Martin Knobbe

Die Lage: Superwahljahr 2021 Wahlkampf in Watte

Martin Knobbe
Von Martin Knobbe, Leiter des SPIEGEL-Hauptstadtbüros

Liebe Leserin, lieber Leser,

wir fragen uns heute, warum der Wahlkampf die drei großen Krisen des Landes – Corona, Flut, Afghanistan – nur halbherzig thematisiert, warum die Geheimdienste falsche Prognosen machten und die Grünen Plakate mit grün gefärbten Gesichtern aufhängen.

Die Beißhemmung der Kandidaten

Es ist eine sonderbare Zeit, eine monumentale Krise folgt der nächsten, Corona als Grundrauschen im deutlichen Crescendo gen Herbst, die Flut mit mehr als 100 Toten Mitte Juli, nun der Schock in Afghanistan und das offene Geständnis von Kanzlerin und Außenminister, in dieser außenpolitischen Frage versagt zu haben.

In ihrer letzten Phase zeigt sich die Regierung unter Angela Merkel erstaunlich verletzlich, und man könnte meinen, die Folgen müssten tiefgreifende Grundsatzdebatten sein, schließlich ist Wahlkampf, und wann, wenn nicht jetzt, sollte man darüber reden, wie das Land aufgestellt sein muss, um derartige Krisen künftig besser zu bewältigen – und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Zuverlässigkeit der Politik wieder zurückzugewinnen.

Doch statt zu streiten, belauern sich die Kandidatin und die zwei Kandidaten wie Kämpfer im Boxring, die Angst davor haben, den ersten Schlag zu setzen, er könnte ja daneben gehen.

Und so erleben wir einen CDU-Vorsitzenden, der beim Wahlkampfauftakt im Boxring zwar Kampfeslust simulierte, der in Fernsehinterviews aber die meisten Fragen zum Afghanistan-Einsatz an sich abperlen lässt, mit dem Hinweis, es sei nun die Zeit, Menschen zu retten und nicht politisch zu streiten.

So hatte er auch schon während der Flutkatastrophe argumentiert: Erst mal helfen, die grundsätzlichen Fragen können warten. Nur wie lange? Bis nach der Wahl?

Showboxen für den Wahlkampf: Armin Laschet zum Wahlkampfauftakt in einem Boxcamp

Showboxen für den Wahlkampf: Armin Laschet zum Wahlkampfauftakt in einem Boxcamp

Foto: ARMANDO BABANI / AFP

Auch Olaf Scholz verharrt im Zustand des Bedrücktseins, wohl wissend, dass jeder politische Angriff in dieser Frage auf ihn und die SPD wie ein Bumerang zurückfallen würde: Schließlich gilt sein Parteifreund und Außenminister Heiko Maas in dieser Krise als das personifizierte Versagen, wenngleich man Maas die Fähigkeit, eigene Fehler klar einzugestehen, positiv anrechnen muss.

Annalena Baerbock, die Kandidatin der Grünen, hätte die Chance nutzen können, harte Angriffe gegen die strauchelnden Regierungsparteien und ihre Kandidaten zu starten. Doch in der Flut hielt sie sich mit persönlicher Kritik zurück, offenbar aus Angst, auch nur einen einzigen weiteren Fehler zu machen oder sich dem Vorwurf auszusetzen, mit dem Leid der Menschen billigen Wahlkampf zu machen.

Und nun, beim Thema Afghanistan, nutzt sie zwar eine Steilvorlage und weist darauf hin, die Grünen hätten ja schon im Juni beantragt, die Ortskräfte, also die afghanischen Helfer der Bundeswehr, »großzügig« aufzunehmen, was Union und SPD abgelehnt hätten. Doch tiefergehend lässt sie sich in die Debatte bislang nicht ein.

Was bedeutet der missratene Nato-Einsatz für künftige Militärmissionen, für die deutsche Sicherheits- und Außenpolitik? Und wie großzügig sollte Deutschland sein, wenn nun nicht nur Ortskräfte aus Angst vor den Taliban aus dem Land fliehen, sondern Menschen, die auf die versprochene Freiheit und Demokratie gesetzt hatten und nun um ihr Leben fürchten?

