Bundespräsidenten-Kür "Die Wahl-Praxis ist rechtswidrig"

Wer der künftige Bundespräsident wird, bestimmen auch die Landtage. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE erklärt der Staatsrechtslehrer Martin Morlok, warum in etlichen Bundesländern die Wahlmänner-Aufstellung gegen das Gesetz verstößt - und warum die Tricksereien der Fraktionen so schwer zu bekämpfen sind.

SPIEGEL ONLINE: Die Hälfte der Mitglieder der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt, wird von den Landtagen entsandt. Die meisten Landesparlamente stellen dafür eine gemeinsame Kandidatenliste aller oder zumindest der führenden Fraktionen auf. Ist das in Ordnung?

Morlok: Prinzipiell ist es möglich, nur über eine einzige Vorschlagsliste abzustimmen, die von mehreren oder allen Fraktionen getragen wird. Ich habe aber große Zweifel, ob das wirklich geschieht. Denn dort, wo einheitlich über sogenannte gemeinsame Wahlvorschläge abgestimmt wird, die in sich aber wieder getrennte Listen der einzelnen Fraktionen enthalten, handelt es sich eben gerade nicht um eine gemeinsame Liste. Vielmehr stellt das eine Abstimmung en bloc dar - und eine Blockwahl ist vom Gesetz nicht vorgesehen.

SPIEGEL ONLINE: Das ist so zuletzt in vielen Bundesländern geschehen, nämlich in Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, dem Saarland und Sachsen-Anhalt. Die können doch nicht alle falsch liegen?

Morlok: Der Teufel liegt hier im Detail. Der entscheidende Punkt ist, dass die Landtage ja nicht nur die sogenannten ordentlichen Mitglieder wählen, sondern auch Ersatzkandidaten für den Fall, dass ein Kandidat die Wahl nicht annimmt oder kurzfristig etwa wegen Krankheit ausfällt.

Wenn ein Land zum Beispiel 50 Mitglieder für die Bundesversammlung zu wählen hat, wäre es ja zulässig, eine gemeinsame Liste einzureichen, in der Kandidaten der CDU, der SPD, der FDP und der Grünen entsprechend dem parlamentarischen Proporz enthalten sind. Dann müsste diese Liste aber von Nummer 1 bis 50 durchnummeriert werden, und danach kämen ab 51 eine beliebige Zahl von Ersatzkandidaten.

SPIEGEL ONLINE: In Rheinland-Pfalz läuft es so für die eigentlichen Mitglieder, bei den Ersatzkandidaten hat dagegen jede Fraktion ihre Unterliste.

Morlok: Das ist ein etwas pfiffigerer Trick, aber auch das geht so nicht. Denn das Nachrücken macht den Unterschied zwischen der durchnummerierten Einheitsliste und dem gemeinsamen Wahlvorschlag mit getrennt nummerierten Listen aus.

SPIEGEL ONLINE: Das müssen Sie erklären!

Morlok: Fällt auf der echten gemeinsamen Liste etwa ein SPD-Kandidat aus, rückt nach dem Gesetz eben Platzziffer 51 nach - egal ob das ein CDU- oder SPD-Mann ist. Mit den separat nummerierten Listen wollen die Fraktionen dagegen erreichen, dass für einen SPD-Wahlmann immer auch ein SPD-Kandidat nachrückt.

SPIEGEL ONLINE: Dass die Fraktionen darauf Wert legen, kann man doch verstehen?

Morlok: Natürlich. Diese Praxis widerspricht nur ganz klar dem Gesetz für die Wahl des Bundespräsidenten. Und da wahlrechtliche Regeln strikt zu beachten sind, ist das meines Erachtens rechtswidrig.

SPIEGEL ONLINE: Offenbar wird das aber schon seit langem so gemacht.

Morlok: Dann ist es eine Übung der Landtage, die am Gesetz vorbeigeht, und das kann kein Gesetz aushebeln, schon gar kein Bundesgesetz.

SPIEGEL ONLINE: Aber wenn jede Fraktion eine eigene Liste aufstellt, über die dann in Konkurrenz zu den anderen Listen abgestimmt wird, können doch auch im Fall der Fälle die jeweiligen Ersatzkandidaten einer Fraktion nachrücken?

