Stimmenfang - Der Politik-Podcast Darum muss der Bundestag kleiner werden
111 - eine Schnapszahl. Und die Zahl der zusätzlichen Abgeordneten, die in der aktuellen Legislaturperiode im Bundestag sind. Denn statt 598 - wie im Bundeswahlgesetz vorgesehen - sitzen seit Herbst 2017 709 Politiker im Parlament. Ganz schön viele Abgeordnete. Zu viele - da sind sich die Parteien eigentlich einig.
Warum schaffen es die Fraktionen also trotzdem nicht, das Bundestagswahlrecht zu reformieren und das Parlament so in Zukunft zu verkleinern.
Darum geht es in der neuen Folge von Stimmenfang. Mit unserem Kollegen Jonas Schaible aus dem Hauptstadtbüro werfen wir einen Blick auf das spezielle deutsche Wahlrecht, das den "Bundestag XXL" überhaupt erst möglich macht. Er erklärt: "Das liegt daran, dass der Deutsche Bundestag im Grunde nach zwei verschiedenen Wahlrechten gewählt wird, die ein bisschen im Konflikt zueinander stehen."
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Weil durch das Zusammenspiel von Erst- und Zweitstimmen sogenannte Überhang- und Ausgleichsmandate entstehen, wächst das Parlament immer stärker an. Aber warum taucht das Problem heute stärker auf als noch vor zwanzig Jahren? "Damals haben die Union und die SPD zwar auch schon viele Direktmandate gewonnen, gleichzeitig aber auch viele Zweitstimmen bekommen. Da war das ein geringeres Problem."
Mittlerweile wurde im Bundestag ein Gesetzesentwurf eingebracht, der eine Reform ermöglichen würde. Der Vorschlag kommt von FDP, Die Linke und dem Bündnis90/Die Grünen und beinhaltet unter anderem eine Vergrößerung der Wahlkreise. Eine Partei stellt sich jedoch dagegen quer: die CSU. Im Podcast versucht der CSU-Abgeordnete Michael Frieser zu erklären, warum seine Fraktion den Entwurf ablehnt: "Weil das Direktmandat uns sehr wichtig ist. Weil es das Scharnier ist zwischen dem Wahlkreis vor Ort und Berlin."
Außerdem kommen Vertreter der Oppositionsparteien zu Wort. Sie sparen nicht mit Kritik an den Unionsparteien. "Hier gibt es ein Totalversagen der regierenden Koalition", sagt zum Beispiel Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch.
Der ganze Podcast zum Lesen
[00:00:04] Matthias Kirsch Willkommen zu Stimmenfang, dem Politik-Podcast vom SPIEGEL. Ich bin Matthias Kirsch.
[00:00:13] Maike Gomm Der Bundestag soll kleiner werden. Was ist denn Ihre Lösung dafür?
[00:00:17] Christian Lindner (FDP) Es gibt keine Lösung, ohne an die Wahlkreise, an die Zahl der Wahlkreise, heranzugehen.
[00:00:22] Dietmar Bartsch (Die Linke) Hier gibt es ein Totalversagen der regierenden Koalition.
[00:00:26] Edgar Franke (SPD) Aus Demokratie-Gesichtspunkten sollten wir die Wahlkreise nicht verkleinern.
[00:00:31] Agnieszka Brugger (Bündnis 90/Die Grünen) Ich finde es furchtbar, wenn die Union immer nur Vorschläge macht, von denen sie selber profitiert und nicht bereit ist, sich auch mal auf die anderen zuzubewegen.
[00:00:39] Michael Abercron (CDU) Also ganz ohne Federn wird keiner der Beteiligten herumkommen. Auf jeden Fall muss was passieren.
[00:00:44] Matthias Kirsch Das war meine Kollegin Maike Gomm - die war letzte Woche im Bundestag und hat dort verschiedene Abgeordnete gefragt, wie der Bundestag denn eigentlich kleiner werden kann. Denn der Bundestag hat ein Problem: Er ist zahlenmäßig einfach zu groß. Da sind sich auch die meisten Parlamentarier einig. Denn statt 598, wie im Gesetz vorgesehen, sitzen momentan 709 Politiker im Parlament. Und es werden auch immer mehr. Es gibt sogar Umfragen, die vorhersagen, dass im nächsten Bundestag über 800 Abgeordnete sitzen könnten. Es braucht also dringend eine Reform des Wahlrechts. Aber genau da ist das Problem, denn Regierung und Opposition werden sich einfach nicht einig.