Annalena Baerbock mit Joschka Fischer am 16. August auf der Stadtbrücke von Frankfurt (Oder) (hier mehr dazu)

Annalena Baerbock mit Joschka Fischer am 16. August auf der Stadtbrücke von Frankfurt (Oder) (hier mehr dazu)

Foto: Chris Emil Janssen / imago images/Chris Emil Janßen

Baerbock schlug feste Kontingente vor, die mit den anderen Nato-Ländern ausgehandelt werden müssten, doch damit bezog sie sich auf diejenigen, denen nun akut geholfen werden muss: Von einer »fünfstelligen« Zahl sprach sie, also mindestens 10.000, weitergehende Vorschläge blieben nebulös. Und selbst auf Laschets populistische Losung, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, fand die Kandidatin bislang keine schlagfertige Antwort. Sie nimmt in ihren Reden nicht mal den Namen Laschet in den Mund.

Die Parteivorsitzende weiß natürlich, wie toxisch das Thema Flüchtlinge im Wahlkampf sein kann. Und so bewegt sie sich auf dem schmalen Grat, einerseits Humanität zu fordern, andererseits nicht den Eindruck zu erwecken, sie wolle das Land für alle afghanischen Flüchtlinge öffnen. Der Wahlkampf, er bleibt wolkig und im Ungefähren. Punkte gewinnt man so allerdings nicht.

Und Corona? Das Virus hat sich aus der politischen Debatte erst mal verabschiedet. Vermutlich kehrt es zurück, wenn wieder massenhaft die Schülerinnen und Schüler zu Hause bleiben müssen.

Was wussten die Geheimdienste?

Die innere oder äußere Sicherheit spielte bislang so gut wie keine Rolle in diesem Wahlkampf, wobei man zum Beispiel die Frage diskutieren könnte, was all die Verschwörungsliebhaber und angeblich quer Denkenden so treiben, wenn die Pandemie einigermaßen eingehegt sein sollte. Das Vertrauen in den Staat werden sie so schnell nicht zurückgewinnen, gegen wen richtet sich ihr Hass also dann?

Eine andere Frage ist, wie sich der Bundesnachrichtendienst in den Taliban so täuschen konnte. Ihre Macht, ihr Verhandlungsgeschick auf der einen, die Trägheit der afghanischen Armee und ihre fehlende Motivation, das Land zu verteidigen, auf der anderen Seite, haben die BND-Analysten offenbar falsch eingeschätzt. Oder, und diese Frage gilt es noch zu klären, ihre Einschätzung ist nicht bis zur Bundesregierung vorgedrungen. So war es womöglich in den USA der Fall, wo die Geheimdienste nach Recherchen der »New York Times«  früh vor einer Übernahme der Islamisten gewarnt haben. Nachdem bekannt ist, wie eng amerikanische und deutsche Geheimdienste zusammenarbeiten, wäre es eher verwunderlich, wenn diese Warnung nicht auch an die Partner nach Deutschland vorgedrungen wäre. Erreichte sie auch das Kanzleramt?

BND-Zentrale in Berlin-Mitte

BND-Zentrale in Berlin-Mitte

Foto: Michael Sohn / AP

Es scheint, als wäre für viele westliche Dienste der plötzliche Fall Kabuls jedenfalls überraschend gekommen, man hatte in 30 bis 90 Tagen damit gerechnet – nicht in weniger als einer Woche.

Afghanistan dürfte zu Ländern gehören, die vom BND mit am intensivsten beobachtet werden, schließlich war die Bundeswehr gut 20 Jahre lang dort im Einsatz. Eine der Kernaufgaben des Auslandsnachrichtendienstes ist es, Aufklärungsarbeit für derartige Einsätze zu betreiben. Wenn also unter diesen Bedingungen eine derart falsche Einschätzung ans Kanzleramt und die Ministerien geraten sein sollte, stellen sich zwei Fragen: Wo lag der Fehler? Und: Wie gut schätzt der BND andere Gefahrenlagen ein?

Marsmännchen an Laternen

Es gibt Dinge, die sich nie ändern, und grundsätzlich ist das ja auch beruhigend. Die Wahlplakate an den Straßenlaternen gehören dazu. Man kann sie jetzt wieder bewundern, wenn man mit dem Auto, dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs ist, die meisten sehen aus wie die vor 20 Jahren: ein etwas besser gemachtes Passfoto in groß, dazu eine möglichst nichtssagende Botschaft, aufgeklebt auf Karton, der sich an der Laterne etwa nach hinten biegt.

