Bundespräsidentenwahl Gauck und Wulff kritisieren Stimmung im Land

Hier wollen die Kandidaten hinein: Schloss Bellevue in Berlin, Sitz des Bundespräsidenten
Foto: TOBIAS SCHWARZ/ REUTERSBerlin - Für die beiden Kandidaten hat die Zeit der grundsätzlichen Betrachtungen begonnen. In Deutschland gebe es eine "Unkultur des Verdrusses", erklärte Joachim Gauck am Samstag in seiner Heimatstadt Rostock. Der Kandidat von Union und FDP, sagte in einem Interview: "Für mich sind Stil und Inhalt der Politik gleichermaßen wichtig. Nicht nur die Inhalte sind wichtig, sondern auch die Form. Da sehe ich einen bedrohlichen Verlust der politischen Kultur."
So nimmt der heimliche Wahlkampf seinen Gang - eine Mehrheit der Deutschen glaubt gar an einen Sieg des Kandidaten von SPD und Grünen, . 54 Prozent ermittelte im Auftrag der ARD das Institut infratest-dimap.
Der frühere DDR-Bürgerrechtler zeigte sich froh über Wulff als seinen Mitbewerber. "Mein erster Impetus war: nicht gegen Ursula von der Leyen. Gegen sie zu kandidieren wäre für mich sehr schwer gewesen", sagte Gauck der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Er habe hohen Respekt vor der Leistung der Arbeitsministerin. Auch mit dem Bundesfinanzminister als Gegner hätte er sich schwergetan: "Ich bin froh, dass ich mir nicht überlegen musste, ob ich gegen Wolfgang Schäuble antrete", sagte Gauck.
Dem Berliner "Tagesspiegel am Sonntag" sagte er, es sei für ihn schrecklich, dass seine Bewerbung als Angriff auf Bundeskanzlerin Angela Merkel wahrgenommen werde. Der Gedanke, sein Erfolg in der Bundesversammlung könne das Ende von Merkels Kanzlerschaft bedeuten, habe ihm "zu schaffen gemacht". Da Merkel aber zu jenen Politikern gehöre, die auch in Krisen neue Möglichkeiten erkennen könnten, sei er sich sicher: "Die Wahl des Bundespräsidenten Joachim Gauck wäre keineswegs automatisch das Ende der Ära Merkel."
Kritik an der Stimmung in Deutschland
Gauck kritisierte die Stimmungslage im Land. Von außen erscheine Deutschland als eine Oase der Sicherheit. "Viele Deutsche wissen davon jedoch wenig. Das Lebensgefühl scheint teilweise so, als ob wir in einer Gesellschaft leben, die von Katastrophen geplagt ist." Die Mentalität sei auf tragische Weise nicht auf der Höhe der Existenz. "Viele sehen ihre Lebensaufgabe darin, sich möglichst entschlossen zu ärgern."
Ein großer Teil der Aufbruchsstimmung der Wendezeit sei verloren gegangen, sagte Gauck auf der Veranstaltung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). "Der Stolz von 1989 lebt nicht mehr in uns." Viele Menschen in Ostdeutschland hätten Schwierigkeiten, den Begriff "Freiheit" positiv zu besetzen. Dies stehe im Gegensatz zu Ländern wie Polen oder USA.
Als Beleg verwies Gauck auf die Wahlbeteiligung: Bei den ersten freien Wahlen nach der Wende habe sie noch bei 90 Prozent gelegen, inzwischen sei sie auf teilweise unter 50 Prozent abgerutscht. Bei der Demokratie müssten nicht alle mitmachen, es werde aber eine hinlängliche Bürgerbeteiligung gebraucht, "um die Landschaft noch Demokratie zu nennen".
Auf die bevorstehende ging Gauck nur am Rande ein. Seine Chancen, gewählt zu werden, seien überschaubar, sagte er. "Ich bin Realist genug, das auch so zu sehen." Er trat der Kritik aus der Linkspartei entgegen, er sei zu sehr rückwärts gewandt. "Viele von denen, die mir das vorwerfen, gehörten selbst zu einem sehr rückwärts gewandten System."
Wulff gibt Bürgern Mitschuld an wachsender Distanz zur Politik
Wulff forderte im Interview mit dem "Focus" mehr Ehrlichkeit von den Politikern: Er sei davon überzeugt, dass die Wahrheit den Menschen zumutbar sei. "Sie sehnen sich danach, reinen Wein eingeschenkt zu bekommen. Und sie sehnen sich auch nach Orientierung, danach, dass Politiker ihre Entscheidungen gut begründen und sie dann auch durchsetzen", sagte er. "Dass die große Mehrheit der Deutschen viel weiter ist als viele Politiker meinen, sieht man daran, dass die große Mehrheit der Deutschen einen Ausstieg aus der schuldenfinanzierten Krisenbekämpfung will."
Eine Mitschuld an der wachsenden Distanz zwischen Volk und Volksvertretern gibt Wulff auch den Bürgern: "Wir erleben heute ungeduldiger werdende Bürger, die gelegentlich nicht bereit sind, das zu tun, was die Politiker machen." Die Bürger würden sich manchmal auch so parteienfeindlich profilieren, weil sie sich dann sagen könnten: "Ich habe einen guten Charakter, die in den Parteien haben alle einen schlechten Charakter." Dies sei die falsche Herangehensweise: "Ich sage: Wer einen guten Charakter hat, kann den in der Politik behalten; wer vorher keinen hatte, wird ihn in der Politik wohl auch nicht bekommen", sagte Wulff.
Union wirft SPD Verrohung der Sitten vor
Unterdessen werden im Parteienstreit um die Wahl des Bundespräsidenten die Töne schärfer. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe nannte es eine "Schande", dass die SPD Wulff zum sofortigen Rücktritt von seinem Regierungsamt in Hannover auffordert. "Die Attacken der SPD sind vollkommen scheinheilig. Sie hat nach ihren Attacken auf Horst Köhler nichts dazu gelernt." Johannes Rau habe 1994 als amtierender SPD- Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert.
SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hatte von einem unwürdigen Schauspiel" gesprochen: "Christian Wulff sollte zumindest soviel Schneid haben, sich zu entscheiden: entweder Ministerpräsident oder Präsidentschaftskandidat. Deshalb sollte er unverzüglich von seinem Amt in Hannover zurücktreten", sagte er der "Bild"-Zeitung.