Chaostage in Berlin Merkels miese Woche

Bundeskanzlerin Merkel: Holpriger Start für die schwarz-gelbe Koalition
Foto: Franka Bruns/ APHamburg - Es gärt und rumort am Kabinettstisch, peinliche Pannen und Dauerzwist bestimmen seit Tagen den Alltag im politischen Berlin - vor allem in der vergangenen Woche häuften sich die Negativschlagzeilen. Da prägte der spektakuläre Rücktritt von Arbeitsminister Franz Josef Jung und das hitzige Ringen um Steuersenkungen das öffentliche Bild des Regierungsbündnisses. Der Streit um die ungelöste Causa Steinbach kochte erneut hoch, ebenso die Debatte ums Betreuungsgeld.
Dabei sollte doch für eigentlich alles besser werden. Den ungeliebten Partner SPD konnte die Kanzlerin bei der Wahl erfolgreich abschütteln und endlich mit der FDP gemeinsam regieren. Doch schon die Koalitionsverhandlungen zogen sich hin, gestalteten sich zäher als erwartet. Und vier Wochen nach ihrem Amtsantritt muss Merkel nun im großen Stil Krisenmanagement betreiben.
SPIEGEL ONLINE zeigt die aktuellen Baustellen der Kanzlerin.
Afghanistan-Desaster - Jung geht von Bord
Nach einer Minute und 40 Sekunden war alles gesagt. , Verteidigungsminister im Kabinett Merkel I, Arbeitsminister im Kabinett Merkel II, erklärte am Freitagmittag seinen Rücktritt, damit die Regierung ihre Arbeit "uneingeschränkt fortsetzen kann". Dann ging er hinaus.
Jung ist der erste Bundesminister in Deutschland, der bereits nach einem Monat im Amt abtreten musste - ein fatales Signal für die neue Regierung. Beobachter waren überrascht, dass sich Jung im schwarz-gelben Kabinett überhaupt ins Arbeitsministerium retten konnte. Nun haben ihn die Pannen aus der vergangenen Legislaturperiode eingeholt.
Auch das Image von CSU-Shootingstar und Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg bekam in den Chaostagen der Bundesregierung ein paar Kratzer. Guttenberg hatte den von der Bundeswehr angeordneten Luftangriff im Norden Afghanistans stets als "militärisch angemessen" verteidigt. Nun muss er den Fall neu bewerten.
Was bleibt, ist der Eindruck eines peinlichen Fehlstarts in die neue Legislaturperiode. Nur vier Wochen nach der Regierungsbildung musste Merkel ihr Kabinett umbauen. Drei Stunden nach dem Rücktritt entschied sich die Kanzlerin für Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) als Jungs Nachfolgerin. Neue Familienministerin wird die 32-jährige Kristina Köhler (CDU), die anstelle von Jung die mächtige Hessen-CDU am Kabinettstisch vertreten soll.
Doch auch wenn die Posten geschwind verteilt wurden - die Aufarbeitung des Debakels wird Regierung und Parlament noch lange beschäftigen. Denn die Causa Jung vererbt der neuen Regierung direkt zum Start einen Untersuchungsausschuss, der die Vorgänge in Afghanistan aufklären soll. Für die Opposition die ideale Angriffsfläche.
Wutausbruch im Steuerstreit - Attacke aus dem Norden
In der Union fliegen die Fetzen: Bei einem Treffen mit den CDU-Ministerpräsidenten gelang es Merkel am Donnerstag nicht, den schleswig-holsteinischen Landeschef Peter Harry Carstensen von den geplanten Steuersenkungen zu überzeugen. Carstensen drohte der Kanzlerin gar mit Rücktritt, sollte der Bund seinem Land nicht finanziell entgegenkommen. "Wenn das Gesetz so kommt, habe ich keinen politischen Gestaltungsspielraum mehr. Dann soll das jemand anderes machen", sagte Carstensen laut SPIEGEL.