[00:01:27] Stefan Ruppert (FDP) Es kann nicht sein, dass zwei Fraktionen sagen, wir wollen am Gesetzestisch das zurückgewinnen, was wir beim Wähler verloren haben.
[00:01:35] Yasmin Fahimi (SPD) Ich bin der Überzeugung, dass das Vertrauen in die Demokratie nicht in erster Linie von der Größe abhängt, sondern von unserer Wirksamkeit.
[00:01:42] Michael Grosse-Brömer (CDU) Lassen Sie uns einen übergroßen Bundestag verhindern, lassen Sie uns das Wahlrecht wieder ins Lot bringen. Wir sind dazu bereit, und auch Sie müssen sich bewegen – nicht nur die CDU/CSU. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
[00:01:53] Matthias Kirsch Dabei gibt es das Problem schon lange. Seit 2013 diskutieren die Parteien über eine Reform – passiert ist bislang aber nichts. Warum ist das so? Darum geht es in dieser Folge von Stimmenfang. Wir treffen Mitglieder der Oppositionsparteien, die schon einen Gesetzesvorschlag vorgelegt haben. Ein CSU-Politiker erklärt uns, warum seine Partei diesen Vorschlag aber ablehnt. Und ich spreche mit meinem Kollegen Jonas Schaible, der sich beim SPIEGEL mit diesem Thema beschäftigt hat.
[00:02:23] Matthias Kirsch Hallo Jonas.
[00:02:24] Jonas Schaible Hallo.
[00:02:24] Matthias Kirsch Seit Jahren also sagen die Parteien im Bundestag, der Bundestag muss kleiner werden – trotzdem ist nichts passiert. Und gleichzeitig lässt die Bundestagsverwaltung gerade 400 neue Abgeordnetenbüros bauen. Das ist schon irgendwie eine absurde Situation. Jonas, was läuft denn da bei der Reform des Wahlrechts eigentlich schief?
[00:02:44] Jonas Schaible Man kann das schon so beschreiben, dass hier ein ganzes System im Grunde dabei ist zu versagen. Umso mehr, weil alle Vertreter die Größe des Problems immer wieder selber beschwören. Im Grunde verhandeln die Fraktionen schon seit 2013, kann man sagen, oder reden sie darüber, wie man dieses Wahlrecht verändern könnte. Und obwohl sie das tun, sind sie nicht in der Lage, irgendwie einen fraktionsübergreifenden Konsens zu finden und das zu lösen.
[00:03:15] Matthias Kirsch Bevor wir mehr ins Detail noch einsteigen – kannst du vielleicht einmal für uns zusammenfassen, warum ein Bundestag, der immer weiter wächst, der immer größer wird – warum ist der überhaupt ein Problem?
[00:03:27] Jonas Schaible Ja, das ist eine gute Frage. Man könnte natürlich auch argumentieren: Eigentlich ist so ein Bundestag ja das Edelste, was sich eine Demokratie leistet, und das sind die gewählten Volksvertreter. Und wenn das ein paar mehr sind, dann ist das nicht notwendigerweise problematisch. Aber es gibt im Grunde drei Argumente dafür, warum es so nicht weitergehen kann. Das erste sind die Kosten, also je mehr Abgeordnete da sitzen – die haben alle Mitarbeiter, die brauchen Büros, die brauchen Büroflächen, die müssen erst mal da sein – das ist teuer, das kostet einfach. Jetzt kann man sagen, na ja, das muss sich so eine Demokratie schon auch leisten gegen das, was sie sich sonst so leistet. Ein anderes Argument ist die Arbeitsfähigkeit. Ein Bundestag wird einfach sehr groß. Da sitzen sehr, sehr viele Leute plötzlich in den Ausschüssen. Die müssen sich irgendwie koordinieren und es wird nicht leichter, in den Fraktionen und in den Ausschüssen dann tatsächlich Entscheidungen abzusprechen. Und dann gibt es schon noch ein drittes Problem, und das ist ein kommunikatives. Der Eindruck entsteht natürlich – und nicht ganz zu Unrecht – die Parteien und Fraktionen haben einfach keine Lust, sich selber ins eigene Fleisch zu schneiden.
