

EU und Türkei Endlich Klartext Richtung Ankara


Türkischer Präsident Erdoğan bei einem EU-Türkei-Treffen in Bulgarien, März 2018
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Wie heißt es so schön: Man ändert sich oft und bessert sich selten. So hält es der türkische Präsident Erdoğan auch mit seinem Verhältnis zur EU. Im Jahr 2017 bezeichnete Erdoğan die Europäische Union als »faschistisch« und »grausam«. Kurz danach kehrte er zu einem pragmatischeren Kurs mit der EU zurück. Vergangenen Oktober beschimpfte Erdoğan europäische Politiker*innen gar als »Kettenglieder der Nazis«, nur um zuletzt zu verkünden, dass die Türkei sich als Teil Europas sehe. Mehr noch, die EU solle sogar die Kooperation mit der Türkei vertiefen und verbessern.

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Cem Özdemir, Jahrgang 1965, ist Mitglied des Deutschen Bundestages. Von November 2008 bis Januar 2018 war er Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen.
Was sind seine Äußerungen wert? Die Halbwertszeit seiner Aussagen war bislang gering. Im Verhältnis zur Türkei ist Wunschdenken fehl am Platz. Es braucht vielmehr einen Realismus, der optimistisch sein darf, aber niemals naiv. Denn für Erdoğan sind die Interessen der Türkei gleichbedeutend mit seinem persönlichen Interesse am Machterhalt. Dem ordnet er alles unter, ohne Rücksicht auf Verluste. Schließlich müssen Erdoğan und sein Umfeld im Falle einer Wahlniederlage Gerichtsverhandlungen oder gar mehr fürchten.
Darin ähnelt er durchaus seinem bald ehemaligen Trump-Ağabey (deutsch: großer Bruder), zu dem er nun nicht mehr aufblicken kann. Doch im Gegensatz zu den USA gibt es in der Türkei schon lange keine funktionierenden checks and balances mehr. Es gibt weder unabhängige Institutionen noch eine starke Opposition, die Erdoğan bremsen könnte. Allerdings spürt er, dass die Luft für ihn zunehmend dünner wird.
Nach monatelanger Uneinigkeit könnten die EU-Mitgliedstaaten diese Woche aufgrund der Eskalationen im östlichen Mittelmeer weitere Sanktionen gegen die Türkei verhängen. Unter US-Präsident Joe Biden drohen Ankara zudem harte US-Sanktionen. Die Machthaber in Russland und China sehen Erdoğan nicht auf Augenhöhe und sind für die Türkei eindeutig keine verlässlichen Partner.
Hinzu kommt, dass die türkische Wirtschaft taumelt. Die Inflationsrate ist im zweistelligen Bereich, die Preise steigen, in der Bevölkerung rumort es. Doch Erdoğan weiß, dass er eine halbwegs funktionierende Wirtschaft braucht, um seine über das religiös-nationale Lager hinausgehende Wählerbasis bei Laune zu halten. Vor diesem Hintergrund könnte sich die Tür für Gespräche zwischen der EU und der Türkei zumindest einen Spaltbreit öffnen.
Es ist endlich Zeit für Klartext aus Brüssel in Richtung Ankara: Allen voran braucht es echte Verbesserungen beim Menschenrechtsschutz und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei. Ankara muss durch konkrete Taten guten Willen demonstrieren. Corona könnte einen gesichtswahrenden Anlass für Erdoğan bieten, die politischen Gefangenen auf freien Fuß zu setzen. Als Druckmittel könnte der am vergangenen Montag verabschiedete Menschenrechts-Sanktionsmechanismus der EU dienen, auch wenn bei Entscheidungen Einstimmigkeit verlangt wird. Schwere Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Verhaftungen gibt es in der Türkei leider genug.
Gemeinsam mit den EU-Mitgliedstaaten sollte die Bundesregierung sich zudem im Europarat für die Sanktionierung menschenrechtsfeindlichen Verhaltens der türkischen Regierung einsetzen. Wenn die Bundesregierung ihre Agenda für den Vorsitz des Ministerkomitees des Europarates ernst meint, sollte sie der Türkei endlich klarmachen, dass ihr ein Ausschlussverfahren aus dem Europarat droht, wenn sie die Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, wie jene zur Freilassung Osman Kavalas und Selahattin Demirtaş, weiterhin ignoriert.
Eine weitere Bedingung der EU muss sein, dass die Türkei den Weg für einen ernst zu nehmenden diplomatischen Dialog im Gasstreit frei macht und derweil alle Gas-Explorationen vor den Küsten Griechenlands und Zyperns stoppt – denn militärische Drohgebärden passen offensichtlich nicht zu einer von Ankara gewünschten vertieften strategischen Zusammenarbeit – weder in der EU noch in der Nato.
Im Gegenzug könnte die EU der Türkei ein konkretes Angebot zur Zusammenarbeit im Bereich erneuerbare Energien machen. So könnte Ankaras Kosten-Nutzen-Rechnung vielleicht verändert werden. Die im Mittelmeer vermuteten Gasvorkommen sind aufgrund von diversen Risiken für die Anrainerstaaten nicht profitabel und vor allem klima- und energiepolitisch von gestern. Die Botschaft der EU muss daher sein: Nur eine progressive und nachhaltige Klima- und Energiepolitik ist langfristig rentabel. Die türkische Industrie, die zukünftige europäische CO2-Einfuhrsteuern fürchten muss, würde damit zur Beteiligten bei einer Energiewende im Ostmittelmeer. Zumal Ankara strategisch sowieso unabhängiger werden will von Gasimporten aus Russland und das so klimafreundlich tun könnte. So ist es in unserem Interesse, die Türkei als Industrieland beim europäischen Green Deal mitzudenken. Bei entsprechendem Entgegenkommen könnte auch eine Modernisierung der Zollunion, die bereits seit Jahren diskutiert wird, auf die Agenda zurückkehren. Aber Ankara muss verstehen: There is no free lunch. Wer was von uns will, muss die Menschenrechte schützen und das Säbelrasseln beenden.
Eine solche Strategie kann aber überhaupt nur funktionieren, wenn klare Ziele, Maßnahmen und Überwachungsmechanismen vereinbart werden. Als EU müssen wir sicherstellen können, dass alle Seiten ihren Verpflichtungen tatsächlich nachkommen. Sie sollte auch Strafmaßnahmen umfassen, sodass bei fortgesetzten militärischen Eskalationen im östlichen Mittelmeer sofort schlagkräftige Sanktionen verhängt würden. Das ist auch Voraussetzung, um Griechenland, Zypern und Frankreich für die Initiative ins Boot zu holen. Es wäre ein Wert an sich, wenn die EU gegenüber Ankara endlich mit einer Stimme sprechen würde.
Wirkliche Fortschritte in den EU-Türkei-Beziehungen sind nur mit einer Kombination aus Forderungen und Anreizen möglich, also Zuckerbrot und Peitsche. Dabei darf sich die EU nicht kleiner machen, als sie ist. Beim heutigen EU-Gipfel sollten die Staats- und Regierungschef*innen daher deutlich machen: Es wird ein letztes Angebot im Politikstil Merkels geben, das Ankara besser nicht ablehnen sollte. Wenn Erdoğan sich darauf nicht einlässt, wird es eine Antwort à la Président Macron geben – also Sanktionen, die Erdoğan und seine Handlanger schwer treffen würden. Brüssel, Paris, Berlin und bald Washington sollten eine macronsche Antwort schon jetzt vorbereiten.