschen. Im Osterwunder geschieht das, was der Theologe Karl Barth den unbegreiflichen Tausch genannt hat: "Die Versöhnung des Menschen mit Gott, dass Gott sich an die Stelle des Menschen setzt und der Mensch an die Stelle Gottes gesetzt wird ..."
Versöhnen bedeutet, den Platz zu tauschen. Keine Kleinigkeit. Aber zu Ostern kann man es versuchen.