[00:04:39] Matthias Kirsch Vielleicht zum Anfang einmal die Frage: Also, im Bundeswahlgesetz, da steht festgeschrieben, der Bundestag soll 598 Abgeordnete haben. Das sind ja auch schon eine Menge, aber deutlich weniger, als es tatsächlich sind. Tatsächlich sind in dieser Legislaturperiode 709, also 111 Abgeordnete mehr, als eigentlich im Gesetz steht. Warum ist das so? Warum wächst der Bundestag denn über diese festgeschriebene Zahl hinaus?
[00:05:04] Jonas Schaible Das liegt daran, dass der Deutsche Bundestag im Grunde nach zwei verschiedenen Wahlrechten gewählt wird, die so ein bisschen in Konflikt zueinanderstehen. Nämlich einmal dem Verhältniswahlrecht mit der Zweitstimme, wo man Parteien wählt, Listen wählt, die dann das Verhältnis der Sitze im Bundestag eigentlich abbilden sollen. Und dann gibt es aber noch die Erststimme, und da wählt man Direktkandidaten, die dann auch direkt in den Bundestag einziehen. Das heißt, wenn Parteien mehr Direktmandate gewinnen, mehr Wahlkreise direkt gewinnen, als ihnen nach Zweitstimmen zustehen würden, dann muss man irgendwie mit diesen überschüssigen Mandaten was machen...
[00:05:44] Matthias Kirsch ...weil im Endeffekt sich mehr Leute für den Bundestag, ich nenne es mal, "qualifizieren", als eigentlich Plätze vorgesehen sind.
[00:05:50] Jonas Schaible Genau, so kann man es sagen. Und gerade ist das vor allem bei der CDU und der CSU so. Die CSU zum Beispiel hat alle Wahlkreise in Bayern direkt gewonnen. Sie hat aber in den letzten Jahren an Zweitstimmen auch verloren, und sie tritt auch nur in diesem Bundesland an. Und damit würde sich das Verhältnis verzerren. Die CSU wäre plötzlich stärker, als sie es nach Zweitstimmen sein sollte. Und das gleicht man aus, diese sogenannten Überhangmandate gleicht man aus mit sogenannten Ausgleichsmandaten. Da wird so lange aufgefüllt, bis das Zweitstimmenverhältnis wiederhergestellt ist. Das passiert dann auch noch mit Blick auf Verteilung in den Bundesländern, damit alle Bundesländer gleichermaßen repräsentiert sind. Am Ende wächst der Bundestag weiter.
[00:06:34] Matthias Kirsch Jonas, ich fasse einmal kurz zusammen: Der Bundestag wächst also, wenn erstens eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr verhältnismäßig zusteht und dadurch sogenannte Überhangmandate entstehen. Und zweitens, weil eben genau diese Überhangmandate dann wieder durch Ausgleichsmandate für die anderen Parteien ausgeglichen werden müssen, damit eben das Wahlergebnis korrekt im Bundestag abgebildet ist. Es ist also ein durchaus kompliziertes System. Wo kommt das aber jetzt her, dass dieses Problem besonders in den letzten Jahren aufgetreten ist – dass der Bundestag also heute so viel größer ist, als er es vor 15, 20 Jahren war?
[00:07:14] Jonas Schaible Zum einen hängt es damit zusammen, dass es einfach jetzt tendenziell mehr Überhangmandate gibt. Und das liegt wiederum daran, dass früher zwar auch die CDU und die SPD, vor allem, sehr, sehr viele Wahlkreise gewonnen haben. Die haben aber auch sehr, sehr viele Zweitstimmen gewonnen. Und es gab nicht so viele andere Parteien, die irgendwie in nennenswerter Stärke im Bundestag saßen. Und da war das ein geringeres Problem. Die Union gewinnt aktuell immer noch sehr viele Wahlkreise...
