CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer nach Thüringen Kontrollverlust

CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer: "Ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen und Bitten der Bundespartei"
Foto:Jean Francois Badias/ dpa
Annegret Kramp-Karrenbauer ist an diesem Tag nicht in Berlin, sie ist in Straßburg, ein Besuch im Europaparlament. Reine Routine, eigentlich. Aber Routine ist jetzt gar nichts mehr, nicht nach diesem Tag. Sie ist mit ihrem Handy beschäftigt, sie tippt, sie telefoniert, bespricht sich mit Vertrauten. Plötzlich gilt es für sie, irgendwie ihre Partei zusammenzuhalten. Und, ja: auch die Große Koalition. Welch eine Entwicklung.
Am Mittag hat sich im Erfurter Landtag der FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum neuen Ministerpräsidenten wählen lassen - mit den Stimmen von Björn Höckes AfD und den Stimmen der CDU. Es ist ein Tabubruch, eine Zäsur. Zum ersten Mal haben extrem Rechte darüber entschieden, wer in einem Bundesland die Regierung führt. Und die CDU mit ihrem Landeschef Mike Mohring steckt mittendrin.
Das Beben von Erfurt erreichte innerhalb von Stunden die Regierung in Berlin. Die SPD spricht von einer "abgekarteten Sache" und fordert Konsequenzen. Kramp-Karrenbauer müsse das Ganze sofort stoppen. Die Frage ist nur: Hat sie dafür die Macht, die nötige Autorität?
Schon wieder Thüringen, es ist ein Wahnsinn. Seit Wochen hat Kramp-Karrenbauer mit den Entwicklungen in Erfurt zu tun, sie hat lange darauf gehofft, dass sich die Sache von selbst erledigt, jedenfalls wirkte es so. Das geht jetzt nicht mehr. Sie geht auf maximale Distanz zu ihrer Partei in Thüringen. Der Landesverband habe "ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen und Bitten der Bundespartei" gehandelt, wirft sie den Christdemokraten in Erfurt vor. Dies sei kein guter Tag für Thüringen und kein guter Tag für Deutschland. Nun müsse darüber geredet werden, ob es Neuwahlen gebe.
Es ist ein Ton, den zuvor auch schon Markus Söder in München angeschlagen hatte. "Es ist ein inakzeptabler Dammbruch, sich mit den Stimmen der AfD und sich gerade mit den Stimmen von Herrn Höcke zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen", sagte Söder.
CDU-Ministerpräsident Daniel Günther
Söder und Kramp-Karrenbauer versuchen zu retten, was zu retten ist. Eine klare Ansage, Neuwahlen, und die unangenehme Geschichte ist erledigt. Das ist die Hoffnung. Nur hat sich schon in den vergangenen Wochen gezeigt, wie wenig Mohring und seine Thüringer Christdemokraten auf die Versuche aus dem Adenauer-Haus gaben, ihm Vorgaben zu machen. Warum sollte er jetzt spuren? Mohring liebäugelte damit, mit der Linken zu kooperieren, obwohl die Union einen Unvereinbarkeitsbeschluss zwischen CDU und Linkspartei fasste.
Kramp-Karrenbauer schickte ihren Generalsekretär vor, um ihn daran zu erinnern; sie selbst versuchte, sich so weit wie möglich aus der Angelegenheit herauszuhalten. Ein Fehler, es fehlte die Klarheit und die Linie. "Ich freue mich, dass sich nun auch die Bundes-CDU eindeutig in dieser Sache positioniert hat", sagt Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther. "Die Sprachlosigkeit der Bundespartei in den vergangenen Monaten hat dazu geführt, dass die CDU Thüringen in dieser schwierigen Zeit alleine gelassen wurde." Es ist ein Giftpfeil in Richtung der Parteivorsitzenden.
Klar ist: Kramp-Karrenbauer hat die Lage in Thüringen völlig unterschätzt. Und jetzt wird es umso schwieriger, den Kurs vorzugeben und die Thüringer CDU zur Umkehr zu bewegen.
Der Fall wird sie noch lange beschäftigen. Viele Fragen sind offen. Über welche Szenarien sprach sie mit dem Thüringer Landesverband, und wie konkret. Wann ging sie auf die FDP zu, um sie davon abzubringen, einen eigenen Kandidaten aufzustellen? Mit wem sprach sie bei den Liberalen?
Kopfschütteln bei den Wahlkämpfern in Hamburg
Hamburg-Harburg, Mittwochabend, Privathotel Lindtner. Erwartet wird Friedrich Merz, er soll zwei Parteifreunde im Wahlkampf unterstützen, in zweieinhalb Wochen wird hier die Bürgerschaft neu gewählt. Doch Merz verspätet sich, er sitzt in einer Aufzeichnung für eine Talkshow - weshalb den Christdemokraten, die im Hotelsaal auf ihn warten, mehr als genug Zeit bleibt, um über das Thema des Tages zu reden: Thüringen.
Das Wort "Katastrophe" ist hier wiederholt zu hören, viele schütteln den Kopf. Sie machen sich Sorgen, dass die ohnehin schwachbrüstige Hamburger CDU in den Sog der Thüringer Ereignisse geraten und noch weiter abrutschen könnte. Auch hier wird schnell klar: Was in Erfurt passiert ist, wird Folgen für die gesamte Partei haben.