Kandidatin Baerbock mit Plakat

Kandidatin Baerbock mit Plakat

Foto: Fabian Sommer / dpa

Als ich neulich in Brandenburg unterwegs war, sind mir vor allem die Plakate der Grünen aufgefallen. Sie beschränken sich neben ein bisschen Gelb und ein bisschen Weiß hauptsächlich auf zwei Farben, Schwarz und Grün, was zur Folge hat, dass auch die Gesichter der Kandidatinnen und Kandidaten grün gefärbt sind, so als handelte es sich um Marsmännchen oder Seekranke kurz vor dem Schlimmsten.

Dazu Sätze, die im schwarz-grünen Farbgemisch kaum lesbar sind, weshalb dem eiligen Vorbeifahrenden Botschaften wie »Wir retten Bienen retten uns« vorenthalten bleiben. Das, was vermutlich als originelles und modernes Konzept gedacht war, erweist sich im Praxistest als untauglich. Dann doch besser ein schlechtes Passfoto in grellen Farben und eine nichtssagende Botschaft – die man zumindest lesen kann.

DER SPIEGEL

Was gibt es Neues in der Republik 21?

Solidarisch sollen wir sein, dann ist die Pandemie zu bewältigen: Das war die Essenz vieler Appelle in der Coronakrise. Mein Kollege Marius Mestermann hat sich gefragt, ob das immer noch gilt, da doch die Risikogruppen geschützt sind und alle ab zwölf Jahren ein Impfangebot haben. Wie viel Solidarität brauchen wir in Deutschland noch, um Corona zu besiegen?

Die Juristin Elisa Hoven kritisiert, dass Kindern und Jugendlichen zu viel abverlangt werde. Und der Psychiater Jan Kalbitzer fordert Solidarität mit Ungeimpften, um gesellschaftliche Konflikte zu befrieden. Mehr dazu hören Sie im neuen Stimmenfang-Podcast, der Donnerstagfrüh hier erscheint.

Am Donnerstag, dem 19. August, um 19 Uhr spricht meine Kollegin Katharina Hölter in unserem Liveformat auf Instagram  mit der Wissenschaftlerin und Bildungsexpertin Aylin Karabulut darüber, wie ungerecht das deutsche Bildungssystem ist und was man tun könnte, um es gerechter zu machen.

Was die Umfragen sagen

Als Bayer bin ich mit dem Begriff der absoluten Mehrheit groß geworden, sie war stets das unbestrittene Ziel der CSU bei den Landtagswahlen. Oft genug wurde es auch erreicht, und wenn nicht, kam es einer Staatskrise im Freistaat gleich. Aus CSU-Sicht, versteht sich.

Unvorstellbar, dass ein solches Ziel jemals bei Bundestagswahlen eine Rolle spielen könnte. 1957 gab es diesen Glücksmoment für die Union, heute ein undenkbares Szenario.

Die wöchentliche Sonntagsfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey für den SPIEGEL zeigt den gegenteiligen Trend: Die Parteien nähern sich in ihren Stimmenanteilen immer weiter an, vor allem an Union, SPD und den Grünen ist das zu beobachten. Es gibt keine klaren Sieger mehr und nur wenige klare Verlierer, die Linke zum Beispiel.

Die Union verharrt weiterhin bei rund 24 Prozent, gefolgt von den Grünen mit 20 Prozent, die SPD setzt zum Überholen an, sie konnte sich im Vergleich zur letzten Woche um einen Punkt auf 19 Prozent verbessern. Unklar ist noch, wie die Debatte über den Afghanistan-Einsatz die Umfrageergebnisse beeinflussen wird.

Verheerend für Armin Laschet ist die Frage nach seiner außenpolitischen Kompetenz. Während die Befragten CDU/CSU mit 37 Prozent mit Abstand die größte Kompetenz in dem Gebiet zuschreiben, ist das Verhältnis bei der Frage nach der individuellen außenpolitischen Kompetenz ganz anders: Hier gewinnt mit 39 Prozent eindeutig SPD-Kandidat Olaf Scholz, Laschet liegt mit der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock mit mageren 16 Prozent gleichauf.

Der Wahlkreis der Woche: #106

Die liberale Hochburg lag bei der vergangenen Bundestagswahl 2017 im Düsseldorfer Norden. Dort, in Wahlkreis Düsseldorf I, holte die FDP fast 20 Prozent der Zweitstimmen, knapp doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt. Das mag an den Wohlhabenden liegen, die dort wohnen und bevorzugt ihr Kreuz bei jenen setzen, die in der Regel vor der Wahl niedrige Steuern versprechen.

