Oberbürgermeisterin von Chemnitz Wie holt man eine Stadt aus der rechten Ecke?

Barbara Ludwig steht vor dem Rathaus auf dem Markt
Foto: Uwe Meinhold/ SPIEGEL ONLINEDie Frau im Hochsitz lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie hat die Hände unter dem Kinn gefaltet, wie auf dem Foto eines Schuljahrbuchs. Weit unter ihr picken ein paar Geier grimmig auf dem Boden herum. Der Chemnitzer Maler Jan Kummer hat das Gemälde gemalt. Seit November 2018 hängt es im Vorzimmer der Oberbürgermeisterin der Stadt und in gewisser Weise, sagt Barbara Ludwig, soll es wohl sie darstellen. Die erste Frau in diesem Amt.

Gemälde von Jan Kummer
Foto: Milena Hassenkamp/ SPIEGEL ONLINE
Seit dem 26. August 2018 ist viel mit dieser Ersten Bürgermeisterin passiert, die seit zwölf Jahren im Amt ist. Seit diesem Datum ist ihre Stadt vor allem für eines bekannt: den Tod von Daniel Hillig, der bei einem Stadtfest gemeinsam von zwei Flüchtlingen getötet worden sein soll, und die darauffolgenden Demonstrationen, bei denen Rechtsextremisten und Neonazi-Hooligans vorneweg marschierten. Gegen einen der mutmaßlichen Täter wurde Anklage erhoben. "Die sehen jetzt alle den Karl-Marx-Kopf, Deutschlandfahnen und einen Hitlergruß", sagt Ludwig über das Bild von ihrer Stadt. Seit August vergangenen Jahres kämpft sie dafür, dass dieses Bild wieder verschwindet.
Am 26. Mai ist in vielen Teilen Deutschlands Kommunalwahl. Frauen sind auf kommunaler Ebene bislang nur selten in politischen Ämtern vertreten. Weniger als zehn Prozent aller Bürgermeister Deutschlands sind weiblich. In kleineren Gemeinden sind besonders wenige Frauen in politischen Führungspositionen zu finden. Hier stellen wir einige von ihnen vor. Sie bestätigen die Statistik: Fast alle sind über 50 Jahre alt und haben keine oder bereits erwachsene Kinder. Sie verbindet ein sehr hohes Arbeitspensum mit manchmal bis zu 80 Wochenstunden.

"Die Ereignisse", wie Ludwig das nennt, was im August und September in Chemnitz passiert ist, haben die Stadt für viele in Deutschland und der Welt überhaupt erst sichtbar gemacht. Auch acht Monate später kommen noch internationale Presseanfragen. Gestern war die "New York Times" da und wollte wissen, wie es der Oberbürgermeisterin inzwischen geht. Ludwig sagt in den Interviews immer wieder das Gleiche: dass sie zeigen will, dass Chemnitz "neben dieser hässlichen Fratze" auch ein anderes Gesicht hat.
Ludwig wurde niedergebrüllt
Die hässliche Fratze ist noch nicht völlig verschwunden. Vor wenigen Tagen hat das rechte Bündnis Pro Chemnitz, das vom Verfassungsschutz beobachtet wird, sein Bürgerbüro eingeweiht. Und vor zwei Monaten gedachten im Fußballstadion Fans des Chemnitzer FC dem Neonazi Thomas Haller. Zwischen den Baustellen, auf denen ein neues Chemnitz entsteht, gibt es noch die leer stehenden Häuser. In manchen Fenstern ersetzen Deutschlandflaggen die Gardinen. Über Chemnitz ist vieles geschrieben worden, und manches davon stimmt.
Ludwig wurde niedergebrüllt und aufgefordert, ihr Amt abzugeben. Sie wurde gelobt, weil sie nicht verheimlicht, dass Chemnitz eine rechtsextreme Szene hat. Sie wurde ausgebuht, weil sich manche Chemnitzer von ihr in die rechte Ecke gestellt fühlten.
Sie führte Gespräche mit den Bürgern und der Presse. Nacheinander kamen Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Familienministerin Franziska Giffey. Weil Angela Merkel nach Ludwigs Ansicht zu spät anreiste, hat sie die Bundeskanzlerin kritisiert.
Ludwig ist in dieser Zeit bis an ihre Grenzen gegangen und manchmal darüber hinaus, sagt sie. Sieben Tage nach den Ereignissen brach sie im Rathaus in Tränen aus. Bis dahin hatte sie nie öffentlich Schwäche gezeigt. "Sonst wäre ich hier auch nicht richtig gewesen." Gerade hat sie sich von einem Hörsturz erholt. Drei Wochen war sie deshalb krankgeschrieben.
Nach der Wende in die SPD
Jetzt ist Ludwig wieder da und will nach vorn schauen. Deshalb pocht sie auf Chemnitz' Bewerbung zur europäischen Kulturhauptstadt. "Brüche und Aufbrüche" ist das Thema, mit dem Chemnitz gewinnen will. Ludwig spricht von Künstlern wie der stadteigenen Band Kraftklub, deren erste Platte in ihrem Büro hängt. Von der Architektur Karl-Marx-Stadts und wie sie sich nun modernisiert. Ihre Stadt brauche diesen Titel, wie keine andere. "Wir wollten immer gesehen werden", sagt Ludwig. Nur eben nicht so wie seit dem 26. August 2018.
An einem Freitag im Mai steht die kleine zierliche Frau mit dem Kurzhaarschnitt zwischen großen Männern in Anzügen und lacht. Eigentlich wollte die Oberbürgermeisterin heute ein Imagevideo drehen: "Warum Chemnitz als Tagungszentrum interessant ist". Doch der Himmel ist grau. Also besucht Ludwig den lokalen Energieversorger, legt den Grundstein für das neue Bürogebäude, klopft den Mörtel fest, schüttelt ein paar Hände, gratuliert.

