Bundestag Um Mitternacht ist Feierabend

Spärlich besetzt: Der Plenarsaal des Bundestages bei einer Nachtsitzung im Juni 2019
Foto: Kay Nietfeld/ dpaZu später Stunde gleicht der Bundestag nicht selten einer Geisterrunde. Im weiten Rund des Plenarsaals sitzen wenige Abgeordnete, die meist müde ebenso müden Rednern lauschen. Der spärliche Applaus, oft weit nach Mitternacht, unterstreicht die Tristesse der Szenerie unter der Reichstagskuppel.
Damit soll nun Schluss sein. Wenn der Bundestag an diesem Mittwoch in seine beiden letzten Sitzungswochen des Jahres startet, sollen neue Regeln gelten. Spätestens um Mitternacht soll künftig Feierabend sein, für Abgeordnete genauso wie für Mitarbeiter, darunter etwa die Saaldiener und Stenografen.
Schon länger hatten die Fraktionen über eine Reform der Parlamentsarbeit nachgedacht. Als Anfang November ein Abgeordneter der CDU während einer Rede zusammengebrach und am selben Tag auch eine Parlamentarierin der Linken einen Schwächeanfall erlitt, kam Bewegung in die Angelegenheit.
Seit Kurzem steht ein Kompromiss. Um Nachtsitzungen - meist von Donnerstag auf Freitag - zu vermeiden, sollen fünf Tagesordnungspunkte vom Donnerstag auf den Mittwoch verlegt werden. Allerdings geht diese Maßnahme auf Kosten der Redezeit - bei den meisten Debatten wird diese zum jeweiligen Tagesordnungspunkt von ursprünglich insgesamt 38 Minuten auf 30 Minuten verkürzt, was sich entsprechend auf die Dauer der Beiträge der einzelnen Abgeordneten auswirkt. Auch die Fragestunde des Parlaments, in der die Abgeordneten Auskünfte von Vertretern der Regierung verlangen, ist betroffen: Sie soll am Mittwoch statt 90 nur noch 60 Minuten dauern.

CDU-Politiker Michael Grosse-Brömer: "sinnvolle und praktikable Straffung"
Foto: Gregor Fischer/ dpaAuf diese Regelung hatten sich vergangene Woche sowohl die Runde der Parlamentarischen Fraktionsgeschäftsführer als auch der Ältestenrat des Bundestags verständigt. Allerdings nicht einvernehmlich - die AfD-Fraktion trug den Kompromiss nicht mit. Daher muss nun, wie es in der Geschäftsordnung des Bundestags vorgesehen ist, an diesem Mittwoch im Plenum über die Reform abgestimmt werden. Sie dürfte mit den Stimmen von Union, SPD, Grünen, Linke und FDP angenommen werden.
AfD will lieber öfter tagen
Man habe sich auf eine "sinnvolle und praktikable Straffung des Plenarbetriebs geeinigt", sagte der Parlamentarische Unions-Fraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer dem SPIEGEL. Ähnlich äußerte sich der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann: "Alle demokratischen Parteien müssen Interesse an pragmatischen Regeln haben, die die Arbeitsfähigkeit des Parlaments sicherstellen."
Die AfD hingegen sieht sich isoliert, obwohl sie nach Aussagen ihres Ersten parlamentarischen Fraktionsgeschäftsführers Bernd Baumann kompromissbereit gewesen sei. Die erzielte Einigung nannte er "skandalös". Damit bleibe gerade für die Redner einer Oppositionspartei "kaum noch angemessene Zeit", eine Debatte zu führen. "Für die AfD würde sich in der Mehrzahl der Fälle die Redezeit um 20 Prozent auf vier Minuten pro Redner verkürzen", rechnete Baumann im Gespräch mit dem SPIEGEL vor.
Die AfD hatte eine andere Variante ins Spiel gebracht: mehr Sitzungswochen. Ende November schlug Baumann den anderen Parlamentarischen Fraktionsgeschäftsführern in einer Mail unter anderem vor, die Zahl der Sitzungswochen im kommenden Jahr um zwei zu erhöhen und mit einer ersten zusätzlichen Sitzungswoche bereits in der zweiten Kalenderwoche des neuen Jahres zu starten.

AfD-Politiker Bernd Baumann und Alice Weidel: Redezeit würde sich in der Mehrzahl der Fälle verkürzen
Foto: Gregor Fischer/ dpaDoch der Vorstoß kam nicht gut an, wie aus Kreisen der anderen Fraktionen zu hören war. Die Mail vom 26. November sei zu nächtlicher Stunde - um 0 Uhr 42 - verschickt worden, wenige Stunden vor einer am selben Tag angesetzten regulären Runde der Parlamentarischen Fraktionsgeschäftsführer. "Überfallartig" sei das gewesen, heißt es aus einer der anderen Fraktionen. Für manche Parteien ist die zweite Kalenderwoche schon lange fest verplant: So hält die FDP traditionell ihr Dreikönigstreffen am 6. Januar in Stuttgart ab, die CSU-Landesgruppe tagt vom 6. bis 8. Januar im bayerischen Kloster Seeon.
Kritik von CDU-Politiker Grosse-Brömer
CDU-Politiker Grosse-Brömer sprach von einem Vorschlag der AfD-Fraktion "in letzter Minute", der "weder praktikabel noch glaubwürdig" sei. Diesen Vorwurf will AfD-Politiker Baumann nicht gelten lassen. Bereits am 11. November, so seine Version, sei von ihm eine Erhöhung der Zahl der Sitzungswochen bei einem Abendessen der Parlamentarischen Fraktionsgeschäftsführer mit Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) ins Spiel gebracht worden. "Selbst Herr Schäuble hat dabei darauf hingewiesen, dass unser Vorschlag ernsthaft zu prüfen wäre, da zu früheren Zeiten der Bundestag auch schon in mehr Sitzungswochen getagt habe", so Baumann zum SPIEGEL.
Tatsache ist: Eine zusätzliche Sitzungswoche wird es 2020 ohnehin geben. Am 31. Januar dieses Jahres hatten sich alle Fraktionen - auch die AfD - im Ältestenrat darauf verständigt, deren Zahl im kommenden Jahr auf 22 zu erhöhen - derzeit sind es 21.
Darauf weist auch Grosse-Brömer hin, um den Vorwurf der AfD abzublocken. "Leider" verweigere sich die AfD "unseren Vorschlägen in weiten Teilen", sagte der CDU-Politiker, was erneut zeige, dass "diese Partei kein Interesse an einer guten Debattenkultur hat und auch auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundestags nicht ausreichend Rücksicht nimmt".
Die AfD-Fraktion dürfte die Neuregelung möglicherweise verschmerzen, auch wenn sie den anderen Fraktionen vorwirft, auf die Redezeit ihrer Abgeordneten abzuzielen. Sie hat auswerten lassen, dass die meisten ihrer Reden im Internet gesehen werden - unabhängig von der Sitzungszeit des Bundestags. In den letzten 30 Tagen habe seine Fraktion "1,9 Millionen Videoaufrufe bei YouTube gezählt", sagte Baumann, die Koalitionsfraktionen von Union und SPD hingegen "gerade einmal 35.000".