Morlok: Natürlich, so ist das vom Gesetz ja vorgesehen, und das wäre auch demokratisch die beste Lösung. Offenbar wollen die Landtage, die über einen einheitlichen Wahlvorschlag abstimmen, aber das demokratische Risiko der Wahl umgehen.

SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit?

Morlok: Letztlich wird über diese gemeinsamen Listen ja nicht wirklich abgestimmt; vielmehr wird vorher mathematisch ausgeknobelt und festgelegt, wer wie viele Wahlmänner und -frauen entsenden darf. Was aber, wenn etwa ein SPD-Landtagsabgeordneter Herrn Köhler viel besser findet als Frau Schwan, und deshalb angesichts der voraussehbar knappen Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung bewusst der CDU einen zusätzlichen Wahlmann verschaffen will? Der kann bei einer gemeinsamen Liste seinen Einfluss gar nicht geltend machen - denn wenn er dagegen stimmt, ändert das doch nichts am vorher festgelegten Ergebnis.

Dass ein Abgeordneter aber vielleicht auch mal die Konkurrenzliste wählen will, ist sein gutes demokratisches Recht. Dass jemand anders wählt, als man es von ihm erwartet, gehört zum demokratischen Spiel. Die gemeinsame Liste ist dagegen ein Wahlverfahren, durch das der einzelne Abgeordnete seine Gestaltungsmacht verliert.

SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet es für die Wahl des Bundespräsidenten, wenn die Wahlpraxis vieler Landtage rechtswidrig ist?

Morlok: Für die Bundespräsidentenwahl gibt es - anders als etwa bei der Bundestagswahl - kein Wahlprüfungsverfahren. Auf Landesebene kann zwar die Wahl zur Bundesversammlung angefochten werden, aber nur zwei Tage lang und nur durch Landtagsmitglieder oder Bewerber aus einer Vorschlagsliste. Selbst wenn es dazu kommt, wird die Landtagsmehrheit eine solche Beschwerde aber vermutlich abbügeln. Wenn sich politisch nichts ändert, muss der Bundespräsident letztlich mit diesem Makel leben.

SPIEGEL ONLINE: Ein Bürger aus Baden-Württemberg hat dieses Problem gerichtlich geltend gemacht - bislang vergeblich.

Morlok: Der einzelne Bürger hat da kein Klagerecht. Es ist aber aus meiner Sicht eine gravierende Schwäche der Bundespräsidentenwahl, dass solche und andere Wahlfehler nicht in einem förmlichen Prüfungsverfahren geltend gemacht werden können. Was ist etwa, wenn es am 23. Mai in der Bundesversammlung zu einem Verstoß gegen die geheime Wahl kommt? Oder wenn sich hinterher herausstellen würde, dass Mitglieder unzulässig unter Druck gesetzt worden oder sogar Stimmen gekauft worden sind? Da könnte man gar nichts machen.

SPIEGEL ONLINE: Der erwähnte Kläger macht auch gerichtlich geltend, dass gesetzlich gar nicht geregelt ist, wer die Vorschlagslisten aufstellen darf, und dass deshalb der baden-württembergische Landtag auch seine Bewerbung als Wahlmann hätte berücksichtigen müssen.

Morlok: Eigentlich sollte dazu in der Geschäftsordnung des Landtages Näheres stehen, das ist aber nicht der Fall. Deshalb gibt es hier in der Tat ein gewisses Regelungsdefizit.

SPIEGEL ONLINE: Hat der Mann dann mit seiner Forderung Recht?

Morlok: Eher nicht. Zu den übergeordneten Wahlgrundsätzen gehört auch die Allgemeinheit der Wahl, dass also prinzipiell jedermann ein Teilhaberecht hat. Das Vorschlagsrecht ist aber eng mit dem Recht zu wählen verknüpft, und das liegt hier beim Landtag. Im Prinzip dürfte auch ein einzelner Abgeordneter eine Vorschlagsliste einreichen. Dass jemand von außen Vorschläge einreichen kann, der selbst gar nicht wahlberechtigt ist, wäre zwar theoretisch denkbar - aber so etwas müsste dann schon ausdrücklich geregelt sein.

Bundespräsident und Bundesversammlung

Das Interview führte Dietmar Hipp
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