[00:07:40] Matthias Kirsch Um das einmal zu verdeutlichen: Es gibt 299 Wahlkreise in Deutschland, also auch 299 direkt gewählte Abgeordnete und die CDU/CSU, die Union, gewinnt davon 231 – so war es bei der letzten Wahl, also ein riesiger Teil davon...
[00:07:58] Jonas Schaible Genau, hat aber bei den Zweitstimmen sehr stark verloren. Und da entsteht eine Unwucht, die es vor ein paar Jahrzehnten in der Form nicht gab. Der zweite Grund ist diese Zuteilungen auf die Länder. Das sorgt nochmal für einen speziellen Ausgleichsbedarf. Das ist so festgeschrieben worden in der letzten Wahlrechtsreform, deswegen steigen die Ausgleichsmandate gerade auch noch so stark.
[00:08:22] Matthias Kirsch Schauen wir dann mal auf das, was dann jetzt passieren soll. Es soll ja jetzt eine Reform geben, weil die Volksparteien eben nicht mehr so viele Stimmanteile, Zweitstimmanteile haben. Trotzdem geht es da nicht voran mit dieser Reform. Was oder wer sind denn da die Hürden? Was stellt sich einer Reform in den Weg?
[00:08:40] Jonas Schaible Eine besondere Rolle spielt schon in diesem Prozess die CSU gerade, die nochmal eine Sonderrolle hat, weil sie eben auch nur in einem Bundesland antritt und dort auch verlässlich die Direktmandate abräumt...
[00:08:53] Matthias Kirsch ...nämlich bei der letzten Bundestagswahl alle...
[00:08:54] Jonas Schaible ...alle, genau. Und daran möchte sie aus naheliegenden Gründen nichts geändert sehen. Deswegen stellt sich die CSU sehr stark gegen alles, was entweder hieße, die Zahl der Wahlkreise zu verringern. Das könnte man machen – dadurch könnte man die Zahl der Überhangmandate und dann im zweiten Schritt auch die Zahl der Ausgleichsmandate, nicht ganz kalkuliert, aber man könnte es zurückfahren. Und die CSU stellt sich ja auch gegen alle Kappungsvorschläge. Also, es gibt die Idee, gewonnene Überhangmandate ab einem bestimmten Punkt einfach nicht mehr zuzulassen. Dann würden also Leute, die ihren Wahlkreis gewonnen haben, einfach keinen Sitz bekommen im Bundestag. Diese Vorschläge gibt es. Wenn man da an beides nicht ran will, dann wird es schwer, den Bundestag tatsächlich zu verkleinern.
[00:09:40] Matthias Kirsch Die CSU, die stellt sich da also ziemlich quer. Und weil sie eben so ein Knackpunkt ist in der Diskussion, hat unsere Kollegin Maike Gomm mit einem CSU-Vertreter gesprochen darüber, mit Michael Frieser. Er ist Abgeordneter im Bundestag und auch Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft zur Reform des Bundestagswahlrechts, so heißt die. Jonas lass uns doch das Gespräch zwischen Maike und Michael Frieser mal anhören.
[00:10:04] Maike Gomm Ja, Herr Frieser, schön, dass Sie sich Zeit genommen haben. Der Bundestag soll kleiner werden. Eine Möglichkeit wäre, die Wahlkreise zu vergrößern. Das kommt für die CSU nicht infrage. Warum?
[00:10:16] Michael Frieser Weil das Direktmandat uns auch wirklich sehr wichtig ist. Weil es das direkte Scharnier zwischen dem Wahlkreis vor Ort und Berlin ist. Das würden wir ungern zugunsten einer sehr vagen Variante aufgeben wollen.
[00:10:29] Maike Gomm Die CSU hat bei der letzten Bundestagswahl alle Direktmandate in Bayern bekommen. Da kommt dann schnell der Vorwurf: Sie profitieren ja auch davon, deswegen sind Sie gegen die Vergrößerung der Wahlkreise. Was sagen Sie zu dem Vorwurf?