Es mag auch an Agnes Strack-Zimmermann liegen, jener Grande Dame der Liberalen, die von 2008 bis 2014 Erste Bürgermeisterin in Düsseldorf war, seit 2017 im Bundestag sitzt und bis 2019 stellvertretende Parteivorsitzende war. Als Direktkandidatin hat sie zwar so gut wie keine Chancen auf den Sieg, das Mandat dürfte wie die letzten beiden Male dem CDU-Kandidaten Thomas Jarzombek zufallen, der seit 2018 Koordinator der Bundesregierung für die Deutsche Luft- und Raumfahrt ist.

Platz 2 auf der FDP-Liste für NRW: Agnes Strack-Zimmermann

Platz 2 auf der FDP-Liste für NRW: Agnes Strack-Zimmermann

Foto: Britta Pedersen/ picture alliance/ dpa

Als Zweite auf der FDP-Landesliste ist Strack-Zimmermann das Bundestagsmandat aber so gut wie sicher. Bundesweit ist sie als verteidigungspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion eine profilierte Stimme, die keine Beißhemmung kennt. Sie war eine der Ersten, die nach dem Afghanistan-Desaster einen doppelten Rücktritt forderte, den von Außenminister Heiko Maas (SPD) und den von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU). Die öffentliche Aufmerksamkeit also hat sie, und so könnte es sein, dass der Zweitstimmenrekord der FDP im Düsseldorfer Norden in diesem Jahr nochmals überboten wird.

Der Social-Media-Moment der Woche

Meine Kolleginnen und Kollegen aus der Netzwelt und dem Datenteam haben in der vergangenen Ausgabe des SPIEGEL eine sehr ernüchternde Bilanz der Luca-App geschrieben, die eigentlich helfen soll, Infektionsketten schnell und unkompliziert nachzuverfolgen und zu durchbrechen.

Mithilfe von Rapper Smudo war sie mit viel Tamtam eingeführt und angepriesen worden, 13 Bundesländer hatten daraufhin die App erworben, für insgesamt 21,3 Millionen Euro. Sie sei eine »massive Entlastung der Gesundheitsämter«, hatte Smudo Anfang März verkündet, ein knappes halbes Jahr später sieht die Wirklichkeit ganz anders aus.

Rapper »Smudo« bei Vorstellung der Luca-App im Dezember 2020

Rapper »Smudo« bei Vorstellung der Luca-App im Dezember 2020

Foto: Axel Heimken / dpa

Die Kolleginnen und Kollegen haben mehr als 200 der knapp 400 Gesundheitsämter in Deutschland kontaktiert und nach ihren Erfahrungen mit der App befragt. Von 114 Ämtern mit Luca-Anschluss hat die Hälfte noch nie Daten abgefragt. Nach Angaben von 86 Ämtern wurden in 130 Fällen Luca-Daten von Restaurants, Friseuren oder ähnlichen Stellen angefordert, rund 60-mal hätten die Daten geholfen, Infektionsketten zu verfolgen. Eine recht mickrige Bilanz: Im selben Zeitraum zählten die entsprechenden Landkreise ungefähr 130.000 Neuinfektionen. Hinzu kommen technische Probleme und Zweifel an der Datensicherheit.

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Die Bilanzmisere verbreitete sich rasend schnell, bei Twitter unter den Hashtags #LucaApp oder #LucaAppGate. Nach der Corona-Warn-App, von deren Einsatzerfolgen man auch schon länger nichts mehr gehört hat, sind die Zahlen zur Luca-App der zweite digitale Misserfolg im Kampf gegen Corona. Sonderbar nur, dass das Thema Digitalisierung im Wahlkampf so gut wie keine Rolle spielt.

Die Storys der Woche

Diese politisch relevanten Geschichten aus unserem Hauptstadtbüro möchte ich Ihnen besonders empfehlen:

  • Wie geht die GroKo mit der Schuldfrage zu Afghanistan um? Lesen Sie die Analyse hier.

  • Auf der Brücke von Frankfurt (Oder): Ex-Außenminister Joschka Fischer ließ sich breitschlagen, einen Wahlkampftermin mit Annalena Baerbock zu machen – sie wirkten wie ein eingespieltes Team.

  • Welche Machtoptionen könnte es im Herbst geben? Die Antwort hören Sie im SPIEGEL Daily Podcast.

Herzlich

Ihr Martin Knobbe

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