Barbara Ludwig steht bei der Grundsteinlegung für ein neues Geschäftshaus zwischen den Geschäftsführern der baubeteiligten Firmen.
Foto: Uwe Meinhold/ SPIEGEL ONLINEWährend die Männer auf dem Podium über Beton sprechen, steht Ludwig fest auf beiden Beinen, kerzengerade. Als der vierte Mann seine Rede hält, trommelt sie leise mit den Fingern auf den Tisch.
Wenn etwas zu lange dauert, wirkt Ludwig ungeduldig. Sie hasst es, unpünktlich zu sein. Das sei die Lehrerin in ihr. Die Frau, die ein eigenes Schulmodell entwickelte und in die Politik ging, um es umzusetzen. Noch heute wird sie von ehemaligen Schülerinnen angesprochen. Auch zwischen den Männern in Anzügen: "Ist doch toll", sagt eine junge Frau, "dass meine Klassenlehrerin jetzt Oberbürgermeisterin ist."
Einfach war dieser Schritt nicht. "Das ist nichts für dich." Mit diesem Satz wollte ein Parteikollege die politische Karriere von Barbara Ludwig beenden, bevor sie angefangen hatte. Die Lehrerin war nach der Wende 1991 in die SPD eingetreten und überlegte, für den Landtag zu kandidieren. Richtig entschieden war sie nicht. Doch als sie merkte, dass der Kollege sie nicht auf dem Posten haben wollte, entschied sie: "Jetzt machst du's gerade" - und wurde gewählt.
Danach machte sie Karriere: erst im Landtag, dann als Kulturdezernentin in Chemnitz, als sächsische Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, als Mitglied des Bundesvorstands der SPD. Seit September 2006 ist Ludwig nun Oberbürgermeisterin.
Lieber Frauen- als Muttertag
Sie hat sich in einer Männerdomäne behauptet, die in den Neunzigerjahren nur wenig durchlässig war, erst recht nicht für eine alleinerziehende Mutter. Sie ist in ein Amt gekommen, für das es keine Quote gibt. Schwer sei ihr das alles nicht gefallen, sagt sie. Vielleicht, weil sie in der DDR mit dem Selbstverständnis aufwuchs, dass die Familie bei den beruflichen Zielen "eben so mitkommt". Ludwig war bereits mit 20 Mutter, ihre Tochter gehörte einfach zum Leben dazu.
Weil sie das so sieht, kam ihr die Anfrage, die sie an diesem Morgen erreichte, auch so komisch vor: Ein Chemnitzer Kaufhaus möchte, dass sie am Muttertag hinter der Kasse steht. "Mutti ist die Beste", heißt die Aktion. Als sie später an dem Kaufhaus vorbeigeht, bemerkt Ludwig, den Muttertag habe es in der DDR nicht gegeben. Stattdessen gab es den Frauentag, weil man sich nicht auf die Rolle der Mutter reduzieren lassen wollte: "Ich dachte, dass wir dieses Selbstbewusstsein mit in die Wiedervereinigung gebracht haben." Manchmal scheint sie sich dabei nicht ganz sicher zu sein.
Denn selbstverständlich sei es für die Gesellschaft immer noch nicht, eine Frau an der Spitze zu sehen. "Frauen und Macht", sagt Ludwig während sie durch ihre Stadt läuft, "das ist so eine Sache."
Sie sei überzeugt, dass Frauen in Führungspositionen immer noch keine Sympathie und Akzeptanz bekommen. "Das weiß ich und dann vergesse ich es auch wieder." Nur wenn etwas schieflaufe, dann falle das immer auf sie, die Frau, zurück. Sie werde als Frau "mehr wahrgenommen, mehr gesehen, mehr beobachtet". Das kann positiv sein. Das kann aber auch Beleidigungen bedeuten, wie sie sie in den vergangenen Monaten erlebt hat.

Barbara Ludwig (SPD)
Foto: Uwe Meinhold/ SPIEGEL ONLINESie sei "amtsmüde", schrieben lokale Medien. Sie kritisierten, dass Ludwig für die Ereignisse im Fußballstadion nicht ihren Urlaub unterbrach. Dass sie zum laufenden Prozess im Fall Hillig anmerkte: "Ein Freispruch wäre schwierig für Chemnitz." Oder dass sie das Stadtfest in diesem Jahr von einem Vertreter absagen ließ. Am Würstchenstand in der Innenstadt hört man Chemnitzer an diesem Freitag darüber sprechen: Sie finden es nicht gut.
Während Ludwig durch die Stadt geht, nicken ihr die Chemnitzer immer wieder zu. In der Nähe des Alanya-Döners wird sie langsamer. An dem Ort, wo Daniel Hillig vor acht Monaten starb, liegt jetzt ein grauer Gedenkstein im Beton. Ludwig hat ihn gemeinsam mit der Familie des Verstorbenen anbringen lassen. Ein Peace-Zeichen ist darauf zu sehen. Manchmal, wenn die Bürgermeisterin hier an der Ampel steht, beobachtet sie, wie die Menschen reagieren. An diesem Tag laufen sie darüber, als würde es niemanden mehr interessieren.