Bundestagswahl 2013 Zehn Themen, die Politiker im Wahlkampf vergessen

Der Reichstag in Berlin: Monotoner Wahlkampf
Foto: Maurizio Gambarini/ dpaBerlin - Selten streiten Politiker so intensiv über Probleme wie im Bundestagswahlkampf - auch wenn der diesjährige Wahlkampf lange als lahm galt. Welche Themen behandelt werden, hat eine große Bedeutung: Sie stehen auf der Agenda ganz oben. Im Zweifel wird mehr Zeit und Geld verwendet, um sie zu lösen. Doch welche Themen vergessen die Politiker im aktuellen Wahlkampf? Welche Themen müssten dringend besprochen werden?
Der Wahlkampf neigt sich dem Ende zu. Zeit, Bilanz zu ziehen. Lesen Sie hier die zehn vergessenen Wahlkampfthemen.
1. Integration

Integration: "Kein Winner-Thema"
Foto: Oliver Killig/ dpaSPD und CDU versuchen, dem Thema aus dem Weg zu gehen. "Integration ist kein Winner-Thema", sagt Oskar Niedermayer, Professor für Politische Soziologie in Berlin. Bei doppelter Staatsbürgerschaft und Einwanderungsthemen haben laut Niedermayer beide Parteien Angst, ihre Stammwählerschaft zu verprellen.
Möglich ist auch, dass viele Politiker das Thema für nicht so wichtig halten - wegen ihrer eigenen Herkunft. Laut dem Mediendienst Integration haben nur drei Prozent der Bundestagsabgeordneten einen Migrationshintergrund, unter den Wählern sind fast neun Prozent Migranten. Stimmen-Potential hätte das Thema Integration also.
2. Internet

Internet: "Die Parteien schlafen"
Foto: Julian Stratenschulte/ dpaKlar, der Skandal um den US-Geheimdienst NSA ist ein Wahlkampfthema. Ansonsten fällt den Parteien kaum etwas ein. Dabei müsste das Thema Netzneutralität besprochen werden. Sollen im Netz weiterhin alle gleich behandelt werden? Oder sollen manche Datenpakete mehr kosten, andere weniger?
Auch wenn sich die Parteien in ihren Wahlprogrammen zum Thema äußern, eine breite Debatte im Wahlkampf fehlt. "Die Frage der Netzneutralität wird eine der wichtigsten Fragen der nächsten Jahre", sagt Markus Beckedahl, Vorsitzender des Vereins Digitale Gesellschaft. "Jetzt gerade werden die Weichenstellungen gesetzt, das verschlafen die Parteien völlig."
3. Rüstungsexporte

Rüstungsexporte: Keine Wende in Sicht
Foto: Maurizio Gambarini/ dpaPanzer, Maschinenpistolen, Gewehre: Die deutschen Rüstungsexporte steigen. Im Jahr 2012 hat sich der Wert der Ausfuhren auf 1,42 Milliarden Euro verdoppelt - allein in die Golfregion. Und schon im ersten Halbjahr 2013 hat Deutschland Rüstungsgüter im Wert von 817 Millionen Euro in Länder wie Saudi-Arabien verkauft, berichtete die "Süddeutsche Zeitung".
Aber im Bundestagswahlkampf wird das Thema kaum diskutiert. Ein Grund könnte sein, dass außer der Linken jede Bundestagspartei schon Rüstungsexporte genehmigt hat, sagt Jan Grebe, Experte für Rüstungsexporte beim Friedensforschungsinstitut Bonn International Center for Conversion (BICC). "Weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün trauen sich in der Rüstungspolitik die Wende zu."
4. Kriminalität

Kriminalität: "Traumatische Erlebnisse"
Foto: Julian Stratenschulte/ dpaWohnen ist in Deutschland unsicherer geworden: Im vergangenen Jahr hat die Polizei 144.000 Einbrüche registriert, ein Anstieg um neun Prozent. Es entstanden Versicherungsschäden in Höhe von 600 Millionen Euro.
Ein Skandal, findet Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Polizeigewerkschaft: "Für die Betroffenen sind Einbrüche oft traumatische Erlebnisse. Die Wohnung ist ein intimer Bereich, es ist schlimm, dass der inzwischen so gefährdet ist." Ein Problem: Die Einbrecherbanden ziehen zwischen den Bundesländern hin und her. Hier sei die polizeiliche Zusammenarbeit schlecht koordiniert, sagt Wendt. Eigentlich eine gute Aufgabe für den Bund und ein Thema für den Wahlkampf.
5. Infrastruktur

