Bundestagswahl SPD und Grüne warnen Merkel vor Überhang-Regierung

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik könnten Überhangmandate die Wahl entscheiden. Nach Informationen des SPIEGEL gehen Meinungsforscher davon aus, dass die CDU mit etwa 20 solcher Mandate rechnen kann. SPD und Grüne warnen die Kanzlerin vor einer "illegitimen Mehrheit".
Kanzlerin Merkel: Die CDU kann nach Meinung von Wahlforschern mit etwa 20 Überhangmandaten rechnen

Kanzlerin Merkel: Die CDU kann nach Meinung von Wahlforschern mit etwa 20 Überhangmandaten rechnen

Foto: THOMAS PETER/ REUTERS

Hamburg - Angesichts des schrumpfenden Vorsprungs von Union und FDP in den Meinungsumfragen vor der Bundestagswahl warnen SPD und Grüne Kanzlerin Merkel vor einer Regierungsbildung auf der Basis möglicher Überhangmandate. Nach Informationen des SPIEGEL hat der Friedrichshafener Politikprofessor Joachim Behnke in einer Erststimmen-Simulation auf der Basis aktueller Umfrageergebnisse errechnet, dass die CDU mit großer Wahrscheinlichkeit ein Rekordergebnis von etwa 20 Überhangmandaten erwarten kann, wenn die Wahl so ausgeht, wie die Demoskopen derzeit voraussagen.

Selbst wenn die SPD noch bis auf fünf Prozentpunkte an die Union herankomme, könnten CDU und CSU noch mit ungefähr 17 Überhangmandaten rechnen.

Gestützt werden diese Berechnungen von Wahlforschern wie Manfred Güllner, dem Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa. Güllner rechnet mit 14 bis 18 Überhangmandaten für die CDU. Richard Hilmer von Infratest dimap glaubt, die CDU könne nach aktueller Stimmungslage sogar noch mehr als die von Behnke berechneten 20 Überhangmandate bekommen. Union und FDP hätten nach diesem Szenario laut Hilmer auch dann noch eine Kanzlermehrheit, wenn sie etwa drei Prozent weniger Zweitstimmen erhielten als SPD, Grüne und Linke.

"Merkels stabile Mehrheit würde auf einem verfassungswidrigen Wahlrecht beruhen", sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, der "Frankfurter Rundschau".

"Es wäre unanständig"

Er verwies darauf, dass das Bundesverfassungsgericht im Juli 2008 die Verzerrungen durch Überhangmandate als grundgesetzwidrig eingestuft habe. Sollte Merkel nun bei der Bundestagswahl keine Stimmenmehrheit für Schwarz-Gelb erzielen, durch Überhangmandate aber doch mehr Sitze im Bundestag erhalten, verfüge sie über eine "illegitime Mehrheit", die nicht zur Regierungsbildung gebraucht werden dürfe, sagte Oppermann.

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Fraktion, Volker Beck, sagte: "Es wäre tatsächlich unanständig, wenn Schwarz-Gelb darauf spekuliert, mit einer geklauten Mehrheit zu regieren." Den Sozialdemokraten müsse man aber vorwerfen, dass sie dem Gesetzentwurf der Grünen zur Beseitigung der verfassungswidrigen Überhangmandate nicht zugestimmt haben. "Das haben die Sozialdemokraten vergeigt", betonte Beck.

"Riesige Legitimationsprobleme"

Merkel hatte am Freitag erklärt, sie werde nach dem 27. September notfalls auch mit einer Überhang-Mehrheit regieren. "Das Überhangmandat ist kein Mandat zweiter Klasse." Auch mit solchen Mandaten sei eine "stabile Mehrheit" möglich.

Nach Ansicht des Chemnitzer Politikwissenschaftlers Eckhard Jesse hätte ein solches Ergebnis der Bundestagswahl am 27. September jedoch schwerwiegende Folgen für das politische System in Deutschland. Eine Regierung, die sich nur auf Überhangmandate stützen könne und nicht die Mehrheit der Wähler hinter sich habe, hätte "riesige Legitimationsprobleme", sagte Jesse dem SPIEGEL.

Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr direkt gewählte Abgeordnete bekommt als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Das Bundesverfassungsgericht hatte dies teilweise für verfassungswidrig erklärt, dem Gesetzgeber für eine Änderung jedoch Zeit bis Mitte 2011 gelassen.

han/AFP/dpa/ddp
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