Bislang bleibt Merkel stur. Sie werde keinen politischen Basarhandel über das geplante Wachstumsbeschleunigungsgesetz eröffnen, stellte sie klar. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) gab der Kanzlerin Rückendeckung. Den Koalitionsvertrag habe die CDU als Ganzes beschlossen, sagte er der "Stuttgarter Zeitung". Das binde die Partei insgesamt, auch in Schleswig-Holstein. Auf die Frage, ob der Bund den Ländern mehr Geld geben werde, antwortete Schäuble: "Nein, das tut er nicht."
Nicht nur Schleswig-Holstein befürchtet Steuerausfälle in Millionenhöhe. Zuletzt hatte Sachsen mit einer Ablehnung der Steuerpläne gedroht. Auch Baden-Württemberg meldete Bedenken an. Von den insgesamt bis zu 8,5 Milliarden Euro Steuerausfällen entfallen laut Gesetzentwurf 4,63 Milliarden Euro auf den Bund. 2,28 Milliarden Euro müssen die Länder schultern, 1,57 Milliarden Euro die Gemeinden.
Falls das schwarz-gelb regierte Schleswig-Holstein den geplanten Steuersenkungen nicht zustimmt, hätten Union und FDP im Bundesrat keine Mehrheit für das Gesetz. Die Beratungen des Steuerpakets sollen eigentlich am 18. Dezember abgeschlossen werden. Nach der hitzigen Debatte beim Ländertreffen könnten sich die Verhandlungen nun bis in den Januar hinziehen. Dann würde das Gesetz nicht wie geplant zum neuen Jahr in Kraft treten - und ein Kernprojekt der Koalition stünde auf der Kippe.
Gutschein oder Bares - bizarre Debatte ums Betreuungsgeld
Alles klar und doch nichts geklärt: Eltern, die ihre Kleinkinder zu Hause erziehen, sollen ab 2013 eine staatliche Gegenleistung bekommen - so steht es im Koalitionsvertrag. Doch in welcher Form das geschehen soll, ist völlig ungewiss. Die FDP stemmt sich massiv gegen eine Barauszahlung, fordert ein Gutscheinmodell. Auch Teile der CDU kritisieren das Betreuungsgeld, darunter Hamburgs Erster Bürgermeister Ole von Beust und die neue Familienministerin Kristina Köhler.
Ein handfester Streit mit der CSU aus Bayern scheint unausweichlich - denn die Christsozialen pochen auf Bares. Die "unsinnige Gutscheinidee" müsse "ein für alle Mal ad acta gelegt" werden, forderte etwa Bayerns Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU) im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE und warnte vor einem "Bürokratiemonster".
Die CSU erwägt nach SPIEGEL-Informationen gar die Vorlage eines Gesetzentwurfs: Generalsekretär Alexander Dobrindt lotet derzeit Möglichkeiten für eine Gesetzesinitiative aus - als denkbar gilt ein Vorstoß der bayerischen Staatsregierung im Bundesrat.
Merkel selbst wirkt in der Debatte unentschlossen. Vor wenigen Wochen hatte die Kanzlerin noch erklärt: "Für Hartz-IV-Empfänger zum Beispiel wollen wir überlegen, ob wir Gutscheine anbieten. Zum Beispiel für Bildung der Kinder oder für den Besuch bestimmter Einrichtungen. Das wäre ja eine Möglichkeit."
Am vergangenen Samstag sagte sie dann auf einem CDU-Landesparteitag, Familien müssten selbst darüber entscheiden dürfen, wie sie das Geld verwenden. "Wenn wir diese Diskussion anfangen, dass man Familien nicht mehr zutrauen kann, damit etwas Vernünftiges zu machen - dann tun wir etwas, was mit meinem Menschenbild zumindest nichts zu tun hat."
