CDU-Debakel in Baden-Württemberg Union der Angst

Das Atom-Unglück ist schuld, und Libyen natürlich: So lauten erste Erklärungen für das Debakel der Union in Stuttgart. Aber die Probleme gehen viel tiefer, urteilt der Politologe Franz Walter. Die CDU agiert zu ängstlich, zu vorsichtig - und hat wichtige Symptome ihrer Krise zu lange ignoriert.
CDU-Debakel in Baden-Württemberg: Union der Angst

CDU-Debakel in Baden-Württemberg: Union der Angst

Foto: dapd

In keinem Flächenland hat die CDU so lange ununterbrochen führend regiert wie in Baden-Württemberg. Der Machtverlust dort ist für die Union, für das bürgerliche Lager insgesamt, ein Menetekel. Denn es ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die klassische christdemokratische Ära, dass die Erfolgformeln bürgerlicher Politik von Adenauer bis Kohl selbst in ihren letzten Hochburgen abgelaufen sind. Die Union muss nach dem Wahldebakel am Wochenende ihre Parameter neu entwickeln: ganz allgemein im Wertetableau und bei der Rekrutierung von Personal und sehr konkret in der Sozial- und Bündnispolitik.

Jedenfalls: Das Problem ist nicht allein situativ, nicht einzig auf mehrere unglückliche Umstände der letzten Wochen in eher punktuellen Fragen wie Atomenergie und Libyen zurückzuführen. Das Problem wurzelt unzweifelhaft tiefer und wird kein bloßes Übergangsphänomen sein. Man hat einige Symptome lange ignoriert.

Dabei hatten schon im Sommer 2009 die Sozialforscher zwar eine parlamentarische Majorität für Union und Freidemokraten in Umfragen erheben können; zugleich aber ergaben die Zahlen, dass nur etwa ein Viertel der Wähler eine schwarz-gelbe Koalition wünschte. Gut drei Wochen vor der Bundestagswahl kam in weiteren neuen Studien verblüffend deutlich zum Vorschein, dass nur kleine Minderheiten der Union zutrauten, die Arbeitslosenzahlen abzubauen, die Steuer- und Abgabenlasten zu mindern, den Haushalt zu konsolidieren.

Am Ende, am Sonntag der Bundestagswahl, verbuchten die Parteien des alten bürgerlichen Lagers und der neuen Bundesregierung gut 300.000 Wähler weniger als 2005, als es für eine solches Kabinett noch nicht gereicht hatte. Nahm man alle Wahlberechtigten, so kamen CDU/CSU und FDP gerade auf ein Drittel Zustimmung für ihr Regierungsprojekt. Noch keine andere Regierung in der bundesdeutschen Geschichte war mit einer solch geringen Unterstützung in das Amt gelangt. 1961, als die letzte Runde der Adenauerära einsetzte, und 1983, als die lange Ära Kohl begann, erteilten immerhin nahezu 50 Prozent aller Wahlberechtigten dem bürgerlichen Lager ihre Legitimation.

Die Gleichung Mitte=CDU geht nicht mehr auf

Am stärksten hätte dadurch das Selbstbewusstsein der CDU/CSU getroffen sein müssen. Denn die Politiker der Christlichen Union hatten sich über Jahrzehnte ganz selbstverständlich als Teil und Ausdruck von Mitte und Mehrheit der bundesdeutschen Gesellschaft gefühlt. So hatten sie es von den fünfziger Jahren bis weit in die Regierungszeit von Helmut Kohl im Alltag oft genug erfahren.

Die Intellektuellen mochten maliziös lästern und sich über intellektuelle Unzulänglichkeiten der biederen CDU-Anführer kritisch auslassen - das Volk in seiner Majorität schätzte dennoch Rhetorik und Auftritt der Adenauers, Erhards und Kohls; nicht zuletzt gerade wegen ihrer Kleinbürgerlichkeit, wegen ihres Patriarchalismus, wegen ihrer Bindung an Provinz und Brauchtum. Die CDU war die Partei der Mitte, die Volkspartei der Republik, die natürliche Regierungspartei schlechthin.

Allmählich aber ist schwer zu ignorieren, dass die Gleichung von Mitte=CDU nicht mehr aufgeht. Und mit den Händen zu greifen ist seit einigen Jahren die Verunsicherung, die sich darüber bei den Traditionalisten der Christdemokratie breitmacht. Es ist nicht mehr ihre Welt.

Früher, von Adenauer bis Kohl, war Wahlkampf für sie eine klare, im Grunde einfache Aufgabe: Man hatte dem roten Gegner mit schwerem Säbel zuzusetzen und das Bürgertum durch apokalyptische Andeutungen über Chaos und Eigentumsverlust in Schrecken zu setzen. Dann konnte man verlässlich kalkulieren, das Wahlvolk von Mitte bis rechts hinter sich zu sammeln - und den "Sozen" am Wahlsonntag eine deftige Niederlage beizubringen.

Rot-Grün hat die neuen Kerngruppen der Gesellschaft hinter sich

Doch Lagerkämpfe gewinnt die CDU längst nicht mehr. Immer dann, wenn in den letzen zehn Jahren harte Polarisierungswahlkämpfe probiert wurden, holte sich die CDU gar eine blutige Nase, wie der Herold dieser Angriffstechnik in Wahlauseinandersetzungen, Roland Koch, bitter erfahren sollte. In den Kulturkämpfen der letzten Jahre, ob es um neue Lebensformen, Wertefragen oder eben auch die Atomenergie ging, hatte Rot-Grün die neuen Kerngruppen der Gesellschaft hinter sich.

