Chemnitz nach den Ausschreitungen "Alle Bösen sollen wieder gehen"

Blumen und Kerzen am Tatort in Chemnitz
Foto: imago/ epdBlumen verdecken das Blut, das immer noch an den grauen Steinkacheln klebt. Hier, vor der Tanzschule in der Chemnitzer Innenstadt, starb am Sonntagmorgen ein 35-jähriger Deutscher. Neben Dutzenden Kerzen liegt ein Zettel: "Wir werden dich nie vergessen."
Zehn Personen sollen nach Polizeiangaben am Rande eines Stadtfests in der Chemnitzer Innenstadt aneinandergeraten sein. Schnell hatten Gerüchte die Runde gemacht, dass ein Ausländer einen Deutschen "abgestochen" habe, angeblich nachdem das Opfer einer belästigten Frau zur Hilfe gekommen sei. Am Sonntagabend zog daraufhin ein rechter Mob durch Chemnitz, vor allem ein harter Kern aus Menschen mit Bezug zur Hooliganszene machte offenbar Jagd auf ausländisch aussehende Menschen.
Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen einen Syrer und einen Iraker beantragt. Die angebliche Belästigung hat die Polizei indes dementiert, zumindest gebe es keine Anzeichen dafür, heißt es in einer Mitteilung.
Neuer #Erkenntnisstand zu den Vorkommnissen in #Chemnitz #c2608 pic.twitter.com/9gCxzMb6po
— Polizei Sachsen (@PolizeiSachsen) August 27, 2018
Regierungssprecher Steffen Seibert verurteilt am Montag die "Hetzjagd" , die Stimmung in Chemnitz bleibt aufgeladen.
Judy und Tamea blicken auf die Blumen am Tatort, über ihre Wangen laufen Tränen. Sie kannten das Opfer flüchtig. "Irgendwann musste das ausarten mit den Flüchtlingen", sagt Judy. Ob die beiden von der Polizei festgenommenen Männer wirklich etwas mit der Tat zu tun hatten, ob sie Ausländer sind, ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar.

Chemnitz: Eskalation in der Innenstadt
Sie finde den Aufmarsch der Rechten gut, sagt Judy. Einige hätten es zwar übertrieben mit der Gewalt. "Aber wir brauchen die Rechtsextremen, wir brauchen Menschen, die mal in den Stadtpark gehen und einen umklatschen. Wenn wir Frauen demonstrieren gehen, wäre das doch allen egal", sagt die 32-Jährige. Wegen der männlichen Flüchtlinge fühle sie sich unwohl. Ihre Freundin nickt.
Viele zeigen Verständnis für die Rechten
So wie Judy und Tamea denken nicht wenige der Menschen, die man an diesem Montagmorgen in der Chemnitzer Innenstadt trifft. Auffällig viele äußern Verständnis oder Sympathie für die Proteste der Rechten, einige wenige auch für die Gewalt. Ob sie in der Mehrheit sind, vermag niemand zu sagen. Wer sich jedoch unter Chemnitzern umhört, ob sie empört sind angesichts der Ereignisse der vergangenen Tage, bekommt eine klare Antwort: Natürlich, so könne es nicht weitergehen. Die meisten beziehen ihre Antwort jedoch auf die tatsächliche oder vermeintliche Gewalt von Migranten.
Da ist zum Beispiel der für den Innenstadtbereich zuständige sogenannte Bürgerpolizist: Es gebe dort eben ein allgemeines Gefühl der Angst. Auch er persönlich frage sich, "ob wir das Geld, das wir für Einwanderer ausgeben, nicht lieber Deutschen geben sollten, die hier jeden Morgen Briefe austragen".
Da ist der Mann mit dem Laptopkoffer, den kurz geschnittenen Haaren und dem südosteuropäischen Akzent. "Es sind nur die Moslems, die hier mit dem Messer rumlaufen, Angst und Schrecken verbreiten", sagt er. "Denen muss man zeigen, wer hier das Sagen hat. Wenn sie heute wieder protestieren, gehe ich auch mit."
Unterschlupf bei der Eisverkäuferin
Und dann sind da Menschen wie Eisverkäuferin Janine. Ihr Angestellter Abdul kommt ursprünglich aus Libyen. Die beiden verstehen sich gut. Als die Rechten durch die Straße marschierten, bot sie einem jungen Mädchen mit Kopftuch in ihrer Eisdiele Unterschlupf. "Sie war verängstigt und suchte Schutz", sagt Janine. Auch sie kann die wütenden Menschen verstehen, die am Sonntagabend demonstrieren wollten.

Eisverkäuferin Janine
Foto: SPIEGEL ONLINEAber von der Gewalt gegen Migranten distanziert sie sich. Unter denen gebe es ja auch "gute". So wie Abdul, der schon vor 16 Jahren nach Deutschland gekommen ist. "Aber alle Bösen sollen wieder gehen." Die Stadt sei nicht mehr so sicher wie früher. Man lese auch auf Facebook immer wieder von Straftaten von Ausländern.
Die Wut dieses Teils der Chemnitzer Bevölkerung richtet sich dezidiert gegen Flüchtlinge, Neuankömmlinge aus den vergangenen Jahren. Schon lange in der Stadt lebende Menschen mit ausländischen Wurzeln gelten als eher unproblematisch. Der schwelende Hass erklärt möglicherweise, wie die Stimmung innerhalb weniger Stunden nach der Meldung über den mutmaßlichen Totschlag so eskalieren konnte, wieso sich auch Familien mit Kindern den Protesten anschlossen.
Auf Facebook rief laut Medienberichten die rechte Fangruppe "Kaotic Chemnitz" zu Protesten auf. Auch die AfD mobilisierte. Bis jetzt wissen viele Chemnitzer nicht, dass die Meldung, die Belästigung einer Frau wäre Ausgangspunkt der Auseinandersetzung gewesen, womöglich falsch ist.