Als eine Kursänderung in Sachen Betreuungsgeld, so versicherte Merkel am Montag eilig, sei dies jedoch nicht zu verstehen.
Fall Steinbach - Merkel zwischen den Fronten
Der Personalie der Vertriebenenpräsidentin spaltet Merkels Regierung. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) weigerte sich am Donnerstag weiter, der Berufung Steinbachs in den Beirat der Stiftung "Flucht Vertreibung Versöhnung" zuzustimmen. CSU-Chef Horst Seehofer giftete prompt zurück, Westerwelles Haltung sei eine Belastung für die Berliner Koalition. Andere führende Unionspolitiker attackierten Westerwelle im SPIEGEL.
Die Personalie sorgt seit Wochen für Unruhe. CDU und CSU drängen auf ein Einlenken der FDP und pochen wie der Bund der Vertriebenen darauf, dass der Verband die Personen für seine drei Sitze im Beirat selbst bestimmen darf.
Auf ein Machtwort Merkels wartet man vergeblich. Denn die Kanzlerin steht zwischen den Fronten: An Westerwelle kommt sie nicht vorbei, da die Regierung mit einem einvernehmlichen Kabinettsbeschluss die Mitglieder des Stiftungsrats förmlich bestellen muss. Beugt sie sich aber dem Nein des Liberalen, könnte dies massive Verärgerung bei der konservativen Stammklientel der Union auslösen - immerhin die letzte wirklich treue schwarze Wählertruppe.
Oettinger in Brüssel - Schlappe für Deutschland?
Die Kanzlerin selbst verkauft die Kür von zum EU-Energiekommissar als Spitzenleistung. Die Ernennung des CDU-Politikers sei eine "sehr gute Wahl", sagte Merkel am Sonntag - und wies damit beharrlich Stimmen zurück, die in der Übertragung des Energieressorts an Oettinger eine Schlappe für Deutschland gesehen hatten.
Die Energiepolitik gehört zu den Kernressorts, die Deutschland neben Industrie und Binnenmarkt auf seiner Wunschliste hatte. Doch Berlin wollte es unter der Bedingung, dass die Zuständigkeit um den Bereich Klimapolitik erweitert wird - diesen Wunsch schmetterte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso allerdings ab.
Nicht nur die Opposition ätzt gegen die Personalie Oettinger. Ungewöhnlich scharfe Kritik üben auch führende Unionsabgeordnete in Brüssel. Der Noch-Ministerpräsident von Baden-Württemberg habe mit seinem Posten weder Macht noch Zugriff auf die Klimapolitik, heißt es. Kompetenzstreitigkeiten mit den Kommissarinnen für Klima, Connie Hedegaard, und Umwelt, Janez Potocnik, seien programmiert.
Der Sprecher der deutschen Konservativen im EU-Parlament, Werner Langen, griff Merkel offen an: "Die Bundesregierung hätte sich um ein wichtigeres Ressort bemühen müssen. Hier wäre die Bundeskanzlerin persönlich gefordert gewesen." Langen kritisierte, dass das Energieressort "nach der Vollendung des Energiebinnenmarktes an Bedeutung verloren" habe. Auch der Vorsitzende des mächtigen Industrie-Ausschusses, Herbert Reul (CDU), ist enttäuscht. Oettinger könne kaum gestalten, allenfalls "ein paar Pipelines in Osteuropa organisieren".
Ob Oettinger seinen Posten nutzen wird oder nicht - mit ihm hat Merkel einen europapolitischen Laien nach Brüssel geschickt, im Betrieb der belgischen Hauptstadt ist er kaum bekannt und wenig vernetzt. Anders als sein Vorgänger Günter Verheugen wird er auch kein Vizepräsident der Kommission sein.
Ein britischer Europaparlamentarier drückt es in der "Zeit" so aus: "Ich kenne Herrn Oettinger nicht. Ich weiß nur, dass Angela Merkel ihn loswerden wollte."