Infrastruktur: Vier Milliarden jährlich
Foto: Carsten Rehder/ dpaHorst Seehofers Pkw-Maut für Ausländer hat es als einziges großes Infrastrukturprojekt in den Bundeswahlkampf geschafft. Eine Idee, die europarechtlich bedenklich ist und als Seehofer-Eskapade bislang eher Stoff für Satiresendungen bot.
Dabei gäbe es echte Probleme zu lösen. Die Rader Hochbrücke über den Nord-Ostsee-Kanal auf der Autobahn A7 in Schleswig-Holstein ist für schwere Lastwagen immer noch nicht befahrbar. Und der Kanal unter der Brücke ist sanierungsbedürftig: Die Schleusen sind marode, die Technik stammt aus der Kaiserzeit.
Um den Investitionsrückstand aufzuholen, müsste die Regierung jährlich etwa vier Milliarden Euro zusätzlich in die Infrastruktur stecken, schätzen Experten.
6. Erwachsenenbildung

Berufliche Weiterbildung: "Die Politik vergisst die Alten"
Foto: Jan Woitas/ dpaFür Erwachsene ist es deutlich schwieriger geworden, sich beruflich weiterzubilden. Die Jobcenter haben im April nur noch gut 13.000 Hartz-IV-Empfängern eine Weiterbildung bewilligt - ein Rückgang um 42 Prozent im Vergleich zu 2010.
"Die Frage der Erwachsenenbildung ist völlig untergegangen", sagt Gerhard Bosch, Direktor des Instituts für Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen. Dabei sei das Thema wichtig. Bosch nennt ein Beispiel: Ein Dachdecker, der erst mit 67 in Rente gehen kann, muss die Möglichkeit haben, sich im Alter umzuorientieren. "Es gibt in der Bildung einen Jugendwahn, die Alten vergisst die Politik im Moment."
7. Entwicklungshilfe

Entwicklungshilfe: Futtermittel aus Brasilien
Foto: Narendra Shresth/ dpaEntwicklungspolitik setzen Wahlkampfstrategen selten ganz oben auf ihre Agenda. Wenn zu Hause die Wirtschaft kriselt, sind die Probleme in Afrika weit weg. Ein Fehler, findet Bernd Bornhorst von Venro, dem Dachverband der Entwicklungshilfeorganisationen. "Viele innenpolitische Fragen kann man kaum lösen, ohne die entwicklungspolitische Seite zu sehen."
Ein Beispiel sei die Landwirtschaftspolitik. Massentierhaltung sei hierzulande nur möglich, weil die Betriebe ihre Futtermittel in Brasilien oder Paraguay einkaufen können. Für echte Lösungen müsse die Entwicklungspolitik im Wahlkampf miteinbezogen werden, statt sie zu ignorieren.
8. Wissenschaft

Wissenschaft: "Es geht um Arbeitsplätze"
Foto: Bodo Schackow/ dpa"Ach ja, wir kennen das schon", sagt Franz Miller, Leiter der Presseabteilung der Fraunhofer-Gesellschaft. "Im Wahlkampf fallen wir aus der Wissenschaft immer in die zweite oder dritte Reihe zurück." Der Grund: Forschung ist kein kontroverses Thema.
In drei Jahren laufen die beiden großen Wissenschaftsförderungen aus - der Pakt für Forschung und Innovation und die Exzellenzinitiative der Universitäten. Christina Beck von der Max-Planck-Gesellschaft sagt: "Da müssen wir uns dringend fragen: Wie sichern wir Zuwächse in der Wissenschaft?" Denn am Ende gehe es um Arbeitsplätze: "Wer Arbeitsplätze will, muss Technologie schaffen - und dafür braucht es Forschung."
9. Bürokratie- und Subventionsabbau

Bürokratie: "Keine vernünftigen Antworten"
Foto: Ingo Wagner/ dpaReiner Holznagel ist enttäuscht vom Wahlkampf. Der Präsident vom Bund der Steuerzahler sagt: "Wir hatten uns weit mehr erwartet." Um Subventionen und Bürokratie einzusparen, hatte Holznagel der Bundeskanzlerin einen Sparkatalog über 20 Milliarden Euro vorgelegt - umsonst. Weder der Subventions- noch der Bürokratieabbau kamen im Wahlkampf wirklich vor.
"Die Parteien finden keine vernünftigen Antworten auf die überbordenden Kosten." Dass Holznagels Vorschläge auf wenig Beachtung treffen, wundert ihn nicht. "Wer läuft schon gern durchs Land und verspricht Kürzungen?"
10. Atommüll

Atommüll: Zu weit weg
Foto: Sebastian Kahnert/ dpaAnders als in den Wahlkämpfen 2002 oder 2005 ist die Suche nach einem Atommüllendlager dieses Mal kein Thema. Die Länder haben im Bundesrat rechtzeitig vor Wahlkampfbeginn entschieden, nach Alternativen für den Salzstock in Gorleben zu suchen. Erst Ende 2031 soll ein Endlagerstandort bestimmt und vom Bundesrat beschlossen werden. Für den diesjährigen Wahlkampf ist das Thema zu weit weg.