Polizisten und Passanten in der Chemnitzer Innenstadt
Foto: STRINGER/ EPA-EFE/ REX/ ShutterstockStefan seufzt, als er das hört. Energisch zieht er an seinem fahrbaren Getränkestand, beseitigt die Reste des vorzeitig abgebrochenen Stadtfests. Er war mittendrin, als der rechte Mob durch Chemnitz marschierte. Eigentlich heißt er anders, seinen Namen möchte er lieber nicht sagen. Ziel der Hooligans sei das Stadtfest gewesen, sagt er. "Sie sind mitten über die Wiese rüber", eine Machtdemonstration.
Das Stadtfest war zu diesem Zeitpunkt offiziell längst beendet - aus Angst vor den Rechten. Anschließend zog der Mob wohl weiter Richtung Innenstadt, durchbrach eine Polizeikette. Männer traten und schlugen vereinzelt auf ausländisch aussehende Menschen ein, die wie jeden Abend neben "McDonald's" standen. So schilderte es ein freier Journalist, der beim Aufmarsch dabei war, dem SPIEGEL.
Stefan ist wütend über den Aufmarsch der Rechten. "Wir haben indische und pakistanische Essenshändler hier", sagt er. So gehe man nicht mit Menschen um. Stefan ist einer der Menschen, die sich am deutlichsten gegen die Gewalt vom Vorabend positionieren. Die AfD und andere Rechte hätten die Tat ausgenutzt.
Aber, räumt Stefan ein, auch er habe ein ungutes Gefühl, wenn er einer Gruppe männlicher Migranten begegnet. Die Vorurteile von der Gefahr durch Flüchtlinge hat sich in weiten Teilen der Chemnitzer Gesellschaft offenbar durchgesetzt.
Nur zwei Prozent der Einwohner sind Flüchtlinge
In Chemnitz leben nach Angaben der Stadtverwaltung gegenwärtig 6155 Personen mit "asylbezogenem Hintergrund", also unter anderem Asylbewerber und Flüchtlinge, die unter internationalen Schutzstatus fallen. Dem kommunalen Ausländerregister des Bürgeramtes zufolge sind 67 Prozent der Menschen mit "asylbezogenem Hintergrund" jünger als 30 Jahre, 3927 davon sind Männer und 2228 Frauen. Die meisten Menschen stammen aus Syrien (2448), Afghanistan (1088) und dem Irak (456). Der "Freien Presse" zufolge machte der Bevölkerungsanteil aller in der Stadt lebenden Ausländer zu Jahresbeginn knapp 7,6 Prozent aus, der Anteil der Flüchtlinge lag demnach bei 2,41 Prozent. Die Zeitung berief sich auf Angaben des Rathauses.
Im Video: Rechter Aufmarsch in Chemnitz
"Wir müssen ein Zeichen setzen, irgendwann ist das Maß voll", begründet ein 66-jähriger Rentner, warum er am Montagabend mitdemonstrieren will. Er trägt eine Deutschlandflagge auf seiner Mütze. Ob er denn keine Bedenken habe, sich mit Nazis gemeinzumachen? "Nein, da habe ich keine Berührungsängste."
Tatsächlich dürfte die Situation am Abend in Chemnitz wieder problematisch werden. Um 17 Uhr wollen Linke im Stadthallenpark demonstrieren. Aufgerufen hat das Bündnis "Chemnitz Nazifrei", unter anderem auch der Sänger Casper und die linke Band Kraftklub haben sich angeschlossen.
"Ich lasse mich nicht vertreiben"
Um 18.30 Uhr wollen sich die Rechten wie am Sonntagabend vor dem Karl-Marx-Denkmal versammeln. Die rechtspopulistische Gruppe "Pro Chemnitz" ist nur eine, die zur Teilnahme aufgerufen hat, auch AfDler machen mobil.
Auf Facebook verabreden Mitglieder der rechten Szene bereits Mitfahrgelegenheiten. Vieles spricht dafür, dass dieses Mal noch mehr Menschen kommen werden. Die Polizei arbeitet nach eigenen Angaben auf Hochtouren an der Einsatztaktik. Am Sonntag war sie noch hoffnungslos unterlegen, das soll heute nicht mehr passieren.

Mohammad Imad Alkhldy, Süßigkeitenhändler in Chemnitz
Foto: SPIEGEL ONLINEMohammad Imad Alkhldy wird sein Geschäft wohl trotzdem wieder schließen. Der syrische Flüchtling betreibt einen orientalischen Süßigkeitenladen, genau gegenüber vom Karl-Marx-Denkmal. Seine Frau trage Kopftuch und wolle Chemnitz eigentlich verlassen, zu oft werde sie angesprochen. Der Mann aus Damaskus aber sieht das anders. "Ich lasse mich nicht vertreiben", es gebe auch viele nette Leute in Chemnitz. "Ich werde nach Hause gehen und das Beste hoffen."