Dies gilt insbesondere für einen gewichtigen Teil der Mitte im bürgerlichen Nachwuchs. Die Lebensweltforscher haben für diesen Ausschnitt der Bevölkerung - jung, akademisch, beruflich mobil, urban, in kreativen Jobs tätig: also rundum modern - den Begriff der "kritischen Bildungselite" kreiert. Ihre Zugehörigen prägen Trends und Themen der Zeit, verfügen zudem über das höchste Haushaltseinkommen innerhalb der deutschen Bevölkerung. Und: In keiner anderen Gruppe sind die klassischen Parteien des klassischen Bürgertums derart abgemeldet wie hier. Zum politischen Repräsentanten dieser neuen "Bildungselite" sind demgegenüber, wenngleich weniger fest als es derzeit wirkt, die Grünen avanciert.

Nicht ganz so trostlos sieht es im gewerblichen Teil des Bürgertums aus. Doch fiel das Ausmaß an Enttäuschung und Empörung über die Politik von Union und FDP dort in den letzten Monaten besonders stark aus. Das junge Wirtschaftsbürgertum löste sich seit Jahren schon sukzessive aus der politischen Sphäre insgesamt, verachtete den schwerfälligen politischen Betrieb.

Wirtschaftsbürger hier und bürgerliche Politiker dort bewegen sich mittlerweile in unterschiedlichen Sphären. Über Jahrzehnte waren die Berührungen im Alltag vielfältig. Man begegnete sich in den gleichen Vereinen, verschränkte sich zwecks Optimierung der eigenen Karriereaussichten miteinander. In früheren Jahrzehnten konnte es sich für Männer in der Wirtschaft lohnen, in der CDU/CSU zumindest maßvoll aktiv zu sein.

Politische Macht ist fragil - Politiker agieren ängstlich

Das ist Vergangenheit. Die ökonomischen Globalisierungseliten besitzen weder Zeit für Politik, noch brauchen sie Parteien als Katapult für berufliche Möglichkeiten oder um ihre Interessen durchzusetzen. Dadurch hat aber auch die Politik der bürgerlichen Parteien ihre Drähte in die Gesellschaft und die Wirtschaft verloren. Bürgerliche Politiker bekommen so ihre zunehmende Einsamkeit zu spüren, ihre Beschränkung allein auf Ministerbüros und Abgeordnetenzimmer.

Politische Macht ist infolgedessen fragil. Verliert man sie, verliert man alles. Das macht verletzbar, vorsichtig, ängstlich, in Zeiten des Machtverschleißes durch Schwäche aggressiv.

Denn nicht einmal die scheinbar ewigen Stützpfeiler tragen und stabilisieren noch. Einst bildeten die Gläubigen die große Reservearmee der Christlichen Partei. Episkopat und Ortspfarrer leisteten Mobilisierungshilfe bei Wahlen. Und das christliche Bekenntnis schlug den Integrationsbogen zum Zusammenhalt der Volkspartei. Zuletzt hatten die Kirchen, die katholische vorneweg, jedoch ihre eigenen Probleme, hatten daher weder Zeit noch Sinn und Fußtruppen, um den Christdemokraten beizustehen.

Zwischen 1990 und 2011 haben rund 6,5 Millionen katholischer und evangelischer Christen ihre Kirchenmitgliedschaft aufgegeben. In zusätzliche Bedrängnis geriet der Katholizismus, als die Missbrauchsfälle gegenüber Kindern in seinem Bereich ruchbar wurden. Die katholische Kirche ist zutiefst verunsichert, angenagt von Zweifeln, wie viel Zukunft sie selbst noch besitzen mag.

Katholiken fremdeln mit der Union

Die verbliebenen Reste des Kernkatholizismus erkennen in ihrer zunehmenden gesellschaftlichen Randstellung auch in der CDU keinen sicheren Adressaten zum Schutz ihrer Position mehr. Die Partei erscheint ihnen säkularisiert, der Moderne verfallen. Wo noch Vertreter des Christentums in Spitzenposten erkennbar sind, da handelt es sich überwiegend um Protestanten - in einer Dominanz, die es in all den Jahrzehnten seit Gründung der Partei zuvor niemals gab: die Bundeskanzlerin, der Innenminister, die Ministerin für Arbeit und Soziales, der Finanzminister, der Fraktionsvorsitzende, der Kanzleramtschef - allesamt Protestanten.

Gläubige Katholiken, die Sonntag für Sonntag den Gottesdienst besuchen, fremdeln deshalb mit ihrer Partei, gehen in die innere Emigration. In Baden-Württemberg schlug sich das bereits bei der Bundestagswahl 2009 negativ auf das Wahlergebnis für die Union nieder, da die Partei gerade in ihren alten katholischen Stammquartieren im Süden des Landes deutliche Einbußen durch Wahlenthaltung einstecken musste.

Der vergangene Sonntag war der wichtigste Tag im Superwahljahr 2011. Die Union hat im Ländle ihr schlechtestes Ergebnis seit den fünfziger Jahren eingefahren, die FDP verlor die Hälfte ihrer Wähler - und weg ist die Macht.

Die Union verliert gleich doppelt: Ihr entziehen sich die altkonservativen Kräfte auf der einen und die neubürgerlichen Bildungseliten auf der anderen Seite. Und das integrative Sozial- und Wertemodell für eine christdemokratische Partei in einer zunehmend nachchristlichen Gesellschaft ist nirgendwo zu erkennen.

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