[00:10:43] Michael Frieser Die Wahlkreise sind tatsächlich in Bayern nicht unser Problem. Das ist nicht das erste Mal passiert, dass die CSU die alle gewinnt. Darum geht es aber doch in Wahrheit gar nicht, sondern es geht darum, dass wir den Deutschen Bundestag funktionsfähig halten müssen. Im Augenblick ist das Verhältnis schon 40 zu 60. Nur 40 Prozent sind direkt gewählt, 60 Prozent sind über die Liste. Warum jetzt das Problem, bei den Direktkandidaten ansetzen? Das kann man wirklich niemandem mehr deutlich machen – deshalb sagen wir eine echte Höchstgrenze. Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Anrecht darauf, dass sie wirklich wissen, wie groß der Deutsche Bundestag am Ende auch wirklich werden kann. Dafür haben wir ein Modellprojekt vorgelegt und das diskutieren wir im Augenblick. Was hält denn jetzt eigentlich die Listenkandidaten davon ab, sich mehr in den Wahlkreisen zu engagieren, falls diese größer werden sollten?
[00:11:28] Michael Frieser Ich hoffe, gar nichts. Nur, sie haben natürlich eine andere Loyalität. Der Listenkandidat wird natürlich von seiner Parteispitze auf einem Landesparteitag nominiert. Ich werde von 120 direkten Menschen vor Ort nominiert. Das passiert 299 Mal im Land. Das bedeutet also eine ganz direkte Legitimation von der Basis für den direkten Wahlkreisabgeordneten. Und wenn Sie sich dann entscheiden müssen, wo gehen Sie denn hin? Gehen Sie zu einer Parteiveranstaltung? Als Listenkandidat würde ich dahingehen, und da gehen die auch hin. Ich gehe zum Kindergarten, ich gehe tatsächlich zum Sportverein, ich gehe in die Kirche – wo auch immer ich im Wahlkreis gebraucht werde. Das ist bei mir die erste Priorität und nicht meine Parteiveranstaltungen.
[00:12:11] Maike Gomm Falls man jetzt doch keine Lösung finden sollte, dann könnte der Bundestag noch weiterwachsen. Da könnten Kosten von über einer Milliarde auf die Steuerzahler zukommen. Wie kann man das noch vermitteln?
[00:12:24] Michael Frieser Erstmal glaube ich, dass Abgeordnete alle, egal ob als Listen oder Direktmandat, alle eine gute Arbeit leisten. Überall im Land wird mehr Personal gefordert. Ausgerechnet jetzt bei den Abgeordneten – da geht es jetzt um die entscheidende Frage, sind sie es jetzt ein paar mehr oder weniger. Aber ich will eigentlich nur mal auf den entscheidenden Punkt hinaus, nämlich die Tatsache, dass wir bei den Abgeordneten, die wir haben, wir müssen arbeitsfähig bleiben. Das britische Parlament trifft sich mal fünf Stunden und redet über den Brexit. Das war es aber dann. Wir müssen jeden legislativen, jeden Gesetzesakt durchbringen. Das heißt, wir müssen arbeiten können, und deshalb darf der Deutsche Bundestag nicht mehr größer werden. Das ist der Hauptgrund für mich, dass ich sage, ich brauche ein Parlament, das miteinander noch reden kann. Das kann es im Augenblick dann nicht mehr, wenn es dann zu groß wird. Aber ich bitte auch keine Panikmache, jetzt zu machen, sondern die Rahmenbedingungen haben sich verändert. Es könnte durchaus im Augenblick sein, wenn wir gar nichts tun, dass der Bundestag sogar wieder kleiner wird. Warum? Weil diese Situation von damals, 2017, das nur die Union, nur die SPD Wahlkreise gewinnt. Die hat sich grundlegend verändert. Die Grünen sind erstarkt, haben Chancen auf Wahlkreise. Die AfD im Osten strebt sich an, tatsächlich auch Wahlkreise zu übernehmen. Also diese Situation, die so eindeutig zu einem riesigen Bundestag führt, ist nicht mehr dieselbe. Trotzdem müssen wir einen Notfallmechanismus einschalten, damit der Bundestag auf jeden Fall nicht weiterwächst.
