
Wahlprogramm der Union Valium fürs Volk


Armin Laschet (CDU) und Markus Söder (CSU) bei der Vorstellung des Wahlprogramms
Foto: Kay Nietfeld / dpaDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Die Biergärten sind offen, die Nationalmannschaft trifft ins gegnerische Tor und die Coronapandemie scheint in Deutschland vorerst besiegt. Wer interessiert sich da für Politik?
Falls doch jemand anderes als die armen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wahl-o-Mat-Teams tollkühn zur Lektüre des heute präsentierten Wahlprogramms der Union schreiten sollte, haben sich CDU und CSU einen cleveren Trick einfallen lassen, um es auch den Mutigsten schwer zu machen: 140 Seiten umfasst der Wälzer! Kein Bild eines naturliebenden oder im Fußballstadium entschlossen posierenden Alphamännchens lockert die Lektüre auf.
Das Ding ist schlicht unlesbar, aufgeblasen und voller hohler Allgemeinplätze wie der Feststellung, dass der Kampf gegen Einsamkeit in unserer »älter werdenden Gesellschaft eine große Herausforderung« sei.
Statt einer Vision für die Zukunft des Landes gibt es ausführliche Aufzählungen darüber, was die Union alles nicht will: kein Tempolimit, kein Dieselverbot, keine Steuererhöhungen, keine neuen Schulden, keinen Solidaritätszuschlag, weniger Bürokratie, dafür aber wunderschöne deutsche, elegant gendersprachefreie Wortmonster wie mehr »Fachkräfteeinwanderungs-Attachés« an »ausgewählten deutschen Botschaften in Drittstaaten«.
Schon der Titel des vollmundig Regierungsprogramm genannten Wahlprogramms »Das Programm für Stabilität und Erneuerung« wirkt einschläfernder als jede Valiumtablette. Von Sorgen geplagte Wähler, denen die Pandemie ihre Existenzgrundlage geraubt hat, können künftig beim Nachts-wach-Liegen versuchen, den Widerspruch der zwei Politikfloskeln »Stabilität« und »Erneuerung« so lange aufzulösen, bis das Hirn beim hypnotischen Kreiseln automatisch abschaltet.
An Stellen, wo es interessant werden könnte, wie zum Beispiel bei Punkt »3.3. Deutschland als klimaneutrales Industrieland bis 2045« oder bei der Unterüberschrift »Generationenvertrag weiterdenken«, mangelt es an Details, wie diese begrüßenswerten Absichten konkret ausgestaltet werden könnten. Oder was sie kosten werden. Wer von Klimaschutz und einer Ausweitung des CO₂-Emissionshandels spricht, aber zu feige ist, die damit verbundene Benzinpreis-Erhöhung in Cent zu beziffern, handelt unehrlich und dreist – aber wahlstrategisch klug.
Deutschland scheint sich nach 18 Monaten Pandemie-Ausnahmezustand in die sorgenfreie Durchschnittlichkeit stürzen zu wollen. Rein in die Tennissocken und die Sandalen und ab zum Billigurlaub an den Ballermann, ran an den Grill im Garten oder rein mit dem SUV in die Waschanlage. Im Unions-Wahlprogramm heißt es dazu: »Unser Ziel ist, so schnell wie möglich wieder zurück zu einer Normalität zu gelangen, die uns Liebgewonnenes und Vermisstes zurückgibt und in der wir klug das Morgen gestalten.«
Selten war Langeweile politisch verführerischer als in diesem Jahr, und der Unions-Spitzenkandidat Armin Laschet verkörpert diesen gesellschaftlichen Zustand vorzüglich. »Allen Menschen, die bei uns leben«, will er Sicherheit geben, verkündete er bei der Vorstellung des Wahlprogramms. Sein Lieblingswort ist das »Modernisierungsjahrzehnt«. An 20 Stellen kommt es im Text vor. Alles, was die unionsgeführten Regierungen in den letzten 16 Jahren unter Angela Merkel verbockt haben, etwa die Digitalisierung an den Schulen oder die Überbürokratisierung der Wirtschaft, wird nun plump als Innovation in Aussicht gestellt.
Ein langweiliges Larifari-Wahlprogramm mit Entlastungen für alle und Belastungen für niemanden hält der Union bei Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl im Herbst selbstverständlich alle Optionen offen. Es offenbart aber auch schonungslos, um was es CDU und CSU im Kern geht: den puren Machterhalt.
Deshalb hat mittlerweile auch CSU-Chef Markus Söder damit aufgehört, die Wähler mit Raketenbeschuss aus dem eigenen Ideenfeuerwerk blenden zu wollen. Im SPIEGEL-Gespräch zur Hochzeit des Kandidatenduells mit Armin Laschet forderte er noch einen »Green Deal für Deutschland«, darunter unter anderem auch »eine Fotovoltaik-Pflicht auf Neubauten, auf allen staatlichen Gebäuden und an Autobahnen«. Davon ist im Wahlprogramm nun keine Rede mehr.
Seine plötzliche Zurückhaltung ist machtpolitischer Taktik geschuldet statt einer »neuen Lust an Verantwortung«, die Söder bei der Vorstellung des Programms vorgab. Sollte Laschets Wahlkampf am Ende scheitern und die Union abgewählt werden, kann es jedenfalls nicht an Söders grüner Baumumarmer-Strategie gelegen haben. Offenbar hat er es sich im Schlafwagen gemütlich gemacht, statt den Schwesterparteikollegen mit seinen zuweilen durchaus ambitionierten Ideen Wahlen gewinnen zu lassen.
Dass auch ihm und seiner CSU nicht mehr einfällt, als sich mit der Forderung nach einer Ausweitung der von Seehofer ersonnenen Mütterrente Wählerinnenstimmen zu erkaufen, zeigt beispielhaft die Erschöpfung der Union. Mit der sich vermutlich viele pandemiemüde Deutsche identifizieren können.