Internationale Presseschau zur Bundestagswahl Deutschland »ist so umständlich und träge geworden«

Wahlplakate: Ein klarer Sieger zeichnet sich nicht ab
Foto: IMAGO / BildgehegeIst Deutschland in vier Jahren wieder der kranke Mann Europas – oder gelingt mit der Bundestagswahl am Sonntag ein Aufbruch? Auch im Ausland wird nach 16 Jahren Kanzlerschaft Angela Merkels genau auf die Abstimmung hierzulande geschaut. Die Bilanz der internationalen Beobachter fällt mehrheitlich ernüchternd aus, zu viel ist in der Ära Merkel liegen geblieben.
Der Blick der ausländischen Presse auf Deutschland in der Übersicht:
Die »New York Times « hält Deutschland für schlecht vorbereitet auf die künftigen Herausforderungen: »Es gibt Zeichen, dass Deutschland wirtschaftlich verwundbar ist, Wettbewerbsfähigkeit einbüßt, und auf eine Zukunft nicht vorbereitet ist, die durch Technologie sowie die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China geprägt ist.«
Die belgische Zeitung »De Standaard« wiederum hat in Armin Laschets Wahlkampf viele Defizite ausgemacht. »Im Wahlkampf des Kanzlerkandidaten der Christdemokraten hat es einige Ausrutscher gegeben, die seine Glaubwürdigkeit beeinträchtigt haben«, analysiert das Blatt. »Sein ungeschickter Auftritt (im Flutgebiet) verfolgt ihn bis heute, Laschet distanziert sich von den Kanzlerkandidaten der Roten und Grünen, die einander gefunden zu haben scheinen. Er warnt vor den Folgen, sollten sie an die Macht kommen. Das, so sagen alle Analysten, ist ein Zeichen von Schwäche.«
»Die Wahl ist komplett offen«, analysiert dagegen Danmarks Radio . Ein Viertel der Wähler habe sich noch nicht entschieden – ihnen sei durch die Schlussrunde der Spitzenkandidaten der Parteien am Donnerstagabend aber auch nicht wirklich geholfen worden (den Livekommentar zu Sendung lesen Sie hier, eine Analyse hier ). »Wer eine politische Datingshow wie bei der letzten Kanzlerdebatte erwartet hatte, bei der sich Sozialdemokraten und Grüne praktisch in den Armen lagen, wurde enttäuscht.«
»Economist« empfiehlt Scholz
Wer noch eine Empfehlung sucht, für den hält der britische »Economist« eine bereit: Das einflussreiche Wirtschaftsmagazin hat sich für den SPD-Kandidaten Olaf Scholz ausgesprochen. »Es ist Zeit für einen Wechsel«, sagte die Europa-Korrespondentin des Magazins, Vendeline von Bredow, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland . Die Titelseite des »Economist«-Magazins diese Woche schmückt ein in sich zusammenfallender Adler, darüber die Zeile: »Das Chaos, das Merkel hinterlässt.«
The CDU/CSU has blown it. We would prefer the Social Democratic Party to lead Germany’s next coalition. One of our two covers this week #BTW21 https://t.co/vIwMX2winc pic.twitter.com/YlMI0DbdOF
— The Economist (@TheEconomist) September 23, 2021
Die »Neue Zürcher Zeitung « wiederum scheint von keinem Angebot überzeugt zu sein. Anders als von Armin Laschet behauptet, sei das Land in den vergangenen 16 Jahren nicht vorangekommen, heißt es in einem Kommentar. »Es ist so umständlich und träge geworden, so müde und satt wie jene beiden Parteien, die es so lange schon prägen. Scheinriesen allesamt.« So erfreulich die Offenheit dieser Wahl sei, so wenig überzeugend seien die Bündnisse, die das Land in den nächsten vier Jahren regieren könnten. In Anlehnung an eine Aussage Kevin Kühnerts schließt der Text ernüchtert: »Die einen gehören eigentlich in die Reha, und die anderen haben mitunter politische Vorstellungen aus der Klapsmühle.«
Ungewiss ist der »Washington Post « zufolge das Erbe Merkels. »Die Bundestagswahl am 26. September markiert das Ende von Merkels 16 Jahren an der Macht. Ansonsten ist wenig sicher«, schreibt die Zeitung. »Es ist das offenste Rennen seit Jahrzehnten. Die Führung in den Umfragen hat zwischen drei großen Parteien gewechselt: Merkels Christdemokraten, den Grünen und den Sozialdemokraten. Das Ergebnis der Wahl wird die Zukunft der größten Volkswirtschaft der EU ebenso formen wie die EU insgesamt, ihre Beziehungen mit Verbündeten wie den Vereinigten Staaten und Rivalen, darunter Russland und China.«
Mäßigung als Markenzeichen
Am Vermächtnis Merkels an sich arbeitet sich wiederum der britische »Guardian« ab. »Die Ära Merkel war, wie auch immer, ein Triumph der Neutralisierung von Krisen – ohne sie wirklich zu lösen. Angesichts des Ausmaßes dieser Herausforderungen kommt dieses Hinauszögern zwar einer Errungenschaft gleich, aber es ist ein zwiespältiges Erbe, das ihrem Nachfolger viele Probleme aufbürdet und existenzielle Fragen zur Zukunft Europas unbeantwortet lässt.«
Die Zeitung »Público« aus Portugal kann dagegen Merkels Politik etwas Gutes abgewinnen – sieht Mäßigung als ihr Markenzeichen: »Vorbei sind die Zeiten, in denen die Kanzlerin in Ländern, die auf finanzielle Hilfsprogramme angewiesen waren, als Diktatorin karikiert wurde. Viele von denen, die sie so angegriffen haben, erkennen inzwischen die Bedeutung ihrer politischen Mäßigung. Merkels Führung wird als Beitrag zum Ausgleich unterschiedlicher Interessen der EU-Länder wahrgenommen, um eine europäische Desintegration oder eine deutsche Hegemonie zu vermeiden.«
Konkret bemängelt die norwegische Boulevardzeitung »Dagbladet« indes Merkels Versäumnisse bei der Digitalisierung: »Deutschland liegt in der EU beim Ausbau von Glasfaserkabeln hinten, bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung auf einem Niveau mit Bulgarien. Um sich an Behörden zu wenden, darf man gern körperlich erscheinen oder einen Brief auf Papier schicken.« Wenn Olaf Scholz Kanzler werde, empfiehlt die Zeitung, könne er »auf Studienreise in den Norden gehen, wo seine sozialdemokratischen Freunde bald sämtliche Länder regieren – ganz ohne Fax.«