Der Fall droht die CDU ins Chaos zu stürzen, es geht durcheinander wie in der SPD zu ihren schlechtesten Zeiten. Während die Parteiführung die Erfurter Entscheidung geißelt, hört man in der Bundestagsfraktion gegenteilige Stimmen. "Zu Recht" habe die CDU Thüringen im Landtag für den FDP-Kandidaten gestimmt, meint Mark Hauptmann, der Chef der Jungen Gruppe in der Unionsfraktion. "Die Vernunft und das bürgerliche Lager haben gesiegt", schwärmt Alexander Mitsch, Vorsitzender der erzkonservativen WerteUnion. Und so ist die Causa Thüringen Ausdruck der größeren Krise in der CDU, auf der Suche nach ihrer Identität droht es die Union zu zerreißen.
Die SPD macht an diesem Tag deutlich, dass sie nicht einfach zur Tagesordnung übergehen will. Von einem "unverzeihlichen Dammbruch" spricht Parteichef Norbert Walter-Borjans. "Da kann sich niemand in den Berliner Parteizentralen wegschleichen." Selbst Vizekanzler Olaf Scholz, einer der größten Bewahrer der Koalition, greift die CDU-Führung direkt an: Kemmerichs Wahl sei ein "Tabubruch in der Geschichte der politischen Demokratie in der Bundesrepublik" mit Auswirkungen weit über Thüringen hinaus, sagt der Finanzminister. Die Wahl Kemmerichs werfe "sehr ernste Fragen an die Spitze" der Bundes-CDU auf, die SPD verlange "schnelle Antworten".
Gerät die GroKo erneut ins Wanken?
Scholz weiter: "Was in Erfurt passiert ist, war kein Zufall, sondern eine abgekartete Sache. Eine Zusammenarbeit mit der Höcke-AfD ist für die SPD absolut unakzeptabel, das unterscheidet sie im Übrigen von Christian Lindner und der FDP."
Der frühere SPD-Vize Ralf Stegner geht noch einen Schritt weiter. Er sieht die Große Koalition in Berlin massiv belastet. "Wenn FDP-Chef Lindner und CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer diese Farce nicht sofort beenden, kann es kein Weiter-so in der Großen Koalition geben", sagt der SPD-Fraktionschef in Schleswig-Holstein dem SPIEGEL. "Wir können nicht mit einer Partei regieren, die mit Nazis kooperiert."
Ganz so harsch äußert sich die Parteispitze nicht. Aber die Richtung ist die gleiche. Für die SPD liegt der Ball jetzt bei Kramp-Karrenbauer. Die Genossen fordern ein Treffen mit der Unionsspitze, laut Walter-Borjans ist für Samstag ein außerplanmäßiger Koalitionsausschuss angesetzt.
Parteivize Kevin Kühnert sagt am Abend bei einer Protestveranstaltung vor der CDU-Zentrale in Berlin, die Entscheidung in Thüringen könne nicht ungeschehen gemacht, aber sie müsse rückgängig gemacht werden. Die SPD erwarte, "dass unser Koalitionspartner alles dafür tut, dass Kemmerich nicht Ministerpräsident bleibt".
Darüber müsse im Koalitionsausschuss gesprochen werden. Kühnert weiter: "Wie es dann weitergeht, ist offen. Das werden wir am Sonntag im Parteivorstand besprechen."
Auch ein vorzeitiger Bruch der Großen Koalition ist am Mittwoch plötzlich wieder denkbar.
Noch mal Hamburg, ein paar Minuten vor acht, Merz kommt in den Saal. Auf der Bühne verliert er keine Zeit, er kommt sofort auf Thüringen zu sprechen. "Diese Wahl dort wird uns noch lange beschäftigen", sagt er. Und: "Es ist ein Tabubruch."
Er wolle aber, sagt Merz, gedanklich einen Schritt zurück machen. Man müsse doch fragen, wie solch ein Landtagswahlergebnis überhaupt zustande kommen könne, bei dem Linkspartei und AfD zusammen auf mehr als 50 Prozent kämen. Das dürfe sich nicht fortsetzen. Man habe die Verantwortung, von der AfD "diejenigen, die nicht rechtsradikal sind, die vernünftig sind, zurückzugewinnen für die CDU". Und, sagt Merz: "Wenn uns das gelingt, dann kommt es gar nicht zu solchen Situationen."
Machtpolitisch ist das hochinteressant: Damit schiebt Merz die Verantwortung für den Thüringer Tabubruch zumindest mittelbar seiner Lieblingsgegnerin Angela Merkel zu. Er spricht das zwar nicht aus, aber anders lässt sich das nicht verstehen - schließlich ist Merkel, so sieht er es seit Langem, verantwortlich dafür, dass sich die CDU immer mehr der SPD angeglichen und damit den rechten Rand preisgegeben hat. Merkels Politikmodell, so sieht es Merz, ist der Hauptgrund für den Aufstieg der AfD.
Er steht für das Gegenmodell, für eine CDU, die auch rechts wieder Stimmen gewinnt. Spätestens hier ist klar, dass Erfurt auch Folgen für die machtpolitische Balance in der CDU hat und damit für die zentrale Frage dieses Jahres: Wer die Partei als Kanzlerkandidat oder Kandidatin in den Wahlkampf führt. Annegret Kramp-Karrenbauer dürfte Merz‘ Worte genau registrieren.