Wahldebakel Linke Leere, linke Lehren

Die Spitzenkandidaten der Linken Janine Wissler und Dietmar Bartsch in der Berliner Bundespressekonferenz
Foto: John Macdougall / REUTERSDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Oft ist in der Linken jetzt vom »blauen Auge« die Rede, das die Partei sich am Sonntag eingefangen habe. Tatsächlich ist das eine ziemlich milde Umschreibung für das, was den Genossinnen und Genossen bei der Wahl widerfahren ist. Sie haben massive Prügel einstecken müssen, in allen Bundesländern verloren, an alle Konkurrenten Stimmen abgegeben. 4,9 Prozent – es ist ein Debakel.
Aber, und das erklärt wohl den Euphemismus: Die Linke taumelte durch eine traumatische Wahlnacht, aber sie ist nicht k.o. gegangen. Gerade so.
Denn obwohl sie die Fünfprozenthürde nicht geschafft hat, ist sie auch im neuen Bundestag vertreten. Dank der drei direkt gewonnenen Wahlkreise wird die Grundmandatsklausel wirksam, die die Partei vor der Hürde schützt. Sogar der Fraktionsstatus ist gesichert, für den es mindestens fünf Prozent der gewählten Abgeordneten im Parlament braucht. Da mehrere kleinere Parteien wegen der Fünfprozenthürde nicht ins Parlament einzogen, reichte es auch dafür. Künftig gibt es 39 Linkenabgeordnete, zwei weniger und der Fraktionsstatus wäre weg gewesen – und damit wesentliche Parlamentsrechte und Ressourcen.

Wird der Gewinner auch zum Sieger?
Die SPD ist die Siegerin der Wahl, keine andere Partei war im Wahlkampf so erfolgreich. Doch nicht nur Olaf Scholz erhebt Regierungsanspruch, auch CDU-Kandidat Armin Laschet will ins Kanzleramt. Das Land erwartet zähe Wochen der Verhandlungen. Ein Vorgeschmack darauf, wie Politik in Zukunft funktioniert.
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Mit einem schönen Ergebnis hatte man schon länger nicht mehr gerechnet. Die Umfragen der vergangenen Wochen deuteten darauf hin, dass das Ergebnis von 2017 unerreichbar bleiben würde. Aber dass es so dicke kam, hat die Partei bis ins Mark erschüttert.
Woran hat es gelegen? Am Montag traf sich der Vorstand zur ersten Fehleranalyse:
Die Rote-Socken-Kampagne der Konkurrenz habe der Linken geschadet, hieß es, gegen die Angriffe der größeren Parteien sei man in der Öffentlichkeit einfach nicht angekommen.
Der Wahlkampf gerade in den letzten Wochen habe sich auf das Duell Scholz gegen Laschet konzentriert. Der Wunsch linker Wählerinnen und Wähler, einen konservativen Kanzler zu verhindern, habe der SPD Stimmen gebracht – zulasten der Linkspartei.
Aber die Probleme sind auch hausgemacht: Die mehrheitliche Enthaltung bei der Bundestagsabstimmung über den Evakuierungseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan habe der Linken das »Genick gebrochen«, sagt einer aus der Parteiführung. Diese Position der Linken sei nicht oder nur schwer vermittelbar gewesen und habe den Eindruck bekräftigt, dass die Linke nicht regierungsfähig sei.
Zu spät habe sich die Partei im Wahlkampf auf den Osten fokussiert.
Linkenchefin und Spitzenkandidatin Janine Wissler hatte zu wenig Zeit, um sich bekannt zu machen. Als neues Gesicht in Berlin wurde sie immer wieder auf ihre linksradikale Vergangenheit angesprochen.
Die größten Kontroversen in der Linken löst aber die Frage aus, wie groß der Schaden durch den Konflikt um Sahra Wagenknecht war. Wagenknecht hatte im Wahljahr ein umstrittenes Buch veröffentlicht, in dem sie der Linken vorwarf, die Interessen der Arbeiterschaft zu vernachlässigen und etwa zu sehr auf Klimapolitik zu setzen. Wagenknecht wirbt für einen starken Nationalstaat, die Linke verliere sonst Wählerinnen und Wähler an die AfD.
Die Partei lieferte sich über Wochen eine harte Auseinandersetzung darüber, wie sie mit Wagenknecht umgehen sollte, einige wollten sie sogar aus der Partei werfen. Nun sind sich weite Teile der Partei einig, dass die Auseinandersetzung in beide Richtungen geschadet habe. Die Linke verlor demnach doppelt: jene, die Wagenknecht nicht unterstützen wollten – und jene, die es falsch fanden, wie die Partei mit ihr umgegangen ist.
Dahinter steckt ein ungelöster Grundkonflikt: Schafft es die Linke wieder, sowohl die Interessen der akademischen Mittelschicht wie auch jene der Arbeiterschaft und der prekär Beschäftigten zu bedienen? Oder muss sich die Linke grundsätzlich neu erfinden und ihre Rolle in der politischen Landschaft anders definieren?
»Tödliche Strategie«
Die kommenden Monate wird sich zeigen, ob die Partei den nötigen Neustart wagt. Es dürfte ein schmerzhafter Prozess werden. Auch die Wahlverluste im Osten sollen noch einmal speziell aufgearbeitet werden.
Am Dienstag kommt erstmals die neue Fraktion zusammen. Auch hier wird ein Neuanfang erwartet, denn die Stimmung war zuletzt eisig, wie manche es beschreiben. Der langjährige Fraktionschef Dietmar Bartsch ließ am Montag offen, ob er wieder für den Vorsitz antreten wird. Diese Entscheidung soll aber erst in einigen Wochen auf einer Klausurtagung der neuen Abgeordneten fallen. Einige wünschen sich nach der Wahlschlappe einen Generationswechsel – wollen Bartsch aber nicht aktiv aus dem Amt drängen.
Für Irritationen sorgte am Montag noch die Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel. Sie verfehlte den Wiedereinzug und gilt seit Langem als höchst umstritten in der Partei. Ohnehin sind einige Abgeordnete, die für viel Unruhe sorgten, nicht mehr in der neuen Fraktion vertreten.
Obwohl Hänsel nicht Mitglied des Parteivorstands ist, schaltete sie sich nach SPIEGEL-Informationen überraschend als Gast in der Onlinekonferenz des Gremiums zu und kritisierte die Parteivorsitzenden scharf. Mit dem Kurs auf eine rot-grün-rote Regierung sei die Parteispitze eine »tödliche Strategie« gefahren. Hänsel machte die Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow persönlich für die Wahlniederlage verantwortlich, weil diese besonders auf eine solche Koalition gedrängt habe.
Niemand im Parteivorstand sei auf die Wortmeldung der Gastrednerin Hänsel eingegangen, heißt es von Anwesenden.