[00:13:40] Matthias Kirsch Also, der CSU-Abgeordnete Michael Frieser, der sagt: Der Bundestag soll im besten Fall zwar nicht größer werden, das soll arbeitsfähig bleiben. Aber gleichzeitig will seine CSU auf keinen Fall an die Wahlkreise ran. Kann sich, wenn die CSU so stur bleibt, denn überhaupt etwas ändern an diesem Wahlrecht?
[00:13:56] Jonas Schaible Die CSU schließt im Grunde zwei Mechanismen schon mal komplett aus: Das eine ist eben die Vergrößerung der Wahlkreise und die Reduzierung der Wahlkreiszahl, das andere ist die Nichtzuteilung von Überhangmandaten. Was möglich wäre, ist eine Art Verrechnung der Sitze und dann Streichen von Listenmandaten, sodass das Verhältnis wieder einigermaßen hergestellt ist.
[00:14:22] Matthias Kirsch In dem Fall würden die Direktmandate weiter bleiben, die direkt Gewählten würden weiter bleiben, aber über die Listen weniger Leute einziehen.
[00:14:30] Jonas Schaible Genau, das würde dann der CSU wiederum eben gar nicht schaden. Dafür würde vielleicht die CDU so ein bisschen Schaden nehmen, und zwar auch in bestimmten Ländern. Es könnte dann passieren, dass in bestimmten ostdeutschen Bundesländern quasi, oder aus bestimmten ostdeutschen Bundesländern, gar keine Unionsabgeordneten mehr vertreten sind im Bundestag.
[00:14:48] Matthias Kirsch Das ist ja einer der Punkte bei dieser ganzen Diskussion. Man hat das Gefühl, wenn man von außen als Bürger da drauf blickt, dass hier die Parteien wirklich einfach nur im eigenen Interesse handeln und überhaupt nicht im Interesse des Bürgers – und schließlich sind diese Bundestagsabgeordneten ja Vertreter der Bürger.
[00:15:08] Jonas Schaible Ja, den Eindruck kann man schon gewinnen, und den kann man – muss man schon auch sagen – nochmal in besonderem Maße bei den Unionsparteien gewinnen, weil die natürlich die Aussicht auf diesen Bonus haben. Jedes Wahlrecht, das nicht proportional verteilt, würde nach aktuellen Mehrheitsverhältnissen vor allem und fast nur den beiden Unionsparteien einen zusätzlichen Vorteil verschaffen. Bei den anderen Parteien, die wenig Direktmandate gewinnen, ist es eigentlich so, die Versuchung nur abzuwehren, dass die Union diese Zusatzsitze bekommt. Da kann man sich dann schon fragen, ob das tatsächlich eine Vorteilssicherung ist – oder eben nur die Bewahrung dieses Verhältniswahlprinzips, das schon sehr lange in Deutschland gilt, und eigentlich auch so der Charakter des deutschen Wahlrechts sein soll.
[00:15:56] Matthias Kirsch Dann lass uns doch jetzt mal weg von der CDU/CSU, in Richtung der Oppositionsparteien schauen. Die haben nämlich als einzige, übrigens, einen tatsächlichen Gesetzesentwurf eingebracht. Also nicht alle Oppositionsparteien – es sind FDP, Linke und Grüne. Die haben einen Vorschlag gemacht. Kannst du für uns einmal zusammenfassen, wie dieser Vorschlag aussieht?
[00:16:19] Jonas Schaible FDP, Linke und Grüne haben sich sehr früh zusammengetan und arbeiten an dem ganzen Prozess auch wirklich bemerkenswert eng zusammen. Sie haben ein Gesetzentwurf geschrieben, darin schlagen Sie im Wesentlichen drei Maßnahmen vor: Sie wollen den Bundestag einmal leicht vergrößern von 598 auf 630 Regelmandate. Und Sie wollen die Zahl der Wahlkreise dafür verringern auf 270. Damit schafft man sich einen Puffer, um Überhangmandate, von denen es mit hoher Wahrscheinlichkeit weniger gibt, auszugleichen und trotzdem diese Größe nicht zu überschreiten. Die würden allerdings auch auf diese regionale Verrechnung – man nennt das den ersten Zuteilungsschritt – verzichten. Das könnte dann zur Folge haben, dass Parteien aus Bundesländern überhaupt nicht vertreten sind. Das würde eine gewisse regionale Verzerrung mit sich bringen, würde aber den Bundestag auf die Zielgröße 630 bringen. Und es würde, weil es proportional ist, allen Parteien gleichermaßen wehtun.
[00:17:21] Matthias Kirsch Unsere Kollegin Maike, die war nicht nur bei der CSU, die hat auch mit Vertretern der Oppositionsparteien gesprochen, zum Beispiel mit FDP-Chef Christian Lindner und dem Fraktionsvorsitzenden der Linken, Dietmar Bartsch. Hören wir uns doch auch mal an, was die zu sagen haben.
[00:17:36] Maike Gomm Der Bundestag soll kleiner werden – was ist Ihre Lösung dafür?
[00:17:40] Dietmar Bartsch (Die Linke) Die Linke hat schon in der vergangenen Legislatur einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt. Der hätte die Begrenzung der Abgeordneten zur Folge gehabt. Jetzt haben wir gemeinsam mit der FDP und den Grünen einen Vorschlag vorgelegt, der auch dazu führen würde, dass eine Begrenzung gibt. Die Linke hat ihre Hausaufgaben dort gemacht. Und es würde auch genau das Ergebnis, was gewünscht ist, bringen. Ich finde auf der anderen Seite: Wir dürfen jetzt keinen Wahnsinn schüren. Es ist nicht so, dass automatisch der Bundestag bei 800 liegen wird. Aber eins ist klar: Hier gibt es ein Totalversagen der regierenden Koalition, die bringt leider aktuell nichts auf die Reihe. Der Druck des Bundestagspräsidenten ist da, und ich erwarte, dass es in den nächsten Tagen einen Vorschlag der Koalition gibt.
[00:18:23] Christian Lindner (FDP) Es gibt keine Lösung, ohne an die Wahlkreise, an die Zahl der Wahlkreise heranzugehen, weil wir wollen, dass jede Stimme gleich viel wert ist. Die CSU blockiert komplett diese Wahlrechtsreform. Es geht nur um die eigenen Interessen der CSU. Und darauf darf sich die Mehrheit des Parlaments im Interesse der Bürgerinnen und Bürger nicht einlassen. Wir brauchen ein Wahlrecht, das fair ist und nicht nur CSU-Interessen dient.
[00:18:46] Matthias Kirsch Dietmar Bartsch und Christian Lindner sehen in der CSU also einen klaren Sündenbock. Unsere Kollegin Maike hat dann auch noch mit dem Grünen-Abgeordneten Harald Ebner gesprochen.
[00:18:57] Harald Ebner (Bündnis 90/Die Grünen) Es ist uns völlig bewusst, dass das Reduzieren von Wahlkreisen keine triviale Sache ist. Aber eines ist sie nicht: Und zwar eine Entfernung der Abgeordneten von ihren Wählerinnen und Wählern.
[00:19:13] Maike Gomm Woran hapert es denn aktuell noch?
[00:19:16] Harald Ebner (Bündnis 90/Die Grünen) Momentan hapert es daran, dass – ich sage es jetzt mal ganz krass – die Union eine Lösung möchte, die nur ihr frommt und allen anderen nicht. Und so können wir nicht wetten in dieser Republik. Wir müssen schon Interessen ausgleichen, und wenn wir das aufgeben, Interessen auszugleichen, dann geben wir auch ein Stück unseres Demokratieverständnis auf. Das ist nicht unser Weg.
[00:19:42] Matthias Kirsch Dieser Gesetzesentwurf, du hattest ihn ja angesprochen, von FDP, Grünen und Linken – wäre der denn eine Garantie für einen kleineren Bundestag?
[00:19:51] Jonas Schaible Nein, der wäre auch keine Garantie für einen kleineren Bundestag. Der würde mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass der Bundestag kleiner wird als heute. Der würde in sehr vielen denkbaren Fällen dazu führen, dass der Bundestag nicht größer wird als diese 630 vorgesehenen Abgeordneten. Er würde im Übrigen auch allen Parteien gleichermaßen wehtun. Aber es könnte theoretisch abhängig vom Wahlergebnis, immer noch so sein, dass der Bundestag deutlich anwächst. Wahrscheinlich nicht so stark wie nach dem jetzigen Wahlrecht. Aber so ganz kann das am Ende auch keiner kalkulieren.
[00:20:30] Matthias Kirsch Okay, dann lass uns doch zum Abschluss einen Ausblick wagen. Das ist ja nicht immer so einfach. Aber das Thema ist ja hochgekocht wieder in den letzten Wochen, weil konkret zur Diskussion stand: Schafft man es jetzt noch, eine Wahlrechtsreform hinzubekommen in dieser Legislaturperiode? Wie beurteilst du das? Ist es noch möglich, in dieser Legislaturperiode was zu machen?
[00:20:51] Jonas Schaible Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich in der Legislaturperiode noch wirklich Bahnbrechendes tut mit Blick auf die nächste Wahl. Theoretisch wäre das möglich, theoretisch hätte man jetzt noch Zeit. Und Wolfgang Schäuble, der Bundestagspräsident, versucht auch mit öffentlichem Druck dazu zu drängen, dass sich noch etwas tut.
[00:21:10] Matthias Kirsch Aber er schafft es auch nicht, seine eigene Partei, die CDU, zum Umdenken zu bewegen?
[00:21:15] Jonas Schaible Er schafft es zumindest nicht, sie zu sehr weitreichenden Zugeständnissen zu bewegen. Und andererseits schafft er es auch nicht, die Oppositionsfraktionen, mit denen man sich gerne einigen würde, zu Zugeständnissen zu bewegen. Und dazwischen steht noch die SPD, die sich überhaupt erst einmal intern einigen muss.
[00:21:35] Matthias Kirsch Wenn im kommenden Jahr, Herbst 2021, regulär das nächste Mal gewählt wird, dann ist es ja ganz gut möglich, dass mehrere Parteien ungefähr, also nicht gleich viele Stimmen haben, aber in die gleiche Richtung, also dass diese Zersplitterung nochmal weitergeht. Es wird ja von so Zahlen wie 800 Abgeordneten geredet. Wäre das tatsächlich ein realistisches Szenario, wenn diese Zersplitterung unter den Parteien so weitergeht wie bisher?
[00:22:03] Jonas Schaible Diese 800 Abgeordneten sind so eine magische Zahl, die jetzt immer kursiert. Ja, das kann passieren. Es könnten auch 850 werden oder 870 oder 900. Das ist jetzt alles so, wie die politische Wirklichkeit gerade aussieht, nicht ausgeschlossen.
[00:22:18] Matthias Kirsch Wie viele Sitzplätze gibt es eigentlich gerade im Bundestag?
[00:22:22] Jonas Schaible Das ist eine gute Frage. Ich nehme an so viele, wie Abgeordnete. Da wird ja dann der Plenarsaal auch immer extra nochmal umgebaut. Aber ich weiß gar nicht, ob die so ein paar Überhangsitze schon eingebaut haben.
[00:22:33] Matthias Kirsch Dann müsste man mal herausfinden, ob überhaupt genug Platz ist, genug Beinfreiheit für 800 oder sogar mehr Abgeordnete. Jonas, vielen Dank für deine Einschätzung!
[00:22:47] Jonas Schaible Danke, sehr gerne!
[00:22:47] Matthias Kirsch Das war Stimmenfang, der Politik-Podcast vom SPIEGEL. Die nächste Episode von Stimmenfang hören Sie wie immer ab nächstem Donnerstag auf spiegel.de, bei Spotify, Apple Podcast oder sonstigen Podcast-Apps. Wenn Sie uns Feedback schicken möchten, schreiben Sie uns einfach eine Mail an stimmenfang@spiegel.de oder nutzen Sie unsere Stimmenfang- Mailbox unter 040 380 80 400. An die gleiche Nummer, also 040 380 80 400, können Sie uns auch eine WhatsApp-Nachricht schicken. Diese Folge wurde produziert von Maike Gomm, Yasemin Yüksel und mir, Matthias Kirsch. Danke für die Unterstützung an Philipp Fackler, Sebastian Fischer, Lena Jessen, Johannes Kückens, Sebastian Spallek und Matthias Streitz. Die Stimmenfang-Musik kommt wie immer von Davide Russo.